Uta Meier-Gräwe: „Wir sind mitnichten auf dem Weg zu mehr Gleichverteilung.“

Unbezahlte Care Arbeit ist das Rückgrat der Wirtschaft – und immer noch Frauensache. Im Interview erklärt Uta Meier-Gräwe, warum wir eine Neujustierung unseres Wirtschaftssystems brauchen, um ein gerechteres Zusammenleben auf unserem Planten zu ermöglichen.

Vielleicht zunächst ganz allgemein: Wie ist es eigentlich erklärbar, dass Care Arbeit immer noch Frauensache ist? 

Das geht darauf zurück, dass die Ausrichtung unseres heutigen Wirtschaftssystems die Zuschreibung und Zuweisung von Care Arbeit an Frauen systematisch vorsieht. Frauen werden deshalb strukturell schlechter gestellt, was in der Mainstream-Ökonomie mit dem Terminus „unterbrechungsbedingter Humankapitalverlust“ umschrieben wird. Wenn eine Frau nach der Geburt ihres Kindes vorübergehend aus dem Beruf aussteigt, was man von ihr als Mutter erwartet, schlägt das für sie negativ zu Buche: Zum Beispiel dadurch, dass sie in der Zeit kein Einkommen bezieht, sondern ihr die Zeit umfassender Sorgearbeit für ihr Kind als persönliches „Defizit an Humankapital“ ausgelegt wird. Mit diesem patriarchalen Wortgebilde wird schließlich auch begründet, dass sie auch beim beruflichen Wiedereinstieg ein geringeres Einkommen erhält. Bis Mütter wieder auf das Einkommen gelangen, das eine durchgängig vollzeitbeschäftigte Kollegin oder ein Kollege erhält, dauert es laut Modellierungen mitunter 15 Jahre.

Eine lange Zeit.

Die Zahl zeigt die Dramatik der Lage und die Gründe dafür, warum Care Arbeit immer noch als Frauenarbeit betrachtet wird. Die Personen im Haushalt, die weniger verdienen und auch in der Karriere zurückstecken müssen, um Care-Verpflichtungen im Familienalltag zu übernehmen, sind – statistisch gesehen – in der übergroßen Mehrheit Frauen. In den Sozialwissenschaften gibt es dafür den Begriff „Mutterschaftsstrafe“, also „Motherhood Penalty“. Er drückt unmissverständlich aus, dass die Entscheidung für Kinder und die damit verbundene Sorgearbeit aus Sicht der Wirtschaft eine negative Bewertung bekommt. Im neuesten Global Gender Gap Report (2023) wird deutlich, dass sich diese Entwicklungen keineswegs im Selbstlauf verändern, etwa durch bessere Bildungs- und Qualifikationsabschlüsse der Frauen. Österreich und Deutschland, zum Beispiel, sind im Ranking ganz deutlich zurückgefallen. Es zeigt sich leider, dass wir mitnichten auf dem Weg in Richtung mehr Gleichverteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen Männern und Frauen sind, sondern es eher in die umgekehrte Richtung läuft. 

Welche Länder sind laut Global Gender Gap Report Vorreiter, was Gleichberechtigung betrifft, und was unterscheidet sie so grundlegend von Deutschland oder auch von Österreich? 

An der Spitze finden sich die skandinavischen Länder. Island steht seit Jahren auf Platz eins. Dann folgen Norwegen, Finnland und Schweden. Das hat damit zu tun, dass die staatlichen Budgets, die für unterstützende Dienste aufgewandt werden, etwa für frühkindliche Kinderbetreuung, aber auch für Schulbetreuung am Nachmittag oder Altenpflege, viel höher bemessen sind als bei uns, sodass sich Frauen in Skandinavien eine substantielle Erwerbsbiografie aufbauen können. Das bedeutet nicht, dass dort alle in Vollzeit erwerbstätig sind, aber dass es viel selbstverständlicher ist, Sorgearbeit und Erwerbarbeit miteinander zu verknüpfen. Ein wichtiges Element ist zudem, dass in skandinavischen Ländern schon seit Jahren die Unterstützung für Väter, die Sorgearbeit übernehmen, größer ist als bei uns. Hinzu kommt, dass in Skandinavien Care Arbeit sehr viel besser bezahlt wird als bei uns. Gerade in Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten viel in Richtung Niedriglohnsektor und Deprofessionalisierung zwecks Absenkung von Arbeitskosten verändert worden, was zur Folge hat, dass Care Berufe kein gutes Ansehen haben und man bei gleichzeitiger Arbeitsverdichtung schlecht verdient. Folglich ist es nachvollziehbar, dass Männer nicht gerade danach drängen, in diese Berufe einzusteigen. 

Uta Meier-Gräwe

Dr. Uta Meier-Gräwe ist emeritierte Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, darunter mit der Bernhard-Christoph-Faust-Medaille für besondere Verdienste in der Gesundheitsförderung und gesundheitlichen Prävention (2012) durch das Land Hessen, dem Ehrenpreis des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Berlin (2018) und mit der Ehrenpraktissima des Bundesverbandes der Mütterzentren e. V. (2018).

Sie haben über die systemischen Gründe gesprochen, warum Care Arbeit vorwiegend Frauen zugeschrieben wird. Welche Folgen hat das?

Einschneidend ist oft die Mutterschaft, wie bereits ausgeführt. Es ist geradezu dramatisch ungerecht, dass Frauen, die bei Studien- und Ausbildungsabschlüssen teilweise sogar besser abschneiden als die männliche Vergleichsgruppe, nach der Geburt ihres Kindes das Nachsehen haben. Das Gleichheitsversprechen – „Wenn ihr diese Bildungschancen nutzt, dann steht euch die Welt offen“ – gilt nur so lange, wie Frauen kinderlos bleiben. In dem Moment, wo sie sich für Kinder entscheiden, ändert sich alles. Das zeigt, dass es nicht ausreicht, über eine gute Bildung zu verfügen und sich individuell „hochzuarbeiten“, sondern, dass diese geschlechterbezogene Ungleichheit in unser kapitalistisches Wirtschaftssystem eingewoben ist. Ein markantes Beispiel dafür liefert eine Studie der Bertelsmann Stiftung, die ermittelt hat, dass Frauen in Westdeutschland, die heute 35 Jahre alt sind und Kinder haben, mit einem Lebenserwerbseinkommen rechnen müssen, das 62 % unter dem der männlichen Vergleichsgruppe liegt. Das heißt, diese gut ausgebildeten Frauen werden, wenn sie sich für Kinder entscheiden, in ihrem Leben auf weniger als die Hälfte der Erwerbseinkommen von Männern kommen. Das belegt sehr eindrücklich, wie dramatisch die Situation ist. Und ich denke, die Situation wird in Österreich oder der Schweiz nicht viel anders sein. 

Was bedeutet es für den Arbeitsmarkt, dass die Zeit von Frauen so stark durch unbezahlte Care Arbeit gebunden ist?

Gerade wegen eines ausgeprägten Fachkräftemangels – in Sorgeberufen, der Altenpflege, Schulen aber auch in anderen Branchen – spielt das heute eine große Rolle. Denn trotz dieses steigenden Arbeitskräftedefizits gibt es z.B. in Deutschland fast fünf Millionen Frauen im erwerbsfähigen Alter, die nicht erwerbstätig sind und auch keinen Job suchen. Aus dieser Gruppe geben allein 42 % im Alter zwischen 25 und 49 Jahren an, gerne berufstätig zu sein und auch eine abgeschlossene Ausbildung mit Berufserfahrung zu haben. Ihre berufliche Teilhabe wird jedoch durch einen Mangel an Kinderbetreuung oder fehlende alltagsentlastende Dienste aber verhindert. Auch in dieser Hinsicht machen wir leider Rückschritte.

Der Fachkräftemangel heizt die Situation also zusätzlich an?

Richtig. Um das zu illustrieren: Es gab kürzlich in der Universitätsstadt Tübingen einen Entscheid des Gemeinderates, dass ab September 2023 ca. 80% der städtischen Kitas bereits um 13:15 Uhr geschlossen werden, weil nur 3 der 43 Einrichtungen über ausreichend Fachkräfte verfügen. Damit geht eine Rückverlagerung von Care Arbeit in die privaten Haushalte einher. Diese wird aber größtenteils von Frauen übernommen, die am Arbeitsmarkt dann fehlen. Es gibt erhebliche Konflikte zwischen dem Wunsch vieler Unternehmen, Frauen in den Arbeitsmarkt zu bringen und der Tatsache, dass Kommunen gar nicht in der Lage sind, die dafür erforderlichen Einrichtungen mit entsprechendem Personal auszustatten, geschweige denn pädagogische Qualitätsstandards zu realisieren. Dazu kommen Unterschiede in den Gehältern von Frauen und Männern. Die Entscheidung, nicht erwerbstätig zu sein, scheint dann die beste oder einzige Möglichkeit zu sein, bringt jedoch große Nachteile für die Frauen mit sich. Hier muss man sagen, dass die Schuld dafür nicht den Frauen gegeben werden kann. Die Frage ist vielmehr: Warum hat es die Politik versäumt, rechtzeitige Lösungen zu schaffen? Wir diskutieren schon seit Jahrzehnten über diese Probleme, doch es gab nur sehr wenig an systematischen Veränderungen in Richtung Gleichstellung und Fairness. 

Was bräuchte es Ihrer Meinung nach, um diese Veränderungen herbeizuführen und welche politischen Entscheidungen würden die konkrete Lage von Frauen in Bezug auf Care Arbeit verbessern?

Es braucht die Erkenntnis, dass tradierte Geschlechterrollen im 21. Jahrhundert, in welchem wir uns zu einer wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft mit überalternder Bevölkerung entwickeln, nicht mehr funktionieren, sondern aus der Zeit gefallen sind. Die mangelnde Wertschätzung gegenüber unbezahlter bzw. schlecht bezahlter Care Arbeit wird dem steigenden gesellschaftlichem Bedarf einfach nicht mehr gerecht. Ein positives Beispiel gibt es im Burgenland, wo pflegende Angehörige nicht mehr als Ehrenamtliche behandelt werden, sondern vom Land angestellt werden, mit einem Einkommen, mit Urlaubs- und Weiterbildungsansprüchen. Das ist zwar kein besonders hohes Gehalt und man kann sagen, für eine Rundum-Pflege sind 1.700 € immer noch viel zu wenig. Die Anstellung hat aber den entscheidenden Vorteil, dass die Arbeitnehmer*innen krankenversichert und pensionsversichert sind. Man sieht also, dass sich durch den Druck der Care Krise etwas bewegen muss und es zumindest punktuell auch tut. Leider funktionieren unsere Gesellschaften aber nicht im Sinne einer vorausschauenden Politikgestaltung, sondern nach dem Prinzip des „pathologischen Lernens“. Das heißt, immer erst wenn die Konflikte sich zugespitzt haben und es wirklich nicht mehr anders geht, wird endlich etwas unternommen. 

Sie haben gesagt, die Entlohnung Angehöriger für die Pflege ist ein erster Schritt in die richtige Bewertung von Care Arbeit. Lässt sich beziffern, wieviel diese Arbeit gesamtgesellschaftlich „wert“ wäre, wenn sie bezahlt werden würde?

Ja, das wird seit Jahren auf der Basis repräsentativer Zeitbudgeterhebungen ermittelt. 1 In Österreich sind im Dezember 2023 die Ergebnisse einer aktuellen Zeitverwendungsstudie veröffentlicht worden. In der letzten Erhebung von 2012/13 in Deutschland sehen wir Folgendes: Selbst wenn man unbezahlte Arbeit – Care Arbeit, Ehrenamt, oder auch handwerkliche Leistungen, die im Haushalt erbracht werden – „nur“ mit dem Netto-Stundenlohn einer Hauswirtschafterin von € 9,25 bewertet, würde die Wertschöpfung oder das Bruttoinlandsprodukt insgesamt um ca. 40 % höher ausfallen. Ohne die alltäglich unbezahlte Arbeit würde kein Unternehmen auch nur einen Tag bestehen. Man könnte auch sagen: Unbezahlte und unterbezahlte Care Arbeit bildet das Fundament der marktförmig über Geld vermittelten Produktion von Waren und Dienstleistungen. Selbstverständlich muss nicht alles an Care Arbeit 1:1 bezahlt werden, aber man muss sich klar machen, dass die Zeit, die mit unbezahlter Arbeit jeglicher Art verbunden ist, nicht woanders eingebracht werden kann. Dafür sprechen auch die Zahlen des Statistischen Bundesamts in Deutschland, die zeigen, dass in Paarbeziehungen und auch bei Alleinerziehenden mit mindestens einem Kind, Mütter eine 40 Stunden Woche an unbezahlter, gesellschaftlich aber notwendiger Arbeit leisten. 

Welche Maßnahmen müssen aus Ihrer Sicht gesetzt werden, um diesen Gap zu beheben – „genügt“ Ihres Erachtens politischer Wille und die Realisierung besserer und mehr Kinderbetreuungseinrichtungen oder braucht es auch eine andere Form von gesellschaftlicher Bewusstseinsbildung, was das Frauenbild angeht? 

Ich denke, man benötigt beides. Allerdings würde ich noch weiter gehen: Mit Kolleginnen habe ich gerade ein Buch veröffentlicht, in dem wir die Care Initiativen in Deutschland, Österreich und der Schweiz unter dem Titel „Wirtschaft neu ausrichten“ zusammengestellt und bewegungspolitisch analysiert haben. In diesem Buch plädieren wir dafür, dass unsere Gesellschaften eine grundsätzliche Neujustierung der Wirtschaft brauchen, die care-zentriert vorgeht. Das heißt, eine Neuausrichtung, die den Blick darauf schärft, was Menschen für ein gutes Leben universell benötigen. Das betrifft sowohl Care im Sinne von Sich-Kümmern als auch den sorgsamen Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen wie Wasser, Boden und Luft. Diese Forderung geht viel weiter als an einzelnen Stellschrauben zu drehen, etwa für mehr Kinderbetreuung zu sorgen, sondern bedeutet einen sehr fundamentalen Perspektivenwechsel.

Was passiert, wenn dies nicht gelingt?

Wir glauben, dass die strukturelle Benachteiligung von weiblichen Menschen mit Sorgeverantwortung weitere 300 Jahre fortbesteht, wenn sich an unseren Wirtschaftsstrukturen nichts grundsätzlich ändert. Das ist ein langer Zeitraum, in dem auch die Gefahr eines Aussterbens der menschlichen Existenz durch die Klimakrise besteht. Care Krise und Klimakrise müssen folglich zusammen gedacht werden und es geht im Kern auch darum, das neoliberale Wachstumsparadigma zu überwinden. In einer endlichen Welt mit planetaren Grenzen, kann man nicht exponentiell wachsen. Mit diesen Ideen stehen wir nicht alleine da, sie werden mittlerweile – wenn auch vereinzelt – selbst im Europäischen Parlament in Brüssel diskutiert. Vor kurzem hat dort ein Postwachstums-Theoretiker erstmals die These formuliert, dass Care Arbeit das Herzstück eines klimagerechten Wirtschaftssystems werden müsse. Jim Jackson, einer dieser Degrowth-Ökonomen, betrachtet Care Arbeit inzwischen sogar als Blaupause für eine zukunftsfähige Postwachstumsgesellschaft. Ein überaus gewichtiges Argument von ihm lautet, dass Care Arbeit in Summe deutlich weniger ressourcenintensiv ist als die industrielle Herstellung von immer mehr Konsum- und Luxusgütern. Diese, einem ausbeuterischen Wachstumsparadigma folgenden Materialschlachten, müssen beendet werden. Sie überfordern die planetaren Grenzen und gefährden damit ein gerechtes und sicheres Leben für alle Menschen. Solche Diskussionen werden immer lauter und geben Anlass zur Hoffnung, dass daraus politisches Handeln im Sinne eines längst überfälligen Kurswechsels folgt. 

Das Interview ist eine gekürzte und bearbeitete Version eines Gesprächs im Rahmen des ksœ-Podcasts “361° Sozialkompass”. Der Podcast kann hier zur Gänze nachgehört werden.