Warum man nicht mehr »Inflation« sagen darf
Inflation bezeichnet einen so unübersichtlichen Zusammenhang, dass Marktliberale hinter dem Begriff andere Fragen geschickt zum Verschwinden bringen. In seinem Beitrag argumentiert Lars Weisbrod, warum man den Begriff nicht mehr benutzen sollte und was man stattdessen sagen könnte.
Große Begriffe vermögen viel zu erklären; hinter ihnen lässt sich aber auch so manches verbergen. In den vergangenen Monaten wurde sehr oft von der Inflation gesprochen. „Wir haben Inflation. Die Preise galoppieren.“ Das wusste der Bundesfinanzminister zum Beispiel im September in den „Tagesthemen“ zu berichten. Und diese Inflation, die wir haben, so fuhr Christian Lindner fort, sei „die größte Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung“. Ein anderer FDP-Mann, Justizminister Marco Buschmann, wusste diese Einschätzung später noch zu überbieten: „Die #Inflation ist das größte soziale Problem derzeit“, schrieb er auf Twitter.
Was ist Inflation? Und ist sie tatsächlich unser größtes Problem? Das Wort hat bekanntlich eine lange, umständliche Geschichte; es geht um Gold- und Silbermünzen, um mächtige Staaten, die den Materialwert der Münzen verfälschten. Wenn Volkswirte heute von Inflation sprechen, spielen solche Geschichten kaum noch eine Rolle. Die Volkswirte interessieren sich nur für den sogenannten Preis-Index. Statistiker erstellen diesen Index, dafür sammeln sie die aktuellen Preise verschiedenster Güter und Dienstleistungen, vom Mehl über die Pizza bis zur „Herrenfreizeithose“, vom BH über die „Nettokaltmiete Einfamilienhaus“ bis zu Gartenmöbel und Carsharing. Möglichst repräsentativ soll dieser berühmte „Warenkorb“ das Konsumverhalten der Menschen abbilden. Und wenn der Preis-Index steigt, und zwar steil und nachhaltig, dann ist Inflation.
Das klingt eigentlich nicht besonders kompliziert. Und doch bezeichnet „Inflation“ einen so unübersichtlichen Zusammenhang, dass man hinter dem Begriff andere Fragen geschickt zum Verschwinden bringen kann. Vor allem Liberale beherrschen diese Kunst. Wenn sie, wie Christian Lindner in den „Tagesthemen“, über die Inflation klagen, dann beeilen sie sich sogleich auch zu erklären, wie sich das Problem richten lässt: Die Nachfrage muss sinken! Wenn die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöht, verspricht man sich davon eine solche Nachfrage-Reduktion. Und wenn die Nachfrage sinkt, dann sinken auch die Preise (oder jedenfalls steigen sie nicht mehr so rasant).
Lars Weisbrod
Dass heute nicht mehr jeder dieser schlichten geldpolitischen Logik folgen mag, auch das wurde in den letzten Monaten mehr als deutlich. Gerade Linke forderten zurecht, dass breiter und genauer über monetäre Zusammenhänge aufgeklärt und diskutiert werden muss. Sie stellten vor allem zwei kritische Nachfragen: Wenn die Preise steigen, woher wissen wir, ob Unternehmen nicht bloß die Gunst der Stunde nutzen und zusätzliche Gewinne einstreichen – und die scheinbare Inflation letztlich ein bloßes Umverteilungsprogramm ist, von unten nach oben? Und selbst wenn sich die Inflation nicht auf Profitgier reduzieren lässt: Inwiefern kann eine strengere Zinspolitik überhaupt die richtige Antwort sein auf die Krise, in die wir geraten sind?
Was in solchen Debatten, die sich meist für ein fortgeschrittenes Publikum entfalteten, allerdings unterging, war eine viel banalere Frage. Sie lautet schlicht: Was bekämpfen wir überhaupt, wenn wir die Inflation bekämpfen? Wenn, gehen wir einmal for the sake of the argument davon aus, strengere Geldpolitik gegen die Inflation hilft – was genau gewinnen wir dann mit so einem Manöver? Oder anders formuliert: „What, if anything, is wrong with inflation?“ 1 So der Titel eines Vortrags, den der Wirtschaftsphilosoph Matthias Brinkmann (LMU) im September in Berlin hielt.
Die Antwort lässt sich grob so zusammenfassen: Wer die Inflation eindämmen will, der will vor allem Planungssicherheit erhalten. Steigt der Preisindex zu rasant und unvorhersehbar, gerät die Wirtschaft in Schwierigkeiten, weil keiner mehr genau voraussagen kann, welche Preise in Zukunft zu veranschlagen sind, angesichts von langfristigen Verträgen zum Beispiel oder wo Waren bestellt werden und Aufträge erteilt. Etwas technischer formulierte das der Volkswirt Rudi Bachmann auf Twitter: “Inflation ist letztlich eine Steuer auf dezentralen Tausch mit nominalen Assets.” Diese Steuer will man vermeiden – und das gelingt, wenn die Zentralbank die Inflation eindämmt.
Zugleich wird aber schnell deutlich: Diese Unsicherheitssteuer ist gewiss nicht die von Lindner beschworene „größte Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung“, vor der so viele Menschen sich gerade fürchten. Noch weniger ist die Inflation, solange damit nur diese Unsicherheit gemeint ist, „das größte soziale Problem derzeit“, wie Linders FDP-Parteifreund Buschmann behauptete.
Das größte soziale Problem heißt Armut. Und die ist gewachsen. Viele Menschen können heute nur noch weniger Waren und Dienstleistungen konsumieren als früher. Unter dieser Last ächzen sie, und zwar ganz unabhängig von jedem Preisindex und allen Fragen der bloßen Planbarkeit. Besonders heikel ist dieses soziale Problem, weil man davon ausgehen muss, dass der Armut, die 2022 wuchs, in Deutschland nicht ein Reichtum gegenübersteht, der um das gleiche Maß gewachsen ist. Wir sind, so lautet die gängige Formel, alle zusammen ärmer geworden. Darauf schwören uns die Volkswirte und manche Politiker immer wieder ein. Was das genau heißen soll; wie sich das vermessen und definieren lässt, darüber mag es ganz unterschiedliche Ansichten geben. Und dennoch lässt sich festhalten: Manche Menschen sind ärmer geworden und wir sind unterm Strich auch alle zusammen ärmer geworden; wir könnten, selbst wenn wir wollten, nicht durch Umverteilung einfach die gleiche Wohlstandssituation herstellen, in dem wir gelebt hätten, wäre es nicht zu einem Krieg in Europa gekommen. Es gibt heute in Deutschland schlicht weniger, das umverteilt werden kann. 2 Vielleicht lässt sich zumindest eine der vielen Unklarheiten, die mit solchen Aussagen verbunden sind, schnell ausräumen: Der Vergleich findet streng genommen nicht zwischen dem Jahr 2022 und einem früheren Jahr statt, sondern zwischen dem Jahr 2022, wie es passiert ist, und einem kontrafaktischen Jahr 2022, das, wie wir es eigentlich erwartet hatten, ohne Krieg verlaufen wäre. Ärmer geworden sind wir also vor allem im Vergleich zu dieser kontrafaktischen Situation.
»Inflationsbekämpfung ist keine Armutsbekämpfung. Wie soll eine Nachfrage-Dämpfung dem Bürger dabei helfen, seinen Wagen wieder vollzutanken?«
Lassen wir die Details des Ärmerwerdens einmal außen vor, wir kommen darauf gleich noch einmal zurück. Wichtig ist erst einmal, dass man dieses Ärmerwerden von der Inflation zu unterscheiden weiß. Dass wir, einerseits, alle ärmer geworden sind und dass, andererseits, der Preix-Index steigt, das sind keineswegs einfach zwei synonyme Beschreibungen der genau gleichen Tatsache, auch wenn gelegentlich der Eindruck erweckt wird.
Warum beides nicht das gleiche ist, das lässt sich besonders eindrücklich zeigen, wenn man einmal solche Rhetorik unter die Lupe nimmt, die, sei’s aus Kalkül oder Versehen, diese beiden Aspekte fälschlicherweise ineinanderschiebt. Ebenfalls im September klagte zum Beispiel der Unternehmer und FDP-Spender Frank Thelen in einem Video über die Inflation. Die Klage führte er im Namen der einfachen Verbraucher, die, so betonte er, in eine unzumutbare Bedrängnis geraten. Denn bald könnten diese Menschen sich, wie Thelen mit besonders besorgter Mine ausführte, Miete, Auto und die Lebenshaltungskosten nicht mehr leisten.
Dabei hat das eine mit dem anderen gar nichts zu tun. Inflationsbekämpfung ist keine Armutsbekämpfung. Auch Thelen will, dass die EZB die Nachfrage dämpft, um die Inflation zu dämpfen. Wie aber soll eine Nachfrage-Dämpfung dem Bürger dabei helfen, seinen Wagen wieder vollzutanken? Gar nicht; der Bürger würde dann einfach weniger tanken – das wäre ja gerade die Idee hinter der Dämpfung. Wenn also Verbraucher beklagen, dass sie sich das Benzin nicht mehr leisten können, dann ergibt es wenig Sinn, ihnen auf diese Klage zu antworten: Konsumiert doch alle weniger, dann werden auch die Waren wieder billiger! Unterm Strich hätte sich dann nichts geändert an ihrem Reichtum oder ihrer Armut.
Thelens Video zeigt: Wer „die Inflation“ bekämpfen will, der erweckt also manchmal den falschen Eindruck, auf diesem Weg auch den Wohlstand zurückzuholen, der uns verloren gegangen ist, seit Russland den Krieg begonnen hat. Selbst als man im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung der Zentralbank vorwarf, dort sei zu lange mit Zinserhöhungen gezögert worden, begründete man diesen Vorwurf so: „Viele Bürger sind nun von Armut bedroht.“ Als hätte das eine etwas mit dem anderen zu tun. Manche linke Kritiker wollen diese Rhetorik entlarven und reagieren, sobald irgendwo ein Liberaler für Zinserhöhungen plädiert, inzwischen mit einer rhetorisch geschickten Gegenfrage: Wenn das Problem zum Beispiel der Gasmangel ist, was hilft uns dann die EZB? Die fördert für uns ja auch keines!
Es scheint jedenfalls, als würde man vor lauter Inflation die Welt hinter dem Begriff gar nicht mehr sehen. Was ist tatsächlich der Zusammenhang zwischen Inflation und Ärmerwerden? Um das zu beantworten, muss man zuerst einmal festhalten, dass die Inflation, wie Volkswirte sie verstehen, auf zwei mögliche Ursachen zurückgehen kann, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
- Entweder die Preise steigen, weil die Nachfrage steigt, also mehr Geld zugleich dieselbe Menge an Gütern nachfragt. Hier ist erst einmal niemand ärmer geworden – aber diesen Zusammenhang haben Lindner und die anderen im Sinn, wenn sie die Nachfrage dämpfen wollen.
- Oder aber, das ist die andere Möglichkeit, die Preise steigen, weil die gleiche Nachfrage plötzlich auf weniger Güter trifft – ein “Angebotsschock” sorgt dafür, dass die Gütermenge kleiner ist als zuvor. Zum Beispiel fließt plötzlich kein Gas mehr durch die Pipelines. Alle sind also tatsächlich ärmer geworden.
Volkswirte berücksichtigen diese unterschiedlichen Ursachen, indem sie einerseits von einer „Nachfrageinflation“ sprechen und andererseits von einer „Angebotsinflation“. Nun ist es allerdings nicht so, als ließe sich eine Nachfrageinflation nur bekämpfen, indem man die Nachfrage dämpft – oder eine Angebotsinflation nur, indem man das Angebot erweitert. Weil sich Preise bekanntlich aus Angebot und Nachfrage bilden, kann jede der beiden Inflationsformen sowohl über das Angebot als auch über die Nachfrage reguliert werden – egal, ob ihre Ursache eigentlich nur im Angebot oder nur in der Nachfrage zu finden war.
Was Lindner sagte, war in einem Sinne also gewiss richtig: Eine Angebotsinflation lässt sich zumindest theoretisch mit den gleichen geldpolitischen Mitteln bekämpfen, mit denen man eine Nachfrageinflation bekämpft. Man erhöht die Zinsen und hofft, dass weniger konsumiert wird. Dann passt die gesunkene Nachfrage wieder zum bereits vorher gesunkenen Angebot. Man gleicht sozusagen alles einander an, aber nach unten. Man kann eine Angebotsinflation mit Geldpolitik bekämpfen, so wie man auch verhindern kann, dass die Badewanne überläuft, indem man den Wasserhahn zudreht, selbst wenn das Problem tatsächlich darin besteht, dass der Abfluss verstopft ist.
Die Verwirrung aber entsteht, sobald man im Kampf gegen die Inflation die Übersicht verliert und nicht mehr säuberlich die Ursache von der Wirkung trennt. Wenn wir ärmer werden, dann ist das eine von zwei möglichen Ursachen für Inflation. Alle werden ärmer, dann Inflation – leider hat die allgemeine Kenntnis von diesem möglichen Zusammenhang dazu geführt, dass der Begriff „Inflation“ selbst inzwischen so klingt, als bedeute er in jedem Fall, dass alle ärmer werden. 3 In einem anderen Sinne ist das durchaus richtig: Möglicherweise sorgt die oben beschriebene Planungsunsicherheit stets dafür, dass wir ein wenig ärmer werden – aber das ist offensichtlich nicht der Zusammenhang, den Thelen oder Buschmann meinen. Das aber ist falsch; fatal wird dieser Irrtum sogar, wenn er noch weitergetragen wird. Denn zugleich kann man theoretisch jede Inflation bekämpfen, indem man Geldpolitik betreibt und die Nachfrage drosselt. Dann manipuliert man einen anderen Zusammenhang (den zwischen Nachfrage und Inflation) und sorgt so dafür, dass die Inflation sinkt. Nun kann es zu folgenden Kurzschluss kommen, wenn der eine Irrtum einen zweiten nach sich zieht: Wenn man (1) Inflation mit Geldpolitik bekämpfen kann und (2) Inflation irgendwie so klingt, als ob alle ärmer geworden sind, dann wirkt es so, als könne man Ärmerwerden mit Geldpolitik bekämpfen. Das aber ist natürlich Unsinn.
Womöglich ist der Begriff „Inflation“, der so technisch präzise wirkt, eigentlich eine Fehlkonstruktion, die uns heute kaum mehr Orientierung bietet und eher Verwirrung stiftet. Man sollte das Wort aus dem Sprachgebrauch nehmen, so wie man einen alten Geldschein aus dem Zahlungsverkehr nimmt, sobald er so verschlissen ist, dass man mit ihm nichts mehr anzufangen weiß. Selbst wo kein Liberaler absichtlich sein politisches Geschäft betreibt mit dieser begrifflichen Unschärfe, da bleibt ein Problem: Der Inflationsbegriff ist als Werkzeug in unserer Krise so nützlich wie ein Hammer, will man eine Schraube ins Holz befördern. Man findet schon irgendwie heraus, wie es gemeint ist, aber sauberer wär‘s, man hätte tatsächlich einen Schraubenzieher.
Es spricht also manches dafür, unser begriffliches Inventar zu überarbeiten. Wie können wir über das wirtschaftliche Geschehen, das wir bisher unter der Spannweite des Dachworts “Inflation” verhandelt haben, in Zukunft besser sprechen? Wie können wir der Verwirrung, die oben beschrieben wurde, entkommen?
Tatsächlich hilft es hier, sich einmal die moralischen Beweggründen anzuschauen, die Inflationsbekämpfer so gern zitieren für ihre Sache. Der Sparer, so empören sich regelmäßig Liberale, werde durch die Inflation „enteignet“. Dieses moralisierende Urteil kann aber, sofern es überhaupt je richtig ist, nur gelten, wenn von einer Nachfrageinflation die Rede ist. Wenn, genauer gesagt, der Staat oder die Zentralbank aktiv herbeiführt, dass die Nachfrage schneller steigt, als die Gütermenge wächst. Bei einer Angebotsinflation hingegen wären die moralischen Vorzeichen vertauscht: Gerade ein liberaler Apologet der Märkte müsste angesichts einer echten Preissteigerung zugestehen, dass hier nicht böse Mächte sich am Sparvermögen treuherziger Bürger vergreifen, sondern dass sich schlicht das Preissignal auch in diesen Sparvermögen abbildet. Gas ist knapper, Sachen sind teurer geworden und deswegen kann ich mir von meinen Ersparnissen weniger kaufen. So soll es doch sein – glauben die Freunde des Marktes jedenfalls sonst immer.
»Der Liberale sorgt sich um die Geldentwertung. Der Teuerung steht er hingegen leidenschaftslos gegenüber, insofern sie schlicht Ergebnis eines Marktprozesses ist«
Gerade die monetäre Moral von liberalen Inflationsbekämpfern lässt sich also wesentlich genauer erfassen, wenn man eine ganz andere Nomenklatur nutzen würde als die gewohnte. Und tatsächlich kennen wir zwei geläufige Wörter, „Teuerung“ und „Geldentwertung“, die bisher meist als bloße Synonyme zum Wort „Inflation“ verwendet wurden; sie könnte man umwidmen, um für Klarheit zu sorgen. Der Liberale zum Beispiel sorgt sich um die Geldentwertung. Der Teuerung steht er hingegen leidenschaftslos gegenüber, insofern sie schlicht Ergebnis eines „Marktprozesses“ ist, und deswegen womöglich ein Problem, aber kein moralisches Vergehen. Die neue Nomenklatur könnte also so aussehen:
- Das, was Volkswirte heute „Inflation“ nennen, heißt in Zukunft einfach: Der Preisindex steigt. Konsumgüter sind in einem, und das ist hier entscheidend, nominalen Sinne teurer geworden. Die Zahlen, die auf den Preisschildern stehen, sind höher als früher. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sich auch wirklich etwas verändert hat – dass wir wirklich ärmer geworden sind. Wir können uns durchaus vorstellen, dass morgen auf den Schildchen alles doppelt so teuer ist, aber jeder verfügt zugleich über doppelt so viel Geld. In Russland reformierte man 1998 den Rubel: Ein neuer Rubel war 1000 alte Rubel wert. Weil das für die Preise genauso galt wie für die Löhne, war die Änderung bloß dem Namen nach eine – nominal.
- Manchmal aber ändert sich tatsächlich etwas. Wir werden tatsächlich alle zusammen als Volkswirtschaft ärmer, eine Angebotsinflation ist dann die Folge. Für diesen Umstand nutzen wir in Zukunft das alte deutsche Wort „Teuerung“, wie wir es schon aus der Bibel kennen. Die Teuerung passiert nicht auf den Preisschildern, sondern auf robuste Weise in der echten Welt, jenseits der Schilder – denn dort werden Güter knapper, ohne dass zuvor die Nachfrage gesunken wäre. Wir leiden aktuell unter Teuerung, denn es gibt weniger Gas, und das nicht, weil wir etwa weniger Gas wollen und darum die Produktion gedrosselt wurde.
- Das, was hingegen als Ursache einer “Nachfrageinflation” ausgemacht wird, nennen wir in Zukunft „Geldentwertung“. Denn genau das ist ja gemeint: Ein Euro ist weniger Wert geworden, denn er muss plötzlich mit mehr anderen nachfragenden Euros konkurrieren, wenn ich ihn nutzen will, um Güter zu kaufen.
- Der Begriff „Inflation“ entfällt, weil er unter der Last aller widersprüchlichen Assoziationen zusammenzubrechen droht.
Was man so gewinnt, ist Klarheit. Ursache und Wirkung geraten nicht mehr durcheinander: Der “Kampf gegen die Inflation”, wie Lindner und Thelen ihn führen wollen, kann dann nicht mehr verschummelt werden zu einem Kampf gegen die Teuerung, der ganz anders zu führen wäre. Der liberale Kampf erscheint nur noch als das, was er immer war: der bloße Versuch, einen nominalen Preisindex zu stabilisieren, damit die Transaktionen im Wirtschaftsgeschehen möglichst reibungslos funktionieren. Und jetzt wird auch deutlich, wie verzerrt unser öffentliches Gespräch war: Wir leiden unter Teuerung, aber reden den ganzen Tag nur über den Preisindex – so, als hätte ein Patient eine gefährliche Krankheit und die Ärzte sprechen nur darüber, wie sie das Fieber senken können, damit dem Patienten nicht zu warm wird. 4 Die neuen Begriffe Teuerung und Geldentwertung sollen aber keinesfalls bloße politische Rhetorik sein, die Linken dabei hilft, ihre eigene Position zu vermarkten. Im Gegenteil. Auch manche Liberale würden von der neuen Klarheit profitieren. Eine Geldentwertung, wie oben definiert, führt nämlich nicht immer zu einem Anstieg des Preis-Index. Wenn gleichzeitig das Angebot wächst, wird das Geld entwertet, ohne dass ein Ausschlag im Index sich zeigt. Jetzt können also Bitcoin-Fans und andere Fiat-Kritiker endlich eine Trivialität klar formulieren, die sie bisher als düstere Verschwörungstheorie ins Internet raunen mussten: Auch dann, wenn der Preisindex nicht steigt, wird unser Geld womöglich entwertet.
Wie kam es überhaupt zu dieser Verzerrung, unter der unsere Debatten leiden? Ein Grund wurde bereits genannt: Es ist nicht ganz einfach, genau zu bestimmen, was es heißt, dass wir alle ärmer werden – die Krankheit selbst lässt sich also nicht so einfach messen wie das Fieber. Selbst wenn man sich auf eine hinlänglich unzuverlässige Zahl wie das Bruttoinlandsprodukt einlässt als Maß für unseren Reichtum, sind viele Fragen noch offen. Ökonomen müssen einen komplizierten Umweg wählen, um eine Lage zu beschreiben, in der wir alle zusammen als Volkswirtschaft ärmer werden. Was oben einfach “Teuerung” genannt wurde, liegt für sie dann vor, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Erstens muss das reale Bruttoinlandsprodukt fallen; das zeigt an, dass weniger Güter kursieren. Das allein reicht aber nicht aus – denn das reale BIP fällt auch, wenn die Konsumlust einbricht oder eine Gesellschaft sich plötzlich für Degrowth entscheidet. Der Volkswirt muss also herausfinden, ob der BIP-Einbruch bloß von mangelnder Nachfrage herrührt oder ob er von einem mangelnden Angebot ausgelöst wird. Dafür wiederum muss er auf das nominale Preisniveau blicken: Wenn es während einer Rezession fällt, dann schwächelt die Nachfrage. Wenn es in einer Rezession über die Maßen hinaus steigt, ist das Angebot knapper geworden. Letztlich ist der Volkswirt also zurückgeworfen auf jenes Begriffsgespenst, das während der Ölkrise der Siebziger berühmt wurde: die Stagflation. In dem Begriff verschmelzen Inflation und ein reales BIP, das nicht mehr wächst oder gar schrumpft. 5 Tatsächlich steigt das reale BIP bisher weiter. Das zeigt, wie schwierig es sich gestaltet, will man bestimmen, was es wirklich heißt, dass wir alle ärmer werden. Es müssen – siehe Fußnote 2 – nicht Gegenwart und Vergangenheit, sondern verschiedene Szenarien miteinander verglichen werden. Die tatsächliche Entwicklung muss abgeglichen werden mit einer kontrafaktischen Entwicklung, wie wir sie eigentlich erwartet hätten.
Das alles klingt viel zu kompliziert – und ist es auch. „Stagflation“ ist nicht nur ein hässliches Wort, sondern auch ein hässlich zusammengeklebter Begriff. Und deswegen tatsächlich ein schlechter Begriff. Jedenfalls im Sinne einer Theorie-Ästhetik, die uns darin leiten will, unsere Begriffe möglichst elegant zu wählen. Wenn man die Welt in Begriffe zerschneidet, dann darf man nicht irgendwie schneiden. Man muss geschickt vorgehen; nicht mit dem Hackebeil, sondern mit dem Tranchiermesser, als läge da ein besonders gutes Stück Fleisch auf dem Küchenbrett. Man zerteile am besten „nach Gliedern, wie sie naturgemäß zu bestimmen sind, ohne dass man versucht, nach der Art eines schlechten Kochs verfahrend, irgend ein Stück zu zerbrechen“, so hat das vor über 2000 Jahren Platon formuliert. Der Begriff „Stagflation“ aber scheint die wirtschaftliche Welt, die wir beschreiben wollen, gerade nicht entlang ihrer tatsächlichen Gelenke aufzutrennen.
Einfacher – und im Sinne einer solchen Theorie-Ästhetik deswegen auch richtiger – wäre es, man würde sowohl den Begriff Stagnation als auch den Begriff Inflation aufgeben. Das Problem, vor dem wir heute stehen, lässt sich nicht durch die EZB lösen, sondern nur in der echten Welt, in der wir, ganz echt, ärmer geworden sind. Darum braucht es einen eigenen, angemessen furchteinflößenden Namen für dieses Problem: Teuerung. Von „Inflation“ sollte man nicht mehr sprechen, zumindest nicht, wenn man wissen will, worum es eigentlich geht.