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Wie China der Schocktherapie entkam

In ihrem Buch »How China Escaped Shock Therapy« zeichnet Isabella Weber nach, wie es China gelang, das Land schrittweise zu reindustrialisieren und einer neoliberalen Schocktherapie zu entkommen. Schließlich gelang China ein eigenes »Wirtschaftswunder«.

Das heutige China ist tief in den globalen Kapitalismus eingebunden, dennoch hat der wirtschaftliche Aufstieg der Volksrepublik nicht zur einer umfassenden institutionellen Anpassung an den Neoliberalismus geführt. Diese Entwicklung widerspricht dem Triumphalismus der Zeit nach dem Kalten Krieg, der einen „großen Sieg des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus“ rund um den Globus vorhergesagt hat. 1 Fukuyama, 1989, 3 Das Zeitalter der Revolution, so wurde konstatiert, sei 1989 zu Ende gegangen. 2 Wang, 2009 Doch ist es nicht zu der erwarteten Universalisierung des „westlichen“ Wirtschaftsmodells gekommen. Vielmehr hat sich herausgestellt, dass die graduelle Öffnung den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas zwar begünstigt, aber keine umfassende Assimilation bewirkt hat. Die Spannung zwischen Chinas Aufstieg und dieser teilweisen Assimilation bestimmt unsere Gegenwart bis heute – und sie hat ihren Ursprung in dem eigenen Ansatz der Volksrepublik, die Öffnung der Wirtschaft zu steuern.

Die Literatur zu den Marktreformen in China ist umfangreich und vielfältig. Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die während der Abkehr vom Staatssozialismus ergriffen wurden, sind also hinreichend bekannt und erforscht. Weitgehend übersehen wird jedoch die Tatsache, dass die graduelle und staatlich gelenkte Öffnung alles andere als ausgemacht oder „natürlich“ war. Sie wurde auch nicht durch den chinesischen Exzeptionalismus vorgegeben. Stattdessen wurde die Art und Weise der Ökonomisierung Chinas im ersten Jahrzehnt der Öffnung unter Deng Xiaoping (1978-1988) heftig debattiert. Ökonomen, die für eine Liberalisierung im Stile einer Schocktherapie plädierten, stritten sich mit den Befürwortern einer graduellen, an den Rändern des Wirtschaftssystems beginnenden Marktöffnung um die Zukunft des Landes. Zweimal hatte China bereits alles für den „Big Bang“ vorbereitet. Zweimal wurde letztendlich auf die Umsetzung des geplanten Reformpakets verzichtet. 

Was in Chinas Marktreformdebatte auf dem Spiel stand, kann durch den Kontrast zwischen Chinas Aufstieg und dem wirtschaftlichen Niedergang in Russland verdeutlicht werden. 3 Nolan, 1995 In Russland, dem anderen ehemaligen Giganten des Staatssozialismus, wurde die Schocktherapie – die Quintessenz der neoliberalen Politik – rücksichtslos angewandt. 4 Jessop, 2002, 2018 Joseph Stiglitz sprach diesbezüglich von „einem kausalen Zusammenhang zwischen Russlands Politik und seiner schlechten Leistung“. 5 Stiglitz, 2014, 37 Die Ränge von Russland und China haben sich in der globalen Wirtschaft umgekehrt, seitdem sie unterschiedliche Formen der Marktwirtschaft eingeführt haben. Russlands Anteil am weltweiten BIP hat sich fast halbiert, von 3,7 Prozent im Jahr 1990 auf etwa 2 Prozent im Jahr 2017, während sich Chinas Anteil fast versechsfacht hat, von nur 2,2 Prozent auf etwa ein Achtel der globalen Produktion. Während China zum „Workshop“ des globalen Kapitalismus wurde, durchlief Russland eine dramatische Deindustrialisierung. Das durchschnittliche Realeinkommen von 99 Prozent der Menschen in Russland war 2015 niedriger als 1991, während es sich in China trotz schnell zunehmender Ungleichheit im gleichen Zeitraum mehr als vervierfachte und 2013 das russische übertraf. Infolge der Schocktherapie stieg die Mortalität in Russland so stark wie in keinem Industriestaat in Friedenszeiten zuvor. 6 Notzon et al., 1998

Isabella M. Weber

Isabella M. Weber ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der University of Massachusetts Amherst und Leiterin der Chinaforschung am Political Economy Research Institute. Ihr erstes Buch „How China Escaped Shock Therapy: The Market Reform Debate” wurde 2021 mit dem Joan Robinson Prize ausgezeichnet.

Angesichts der rückständigen Entwicklung in China hätte eine Schocktherapie wahrscheinlich noch mehr menschliches Leid in China als in Russland verursacht. Gewiss hätte sie auch die Grundlage für Chinas wirtschaftlichen Aufstieg untergraben, wenn nicht sogar zerstört. Doch ist nur schwer vorstellbar, wie der globale Kapitalismus heute aussehen würde, wenn China den Weg Russlands eingeschlagen hätte. Trotz der Folgen dieser Politik wird die Schlüsselrolle, die die Marktreformdebatte in Chinas spielte, weitgehend ignoriert. In meinem Buch »How China Escaped Shock Therapy« blicke ich deshalb auf die 1980er Jahre zurück und frage mich, mit welchen Argumenten China der Schocktherapie entkam. Eine Untersuchung der chinesischen Marktreformdebatte offenbart nicht nur die wirtschaftlichen Hintergründe von Chinas Aufstieg, sondern auch die Ursprünge von Chinas traditioneller Beziehung von Staat und Markt. 

Die Abweichung vom neoliberalen Ideal liegt in erster Linie nicht an der Größe des chinesischen Staates, sondern in der Art und Weise der staatlichen Wirtschaftslenkung. Der neoliberale Staat ist weder klein noch schwach, sondern sehr stark. 7 z. B. Bonefeld, 2013, 2017; Chang, 2002; Davies, 2018 Seine Aufgabe ist es, den Markt zu beschützen. Dies tut er indem er eine freie Preisentwicklung garantiert, die der zentrale Wirtschaftsmechanismus bleiben soll. Im Gegensatz hierzu nutzt der chinesische Staat den Markt aber als Instrument zur Verfolgung seiner übergeordneten Entwicklungsziele. Damit behält er sich ein gewisses Maß an politischer Souveränität vor, um Chinas Wirtschaft vor dem Weltmarkt abzuschirmen – das haben die Asienkrise 1997 und die globale Finanzkrise 2008 eindringlich gezeigt. Die Abschaffung dieser besonderen Form der „wirtschaftlichen Abschirmung“ ist ein langjähriges Ziel von Neoliberalen, und die heutige internationale Politik ist darauf ausgerichtet, den nationalen Schutz vor dem globalen Markt in allen Staaten zugunsten des freien und offenen Welthandels abzubauen. 8 Slobodian, 2018, 12 Der Schocktherapie zu entkommen ist deshalb nur gelungen, weil der chinesische Staat die Fähigkeit behielt, die Spitzenbereiche der Wirtschaft – also die Sektoren, die für wirtschaftliches Wachstum und ökonomische Stabilität am wichtigsten sind – abzuschirmen, während er sich gleichzeitig dem globalen Kapitalismus öffnete. 

Die Logik der Schocktherapie

Die Schocktherapie war das Herzstück der „Washingtoner Konsensdoktrin“, 9 Stiglitz, 1999, 132 die von den Bretton-Woods-Institutionen in Entwicklungsländern, Ost- und Mitteleuropa und Russland propagiert wurde. 10 Amsden et al., 1998; Klein, 2007 Oberflächlich betrachtet handelte es sich um ein Paket von Maßnahmen, die schockartig umgesetzt werden sollten, um die sozialistischen Planwirtschaften schlagartig in Marktwirtschaften zu verwandeln. 11 Åslund, 1992; Kornai, 1990; Sachs und Lipton, 1990; Sachs, 1992a,b Als Paket umfasste die Doktrin vier Maßnahmen, die simultan umgesetzt werden sollten: die Liberalisierung aller Preise (1), Privatisierung (2), Handelsliberalisierung (3) und die Stabilisierung der Staatsfinanzen im Sinne von einer strafferen Geld- und Fiskalpolitik (4). Eine genauere Analyse zeigt, dass der Teil dieses Pakets, der schockartig umgesetzt werden sollte, auf eine Kombination von Preisliberalisierung und strikter Austerität hinauslief.

Lipton und Sachs räumten Komplikationen bei der schnellen praktischen Umsetzung von Privatisierungen ein, sprachen allgemein aber für die Proponenten einer Schocktherapie. 12 Lipton und Sachs, 1990 Sie erkannten an, wie groß die Aufgabe der Privatisierung in einer Wirtschaft mit überwiegend öffentlichem Eigentum ist. Die große Zahl staatlicher Unternehmen in den sozialistischen Volkswirtschaften verglichen sie mit der Privatisierungsbilanz des Vereinigten Königreichs und wiesen darauf hin, dass „Margaret Thatcher, die weltweit führende Befürworterin der Privatisierung“, 13 ebd., 127 in den 1980er Jahren die Übertragung von nur einigen Dutzend Staatsbetrieben an den privaten Sektor überwacht hatte. Daher hielten sie fest, dass „die große Herausforderung darin besteht, wie man eine große Anzahl von Unternehmen auf eine Weise privatisieren kann, die gerecht, schnell und politisch durchführbar ist und wahrscheinlich eine effektive Struktur der Unternehmenskontrolle schafft“. 14 ebd. Sie empfahlen deshalb vage, dass „die Privatisierung wahrscheinlich mit vielen Mitteln durchgeführt werden sollte“ und dass das „Tempo schnell, aber nicht rücksichtslos sein muss“. 15 ebd., 130, Hervorhebung hinzugefügt von I.M.W. In dem Bericht »The Economy of the USSR« vom IWF, der Weltbank, OECD und Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung wurde ebenfalls davor gewarnt, die Privatisierung zu schnell voranzutreiben, „wenn die relativen Preise noch unbeständig sind“. 16 IWF et al., 1990, 26 Ähnlich sahen die Schocktherapeuten eine inländische Preisliberalisierung als Voraussetzung für die Handelsliberalisierung an. 17 ebd., 29 Ein „Big Bang“ bei der Preisliberalisierung galt somit als eine Voraussetzung für die Privatisierung und auch für die Handelsliberalisierung und stellt deshalb den „Schock“ in der Schocktherapie dar.

Was als umfangreiches Reformpaket präsentiert wurde, entpuppte sich als eine Politik, die extrem einseitig auf ein einziges Element der Ökonomie ausgerichtet war: die freie Preisbildung. Diese Einseitigkeit war jedoch kein Resultat pragmatischer Handhabung, die tieferliegende Ursache für die einseitige Ausrichtung zur Preisliberalisierung ist der neoklassischen Theorie vom Markt als einem Preismechanismus geschuldet, der von institutionellen Gegebenheiten abstrahiert. 18 Chang, 2002; Stiglitz, 1994, 102, 195, 202, 249-250 In der allgemeinen Theorie der Neoliberalen stellt der Markt die einzige Möglichkeit dar, die Wirtschaft rational zu organisieren, und dessen Funktionieren hängt von freien Preisen ab. 19 Weber, 2018, 2022 Nach der Logik der Schocktherapie, wie sie etwa von David Lipton und Jeffrey Sachs dargelegt wurde, würde die Liberalisierung aller Preise die verzerrten relativen Preise, die zu niedrig für Schwerindustrie und Investitionsgüter waren, und gleichzeitig zu hoch für Leichtindustrie, Dienstleistungen und Konsumgüter, 20 Lipton und Sachs, 1990, 82 „auf einen Schlag“ korrigieren. In ähnlicher Weise drängte der IWF, die Weltbank, OECD und die Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in ihrem gemeinsamen Bericht »The Economy of the USSR« 21 IWF et. al., 1990, 25 darauf, dass

Nichts für einen erfolgreichen Übergang zur Marktwirtschaft wichtiger sei als die Freigabe der Preise zur Steuerung der Ressourcenallokation. Eine frühzeitige und umfassende Freigabe der Preise ist eine wesentliche Voraussetzung für die Beendigung sowohl der Knappheit als auch der makroökonomischen Ungleichgewichte, unter denen die Wirtschaft zunehmend leidet.

Eine solche umfassende Liberalisierung der Großhandelspreise müßte mit einer Stabilisierung zur Kontrolle des allgemeinen Preisniveaus einhergehen. 22 ebd., 19 Solange ergänzende makroökonomische Maßnahmen ergriffen würden, könne die Preisliberalisierung „zu einem einmaligen Preisansprung, aber nicht zu einer anhaltenden Inflation führen“, 23 Lipton und Sachs, 1990, 100 so die Schocktherapeuten. Die wahren Ursachen für die anhaltende Inflation in staatssozialistischen Ländern seien die übergroße Nachfrage aufgrund großer Haushaltsdefizite, die „weiche Haushaltsbegrenzung“, lockere Geldpolitik und die Lohnerhöhungen infolge der Vollbeschäftigungspolitik. 24 Lipton und Sachs, 1990, 98 Nach Ansicht der Schocktherapeuten könnten diese Probleme durch eine „starke Dosis makroökonomischer Sparmaßnahmen“ gemildert werden, da sie im Wesentlichen monetärer und nicht struktureller Natur seien. 25 ebd., 89 Der „einmalige Preisanstieg“, der von der Liberalisierung der Großhandelspreise erwartet wurde, war willkommen, da er „überschüssige Liquidität absorbieren“ und somit die Sparmaßnahmen verstärken würde. 26 IWF et al., 1990, 19, 22 Mit anderen Worten: Ein Anstieg des allgemeinen Preisniveaus würde die Ersparnisse entwerten und somit den chronischen Nachfrageüberhang in den staatssozialistischen Wirtschaften verringern. Die Kosten für den Verlust des bescheidenen Wohlstands, den die Bürger im Staatssozialismus angesammelt hatten, wurden als notwendiges Übel angesehen. 27 Reddaway und Glinski, 2001, 179 Im Endeffekt handelte es sich um eine regressive Umverteilung zugunsten der Eliten, die über nichtmonetäres Vermögen verfügten. Die Umverteilung von unten nach oben war seit der westdeutschen Preis- und Währungsreform der Nachkriegszeit unter Ludwig Erhard ein Teil der Schocktherapie. 28 Fuhrmann, 2017, 167-170; Weber, 2020b, 2021 Der Gesellschaft über Nacht Marktverhältnisse aufzuzwingen, bedeutete, mehr Ungleichheit zu erzwingen.

»Mit dem empfohlenen Paket wurde keine Marktwirtschaft geschaffen. Stattdessen wurde gehofft, dass die Zerstörung der Plan- und Kommandowirtschaft automatisch zu einer Marktwirtschaft führen würde.«

Für die Beschaffenheit und Struktur der damaligen Institutionen, aus welchen sich die neue Ökonomie zusammensetzen würde, haben sich die Schocktherapeuten nicht sonderlich interessiert. Mit dem empfohlenen Paket wurde keine Marktwirtschaft „geschaffen“. Stattdessen wurde gehofft, dass die Zerstörung der Plan- und Kommandowirtschaft automatisch zu einer Marktwirtschaft führen würde. 29 Burawoy, 1996; Hamm et al., 2012 Es ist ein Rezept der Zerstörung, nicht für den Aufbau. Nachdem die Planwirtschaft „zu Tode geschockt“ worden war, erwartete man, dass die „unsichtbare Hand“ wirken und auf etwas wundersame Weise eine effektive Marktwirtschaft entstehen lassen würde. Dies ist eine Perversion der berühmten Metapher von Adam Smith. Smith, der die industrielle Revolution in seiner Gegenwart genau beobachtete, sah in der menschlichen „Neigung, eine Sache gegen eine andere zu tauschen“, das „Prinzip, das die Arbeitsteilung hervorbringt“, 30 Smith, [1776] 1999, 117 aber er mahnte auch zur Vorsicht, weil dieses Prinzip „durch das Ausmaß des Marktes begrenzt“ sei. 31 ebd., 121 Der Markt, so Smith, entfaltet sich langsam, sodass die Institutionen, die den Marktaustausch erleichtern, aufgebaut werden können. 32 ebd., 121-126 In diesem Zuge würde die unsichtbare Hand – und mit ihr der Preismechanismus – nur allmählich ins Spiel kommen. Die Logik der Schocktherapie gaukelt uns dagegen vor, dass ein Land einfach „zur Marktwirtschaft springen“ kann.  33 Sachs, 1994a

Die von der Schocktherapie verordnete Zerstörung betraf auch das politischen System. Eine weitere Bedingung musste erfüllt sein: Nach Lipton und Sachs „galt der Zusammenbruch des kommunistischen Einparteienstaats als die unabdingbare Voraussetzung für einen effektiven Übergang zur Marktwirtschaft.“ 34 Lipton und Sachs, 1990, 87 In der Tat bedurfte es des Zusammenbruchs des sowjetischen Staates und der kommunistischen Einparteienherrschaft im Dezember 1991, bevor der russische Präsident Boris Jelzin am 2. Januar 1992 fast alle Preiskontrollen abschaffen konnte. Unter Generalsekretär Michail Gorbatschow stand eine radikale Preisreform seit 1987 immer wieder auf der Tagesordnung, wurde aber nie durchgeführt, da sich die russischen Bürger massenhaft beschwerten und Wissenschaftler vor sozialen Unruhen warnten. Gorbatschow bemühte sich um ein graduelles Vorgehen nach chinesischem Vorbild, allerdings vergeblich. 35 Belik, 1998; Medwedew, 1998; Miller, 2016; Yun, 1998

Der „Big Bang“ versprach zwar langfristige Gewinne, brachte aber kurzfristige Übel mit sich, die die Interessen der Arbeitnehmer und Unternehmen sowie der staatlichen Stellen unmittelbar betrafen. Eine radikale Preisliberalisierung wurde erst nach der Auflösung des Sowjetstaates politisch durchsetzbar. Der „Zusammenbruch der kommunistischen Einparteienherrschaft“ erwies sich als „conditio sine qua non“ für einen „Big Bang“, aber der „Big Bang“ führte nicht zu einem „effektiven Übergang zur Marktwirtschaft“. Statt des vorhergesagten einmaligen Anstiegs des Preisniveaus trat Russland in eine lang anhaltende Periode sehr hoher Inflation ein, verbunden mit einem Produktionsrückgang, gefolgt von niedrigen Wachstumsraten. Fast alle postsozialistischen Länder, die irgendeine Form der Schocktherapie anwandten, erlebten eine tiefe und lang anhaltende Rezession. 36 siehe z. B. Kornai, 1994; Popov, 2000, 2007; Roland und Verdier, 1999 Abgesehen von der durch wirtschaftliche Indikatoren dokumentierten Verwüstung brachen die meisten Messgrößen für das menschliche Wohlergehen, wie z. B. Zugang zu Bildung, Freiheit von Armut und öffentliche Gesundheit, zusammen. 37 Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, 1999; UNICEF, 2001

Intellektuelle Grundlagen von Chinas gradueller Marktöffnung und der Flucht vor der Schocktherapie

Das Ergebnis der chinesischen Marktreformpolitik war das Gegenteil von dem Russlands: die Inflation war niedrig oder moderat, aber das Wirtschaftswachstum stieg rasant. Anstatt das bestehende Preis- und Planungssystem zu zerstören, in der Hoffnung, dass irgendwie eine Marktwirtschaft „aus den Ruinen“ entstehen würde, verfolgte China einen experimentellen Ansatz, der die gegebenen institutionellen Gegebenheiten zum Aufbau eines neuen Wirtschaftssystems nutzte. Der Staat schuf schrittweise neue Märkte an den Rändern des alten Systems. Wie ich in diesem Buch darlege, erfolgten die Reformen in China graduell – nicht nur in Bezug auf das Tempo, sondern auch in Bezug auf den Übergang von den Rändern des alten Industriesystems zu dessen Kern. Die allmähliche Marktliberalisierung setzte eine Dynamik des Wachstums und der Reindustrialisierung in Gang und veränderte schließlich die gesamte Ökonomie, während der Staat die Kontrolle über die Spitzenpositionen behielt. Die deutlichste Ausprägung des chinesischen Reformansatzes ist das zweigleisige Preissystem, das das Gegenteil der Schocktherapie darstellt. Anstatt alle Preise auf einen Schlag zu liberalisieren, blieb der Staat zunächst bei der Planung des industriellen Kerns der Wirtschaft und legte die Preise für lebenswichtige Güter fest, während die Preise für überschüssige und nicht lebenswichtige Güter sukzessive liberalisiert wurden. Diese Preise wurden allmählich vom Markt bestimmt. 

Hinter diesem zweigleisigen System steht nicht einfach eine bestimmte Preispolitik, sondern vielmehr ein Prozess der Markterschaffung und -regulierung durch staatliche Beteiligung. Vor der Reform sollte die ganze Industriewirtschaft wie eine große Fabrik mit untergeordneten Produktionseinheiten organisiert werden. Das zweigleisige Preissystem verwandelte die sozialistischen Produktionsstätten in profitorientierte Unternehmen und schuf Raum für aufkeimende Wirtschaftsbeziehungen mit all ihren sozialen und ökologischen Folgen. Die Transformation des Wirtschaftssystems wurde bei jedem Schritt vom Staat gelenkt. Im Gegensatz dazu führte die schlagartige Preisliberalisierung im Rahmen der Schocktherapie zu einer Desorganisation der bestehenden Produktionsverhältnisse, ohne sie durch Wirtschaftsbeziehungen zu ersetzen. In dieser Situation funktionierten weder die alten Kommandostrukturen noch der Markt effektiv. 38 Burawoy, 1996; Hamm et al., 2012; Roland und Verdier, 1999

Ende der 1970er Jahre hatte sich China weitgehend von den revolutionären Ambitionen des späten Maoismus verabschiedet. Die entscheidende Frage der 1980er Jahre war nicht, ob man reformieren sollte – wie mit der Gegenüberstellung von Konservativen versus Reformern oft behauptet wird. Die Frage war vielmehr, wie man reformieren sollte: durch die Zerstörung des alten Systems oder durch den Aufbau eines neuen Systems aus dem alten. Um eine Metapher zu gebrauchen: Während die Schocktherapie vorschlug, das ganze Haus abzureißen und ein neues von Grund auf zu errichten, verlief die chinesische Reform wie ein Jenga-Spiel: Es wurden nur die Blöcke entfernt, die flexibel neu angeordnet werden konnten, ohne die Stabilität des Gebäudes als Ganzes zu gefährden, während die zurückbleibenden Lücken mit dem Markt gefüllt wurden. Durch diesen Prozess wurde das Gebäude grundlegend verändert. Wie jeder weiß, der schon einmal Jenga gespielt hat, dürfen bestimmte Blöcke nicht entfernt werden, damit der Turm nicht zusammenbricht.

Dies ist ein übersetzter Auszug aus dem Buch „How China escaped Shock-Therapy“. Das Buch erschien 2021 im Routlege-Verlag.

China hätte den zerstörerischen Schritt der Schocktherapie beinah vollzogen, als die wesentlichen Preiskontrollen im kritischen ersten Reformjahrzehnt (1978-1988) abgeschafft werden sollten. Doch letztlich wurde darauf verzichtet. Die graduelle Reform, die China auf den Weg einer Aufholjagd, der Reindustrialisierung und der Wiedereingliederung in den globalen Kapitalismus brachte, bedeutete auch, dass die institutionelle Anpassung an den neoliberalen Kapitalismus unvollständig blieb. Wie beim Jenga-Spiel wurde der neue Turm durch die Strukturen des alten geformt. Daher war ein Entkommen von der Schocktherapie sowohl für Chinas wirtschaftlichen Aufstieg als auch für seine teilweise institutionelle Assimilierung von entscheidender Bedeutung. 

Die Schocktherapie stützt sich auf die neoklassische Wirtschaftswissenschaft, die eine intellektuelle Brücke zwischen den Mainstream-Ökonomen im Westen und den Marktsozialisten im Osten bildete. 39 Bockman, 2011, 2012 Im Gegensatz zu dieser wissen wir aber nur wenig über die Ökonomie, die China ein Entkommen vor der Schocktherapie ermöglichte – die Ökonomie der allmählichen Marktöffnung. In meinem Buch biete ich eine historische und analytische Darstellung von Chinas Marktreformdebatte der 1980er Jahre an und zeige, wie das zweigleisige System erdacht, herausgefordert und schließlich gegen die Schocktherapie verteidigt wurde. 

Ansatz des Buches

Mein Ziel ist es, den intellektuellen Streit zwischen den Entwicklungsökonomen, die die Logik der Schocktherapie verfochten, und denjenigen, die für einen experimentellen Gradualismus und das zweigleisige Preissystem plädierten, zu analysieren. Als solches ergänzt es die Bücher von C.H. Keyser »Professionalizing Research in Post-Mao China« (2003) und »Unlikely Partners« von Julian Gewirtz (2017). Beide Bücher befassen sich vor allem mit der Entstehung des einen oder anderen dieser beiden intellektuellen Stränge in den 1980er Jahren und konzentrieren sich mehr auf Netzwerke und Wissensaustausch als auf eine eingehende Auseinandersetzung mit den ökonomischen Argumenten, die in der chinesischen Marktreformdebatte vorgetragen wurden. Die Untersuchung des ökonomischen Diskurses in China ist in der englischsprachigen Literatur aus der Mode gekommen und erlebt derzeit eine Art Revival. 40 siehe z. B. Brødsgaard und Rutten, 2017, 1; Cohn, 2017; Karl, 2017; Liu, 2010; Zhang, 2017 Meine Arbeit hat von diesen neueren Beiträgen ebenso profitiert wie von früheren Darstellungen der Geschichte der Wirtschaftsreformen im China der 1980er Jahre. 41 z. B. Fewsmith, 1994; Halpern, 1985, 1986, 1988; Hsu, 1991; Naughton, 1995; Shirk, 1993

Einen umfassenden Überblick über den Inhalt der Wirtschaftstheorien im Zuge der Reformen in China in den 1980er Jahren bietet Hsu 42 Hsu, 1991 . Aber wie Halpern 43 Halpern, 1993, 267 bemerkt, machte sich Hsu lediglich „auf den Weg, um sich zu erklären, warum […] chinesische Wirtschaftsjournalisten in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren so viele dogmatische und oberflächliche Artikel veröffentlichten“. Hsu argumentiert also vom Standpunkt der Überlegenheit der westlichen Mainstream-Ökonomie, anstatt zu versuchen, die Art und Weise zu verstehen, wie chinesische Ökonomen die Probleme, die sie anzugehen versuchten, theoretisierten.

Im Gegensatz dazu möchte ich die verschiedenen Stimmen zur Reform in China in ihrer eigenen Begrifflichkeit analysieren und mich eingehend mit den Ursprüngen und der zugrundeliegenden Logik der von den konkurrierenden Ökonomen vorgebrachten Argumente auseinandersetzen. Zugleich ordne ich die vorgebrachten Argumente in ihren jeweiligen Kontext ein und konzentriere mich auf ein zentrales Thema der Debatte: die entscheidende Frage der Preisreform und der Schaffung von Märkten. Bei der Herausarbeitung der unterschiedlichen Positionen zu dieser wichtigen Frage wird deutlich, dass eine fundamentale Auseinandersetzung zwischen grundlegend gegensätzlichen Ansätzen der Wirtschaftspolitik und des Wirtschaftens stattgefunden hat.

Das Buch basiert auf einem breiten Spektrum an veröffentlichten und unveröffentlichten chinesischen Primärquellen sowie auf mündlichen Interviews mit Wirtschaftswissenschaftlern, die an der chinesischen Marktreformdebatte in den 1980er Jahren teilgenommen oder sie mitverfolgt haben. Ich habe mit offenen Fragestellungen gearbeitet, die lediglich auf die vertretenen Positionen der Befragten und ihrer Mitwirkung an der Reformdebatte zugeschnitten waren. Mein Ziel bei den Interviews war es, die Ansichten der Sprecher über den Verlauf der Reformen herauszuarbeiten, anstatt ihnen eine vorgefasste Meinung aufzuzwingen. Ich habe die meisten Gespräche auf Chinesisch geführt. Meine Interviewpartner haben außerdem Dokumente und Veröffentlichungen zur Verfügung gestellt, die wichtige Quellen darstellen. Die Auswahl und Identifizierung meiner Interviewpartner erfolgte nach dem Schneeballprinzip. Abgesehen von den direkten Verweisen auf die durchgeführten Interviews, die sich durch das gesamte Buch ziehen, wurden meine eigenen Überlegungen und Analysen zu Chinas erstem Reformjahrzehnt durch die unterschiedlichen Perspektiven und konkurrierenden Interpretationen meiner Gesprächspartner geprägt. Die chinesischen Artikel aus den 1980er Jahren, die in dieser Arbeit detailliert analysiert werden, wurden auf der Grundlage der Bewertungen der Interviewpartner ausgewählt, die der Meinung waren, dass diese Veröffentlichungen den Ton der Debatte angaben und von der chinesischen Führung, die über die Frage der Marktreform nachdachte, berücksichtigt wurden.

Bei dem Versuch zu verstehen, wie China der Schocktherapie entkam, waren die Interviews das Schlüsselereignis auf meiner intellektuellen Reise. Um jedoch die größere Relevanz der aus diesen Gesprächen und den Primärquellen gewonnenen Einsichten zu entschlüsseln, geht Teil I des Buches einen Schritt zurück und ordnet dieses Material in einen breiteren Kontext relevanter historischer Formen der Marktbildung ein. 

Um die besondere Beziehung zwischen dem Markt und Staat in dem zweigleisigen System in China zu konzeptualisieren, schlage ich eine Langzeitperspektive vor, die das ausgeprägte institutionelles Erbe der Preisregulierung durch staatliche Beteiligung am Markt in China mit berücksichtigt. Es geht mir nicht darum, irgendeine Art von monolithischer Kontinuität oder gar eine lineare Entwicklung von der Antike bis zur Wende in den 1980er Jahren zu suggerieren. Stattdessen verwende ich diese traditionellen Konzepte der Preisregulierung und der Marktschaffung als eine neue analytische Perspektive, um die Debatte in China in den 1980er Jahren zu beleuchten. Weit davon entfernt, Chinas Reformen als durch die Natur seiner Gesellschaft oder Kultur vorgegeben zu betrachten, zeige ich, dass Chinas Reformansatz das Ergebnis echter intellektueller Debatten war. Dieser intellektuelle Streit findet seinen Widerhall in Debatten über den richtigen Staatsumgang mit dem Markt, die sich durch die gesamte chinesische Geschichte ziehen.

Es geht mir nicht darum, China und den Westen in Opposition zueinander zu bringen oder die chinesische Wirtschaft der westlichen Wirtschaft entgegenzustellen. Vielmehr möchte ich zeigen, dass ein bestimmter ökonomischer Ansatz – ein Ansatz, der induktiver, institutionalistischer und pragmatischer war als der der Neoklassik – in der kritischen Phase von Chinas erstem Reformjahrzehnt zwar heftig umstritten war, sich letztlich aber als dominant erwies. Tatsächlich ist diese Form der Ökonomie aber keine chinesische Besonderheit. Dies wird durch meine Analyse der Debatten über die Markterschaffung in der Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und Westdeutschland in veranschaulicht (Kapitel 2). Meine Interviewpartner verwiesen wiederholt auf die Nachkriegserfahrungen in diesen Ländern. Der Übergang von einer geplanten Kriegswirtschaft zu einer Marktwirtschaft war mit ähnlichen Herausforderungen verbunden wie später der Übergang vom Staatssozialismus. Amerikanische und europäische Ökonomen debattierten heftig über die Frage, wie die Preise dereguliert und die Märkte nach dem Krieg neu erschaffen werden könnten. Das so genannte „Erhard-Wunder“, das auf die Liberalisierung der Großhandelspreise in Westdeutschland folgte, lieferte in der chinesischen Reformdebatte einen wichtigen Teil von anekdotischer Evidenz für die Schocktherapeuten 44 Weber, 2020b, 2021 . Einige prominente Ökonomen, wie John Kenneth Galbraith in den USA und Alec Cairncross im Vereinigten Königreich, plädierten hingegen für eine schrittweise Entregulierung der Preise und wiesen dabei gewisse Ähnlichkeiten mit den Marktreformen in China auf. Für die gradualistischen Reformer wurden sowohl Cairncross als auch Galbraith wurden zu wichtigen Bezugspunkten. 

In Kapitel 3 stelle ich Erfahrungen zur Schaffung von Märkten vor, die in einem unmittelbareren Zusammenhang mit der Reformdebatte der 1980er Jahre stehen: den Kampf der Kommunisten um die Preisstabilisierung in den 1940er Jahren. Im Gegensatz zu den älteren Konzepten der Preisregulierung übte die Erfahrung der 1940er Jahre einen sehr direkten und expliziten Einfluss darauf aus, wie chinesische Ökonomen und Reformer über die Schaffung von Märkten in der Reformära nachdachten. Viele der prominentesten chinesischen Reformbefürworter und Ökonomen der 1980er Jahre haben an dem chinesischen Bürgerkrieg in den 1940er Jahren selbst teilgenommen. Die Überwindung der Hyperinflation und die Stabilisierung der Wirtschaft schufen die entscheidende materielle Grundlage für den revolutionären Kampf der Kommunisten. Dabei setzten die Kommunisten eine Strategie der ökonomischer Kriegsführung ein, die sich auf die Wiederherstellung von Märkten auf Grundlage von staatlichen Handel stützte, um den Wert des Geldes wiederherzustellen. Die Techniken der ökonomischen Kriegsführung weisen Elemente der traditionellen Preisregulierung auf und sind in den frühen Phasen der Wirtschaftsreform in den 1980er Jahren als Teil der Bemühungen um eine schrittweise Marktöffnung wiederbelebt worden.

Aufbauend auf meiner Erörterung der unterschiedlichen Modi zur Markterschaffung enthält der zweite Teil meines Buches eine gründliche Analyse zur chinesischen Marktreformdebatte in den 1980er Jahren. Zunächst gebe ich einen Überblick zur Entwicklungspolitik und das Preissystem in der Mao-Ära, um damit auch die Herausforderungen zur Einführung von Marktmechanismen aufzuzeigen. Um den Lesern ein Verständnis für den Ausgangspunkt der Debatte zu geben, untersuche ich, wieso China sich in den späten 1970er Jahren Reformen überging. Ich leite daraus ab, wie eine Neuorientierung weg vom spätmaoistischen Ideal der kontinuierlichen Revolution hin zum wirtschaftlichen Fortschritt führte und wie dieses Ziel auch zur Wiedereinführung der Wirtschaftswissenschaften in China führte, nachdem diese Disziplin in der Kulturrevolution als bürgerliches Projekt verboten worden war. 

In Kapitel 5 befasse ich mich mit der frühen Phase der Marktreformdebatte in China. Ich zeichne nach woher die Argumente für die Großhandelspreisliberalisierung stammen und wo sie im Austausch zwischen den etablierten akademischen Ökonomen aus China und osteuropäischen emigrierten Ökonomen, der Weltbank und anderen ausländischen Besuchern, darunter Milton Friedman, eine Rolle spielen. In der Debatte wurde der schockartige Reformansatz als „Reformpaket“ bezeichnet. Wie auch in anderen Kontexten geht dieser Ansatz auf die neoklassischen Wirtschaftslehre zurück, sowohl in ihrer neoliberalen wie auch in ihrer sozialistischen Variante.

In Kapitel 6 entwickle ich einen Kontrast zwischen dem Reformpaket und den Ansichten junger Intellektueller und älterer Beamter, die aufgrund ihrer gemeinsamen Sorge um die Agrarreform des eine Allianz bildeten. Diese Allianz spielte eine Schlüsselrolle bei der Erforschung, Theoriebildung und Verteidigung der schrittweisen Marktöffnung, die aus den Experimenten vor Ort hervorging. Dieser Ansatz beruht auf einer interdisziplinären, institutionalistischen und induktiven Wirtschaftswissenschaft, die sich der Methoden der Sozialwissenschaften bedient. 

In Kapitel 7 und 8 wird gezeigt, wie die beiden Reformansätze – umfassende Liberalisierung und Marktöffnung von den Rändern her – in der Debatte aufeinander trafen und China der Schocktherapie entkam. 1986 ließ sich Premier Zhao Ziyang von gradualistischen Reformökonomen, die die Idee des „Big Bang“ widerlegten, davon überzeugen, seine Initiative für eine umfassende Liberalisierung zurückzuziehen. 1988 rief Deng Xiaoping persönlich zu einem „Big Bang“ auf. Doch seine Pläne wurden über den Haufen geworfen, als China im Sommer desselben Jahres zum ersten Mal seit den 1940er Jahren eine starke Inflation erlebte. Deng war bereit, die Marktwirtschaft in vollem Umfang voranzutreiben, aber nicht um den Preis, dass die Fähigkeit des Staates, die Kontrolle über Gesellschaft und Wirtschaft zu behalten, untergraben würde. 

So ist China der Schocktherapie 1988 ein zweites Mal entkommen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Marktreformen bereits zu einer raschen Zunahme der Ungleichheit und der Korruption geführt und das „goldene Zeitalter der Reformen“, in dem alle gleichermaßen zu profitieren schienen, klang langsam ab. Die Aussicht auf eine Schocktherapie hatte die Grundlagen der chinesischen Gesellschaft im Jahr 1988 erschüttert. Als 1989 die chinesische Bürgerrechtsbewegung auf dem Tian’anmen-Platz niedergeschlagen wurde kamen die Reformen dann vorübergehend zum Stillstand. Als China 1992 die Marktwirtschaft wieder in Gang brachte, war die Schocktherapie keineswegs vom Tisch. Im Gegenteil, in den 1990er Jahren errangen die Neoliberalen in China große Siege. Der Grundmodus der schrittweisen, experimentellen Marktöffnung war jedoch bereits in den 1980er Jahren festgelegt worden. Obwohl er in den folgenden Jahrzehnten neu verhandelt, in Frage gestellt und abgewandelt wurde, konnte er nicht zurückgedreht werden.

Literatur

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Dieser Beitrag wurde mit Genehmigung des Lizenzgebers durch PLSclear reproduziert. Übersetzung von Otmar Tibes.