Wozu noch Kulturkritik?
Die klassische Kulturkritik sei überholt, unwissenschaftlich und passe nicht mehr in die Gegenwart, heißt es oft. Doch was, fragt Peter Trawny, wenn sie die einzige Möglichkeit ist, das Totalwerden des herrschenden planetarischen Lebensstils zumindest philosophisch zu unterbinden?
Als Horkheimer und Adornos »Dialektik der Aufklärung« 1947 in Amsterdam erschien, waren die potentiellen deutschen Leser noch damit beschäftigt, die Trümmer ihrer ehemaligen Wohnstätten zusammenzusuchen und sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass man gerade das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen hatte. Erst als sich der Alltag wieder zu regeln begann, fand sich die Zeit, die filigranen Überlegungen zur abendländischen Geschichte der Rationalität zu studieren. In den sechziger Jahren wurden sie dann populär. In einem Nachwort zu einer Ausgabe aus der Mitte der achtziger Jahre bemerkt Habermas gewiss nicht wenig süffisant, dass sie »heute die pessimistischen Hintergrundgewißheiten von mehreren Studentengenerationen« prägen. 1 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas. S. Fischer Verlag: Frankfurt am Main 1986, 278.
Der Anfang des ersten Fragments, der sich dem »Begriff der Aufklärung« widmet, hatte es in sich 2 Ebd., 9. :
Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.
Die beiden Sätze hatten es in sich, nicht nur, weil sie suggerieren, eine schreckliche Erkenntnis zu präsentieren, sondern weil sie das in einem Stil taten, der sich im Folgenden des ganzen Buches und dann in der entstehenden BRD glänzend entfalten sollte. Adorno, den in der BRD und überhaupt noch kaum jemand kannte, trat in Erscheinung nicht nur als scharfsinniger Denker, sondern ebenso als einer an den atonalen Kompositionen Schönbergs, Bergs und Weberns geschulter Stilist. Man hätte es sogleich spüren können und wohl auch sollen, dass hier einer zu schreiben begann, der nicht sein halbes Leben in einer Hütte verbracht haben wollte. Das sollte noch große Erfolge feiern.
Als rhetorisch gewieft könnte man den zweiten Satz bezeichnen, der ein im Grunde positives Bild, nämlich das Strahlen als Eigenschaft des Lichtes und damit der Aufklärung, schier zweifach in ein Negatives wendet. Nicht nur, dass es als »Zeichen« des »Unheils«, nein, des »triumphalen Unheils« verstanden werden müsse, bezeugt, dass hier Autoren schreiben können wollten. Vermutlich erinnert das Strahlen der »aufgeklärten Erde« noch an die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki.
Die häufiger wiederholte Hauptthese des Buches: »Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie.«, 3 Ebd., 18. kam so dialektisch daher, dass der ganze Text nicht nur als eine brüske Abrechnung mit der zurückliegenden Katastrophe erschien, sondern sogleich eine Perspektive auf die gesamte Geschichte des Abendlandes aufriss, die ihn in eine Reihe der großen kulturkritischen Entwürfe stellte. Das klang klug. Und so stürzte man sich in die Fragmente, die performativ signalisierten: Mit der Kritik an der Aufklärung geht die am System einher. Habermas verweist des öfteren etwas verbittert auf Nietzsches Präsenz in der »Dialektik der Aufklärung«.
Peter Trawny
Das Kritisierte entzog sich der Kritik…
Mein Interesse an diesem Text bezieht sich nicht oder nur indirekt auf die Thesen, die die »Dialektik der Aufklärung« enthält. Bereits die genannte der Dialektik zwischen Mythos und Aufklärung ist so richtig wie falsch, will sagen, von einem Zugang bestimmt, der für jede reflektiertere Kulturkritik typisch ist. Es werden Einsichten präsentiert, die sich einer spekulativen, schlechtin vorausgesetzten Gesamtperspektive verdanken. Das kann plausibel sein, wird aber jeden Wissenschaftler — wie Habermas — skeptisch werden lassen. Einem Skeptiker aber bringt die »Dialektik der Aufklärung« nichts.
Es ist unübersehbar, dass die Philosophen und Philosophinnen des 20. Jahrhunderts allesamt darin übereinkamen, Europas kultureller Entwicklung, gelinde gesagt, kritisch zu begegnen. Heidegger, Wittgenstein, Horkheimer/Adorno, Sigmund Freud, Hannah Arendt, Georg Lukács, Herbert Marcuse, Carl Schmitt, Ernst Jünger, Leo Strauss — Autoren und Autorinnen, welcher politischen Herkunft auch immer, kamen darin überein, dass die Zeit der großen Philosophie und der großen Kunst, der großen Politik erst recht, vorbei war. Ohne die Differenzen zwischen diesen verschiedenen intellektuellen Projekten zu verwischen, bleibt deutlich, dass sie im Letzten aufs Gleiche hinausführten: die Herrschaft der abstrakten Vernunft führt zu in allen Bereichen verheerenden Resultaten.
So deutlich sich jeweils die einzelnen Positionen fassen ließen, so deutlich ist auch, dass sie keinerlei Konsequenz für die von ihnen jeweils aufs Korn genommenen Systeme der Philosophie, der Gesellschaft und der Kunst gezeitigt haben. Keine Philosophie-Professorin hat ihre Anstellung, kein Maler seinen Galeristen in Frage gestellt, weil sie Adornos Analyse der »Kulturindustrie« gelesen haben. Das, was in all jenen Texten beklagt und durchaus überzeugend dargestellt wurde, das Kritisierte, hat sich der Kritik entzogen. So sehr entzogen, dass heute kaum noch ein Philosoph oder eine Philosophin in diesem Bereich denkt. Die Kulturkritik scheint ihr Ende erreicht zu haben.
Das ruft nach einer Reflexion, die versucht, beide Seiten zu betrachten, die Kulturkritik und das von ihr Kritisierte. Nicht, dass das Horkheimer und Adorno notwendigerweise schon selbst taten, es muss aber genauso notwendig versucht werden, zu zeigen, woher die Immunität stammt, die jegliche Kulturkritik scheinbar zu einem Glasperlenspiel für jene pessimistischen Studenten und Studentinnen werden lässt, über die Habermas sich in jenem Nachwort subtil lustig macht.
Schließlich darf die Frage gestellt werden, ob wir auf Kulturkritik wirklich verzichten können, selbst wenn diese an der Realität und ihrer intrinsischen Banalität nur abprallen kann. Zu fragen, wozu noch Kulturkritik? suggeriert, dass es eine historische Entwicklung gibt, die sich auf den Status der Kulturkritik auszuwirken vermag, während es offenbar ist, dass in dieser Frage die wozu überhaupt Kulturkritik? mit angelegt ist. Ob so gefragt werden kann, ohne nun selbst auf die seltsame Immunität der Kultur gegen Kritik kritisch einzugehen, wird sich zeigen.
…und die Empirie löste die Philosophie ab
Jede Kulturkritik als Moment einer spezifischen Philosophie verfährt spekulativ, will sagen, sich im Absoluten (oder im Sein) spiegelnd, nicht empirisch. Seit Rousseaus Attacken auf die Pariser Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, wenn nicht seit Platons Unzufriedenheit mit dem Athen seiner Zeit, verfährt Kulturkritik auf die eine oder andere Weise normativ. Anders kann Kritik nicht motiviert werden. Selbst wenn das normative Kriterium wie bei Heidegger scheinbar die Sache selbst sein soll — die »Wahrheit des Seins« ist das »Ereignis« —, muss die Sicht auf eine bestimmte Zeit, auf eine bestimmte Welt oder Gesellschaft irgendwo sich festmachen. Ohne diese Festigkeit oder ohne diesen Halt bleibt Urteilen bwz. Kritisieren unmöglich.
Diesen Halt nimmt die Kulturkritik jedoch nicht im Kritisierten, sondern bei einem Ausgangspunkt, der im philosophischen Fundament eines jeweiligen Denkens zu suchen ist. Horkheimer hat dieses Fundament gewiss in einem spezifischen Marxismus gefunden, Adorno vermutlich in einer von Benjamin kommenden säkularisierten Wahrheitsfiguration, die er zum Beispiel in der Musik Gustav Mahlers am Werke sah. Dass beide Kriterien nicht weit entfernt waren und sind, ermöglichte wahrscheinlich die Zusammenarbeit der beiden mit.
Dass sich Kulturkritik jeweils auf ein implizites Kriterium jenseits des Kritisierten beruft und ihren Wahrheitsanspruch nicht empirisch zu beweisen versucht, wurde mit der Zeit ein Problem. Das schien Foucault erkannt zu haben, als er seine von Heidegger angestoßenen und mit Nietzsche verknüpften Macht-Analysen mit einem immensen historisch-soziologischen Apparat ausstattete, um sich bei Soziologen und Historikern Respekt zu verschaffen. Die Foucault-Leserin erstaunt noch heute über den Aufwand, den ihr Autor bewusst betreibt.
Was bei Horkheimer und Adorno, ganz anders als bei Heidegger, Arendt oder Wittgenstein, schon spürbar wird, verstärkte sich in der späteren Frankfurter Schule vor allem bei Habermas. Beide hatten in den USA die empirisch forschende Soziologie kennengelernt, Adorno hatte sie teilweise sogar Anfang der vierziger Jahre im Exil in den Studien zur Authoritarian Personality selbst angewendet. Horkheimer kannte den empirischen Anspruch, den Denken erheben kann, seit dem Anfang der dreißiger Jahre von seiner Arbeit am »Institut für Sozialforschung«. Habermas hat diese Tendenz weitergeführt, um schließlich den spekulativen Anteil des Denkens soweit zu reduzieren, dass er unkenntlich wurde.
Diese Tendenz hat sich aktuell insofern bestätigt, als die Philosophie ihr kulturkritisches Kapital für die Öffentlichkeit anscheinend an die Soziologie eines Andreas Reckwitz, 4 Vgl. aktuell Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp Verlag: Berlin 2024, pünktlich zur Frankfurter Buchmesse erschienen, damit dem Verlag nicht so ein großer Verlust entsteht. Hartmut Rosa oder Armin Nassehi verloren zu haben scheint. Wie auch immer diese Soziologen von philosophischen Ideen zehren mögen, ihr publizistischer Erfolg scheint darauf zu verweisen, dass man dem empirischen Anteil ihrer Untersuchungen ein Vertrauen schenkt, das man früher den spekulativen Philosophinnen zu geben bereit war.
Diesem Zusammenhang könnte man entnehmen, dass es im Verhältnis von Philosophen, Soziologen und vielleicht auch Historikern um einen Kompetenzenstreit geht. Wer wie zum Beispiel Hannah Arendt seit ihrem Anfang als Autorin in den »Elementen und Ursprüngen der totalen Herrschaft« über die moderne Gesellschaft schreibt, sollte sich mit fundiertem Wissen ausstatten. Fundiertes Wissen aber ist solches, das empirischen Untersuchungen entspringt. Sollte eine Autorin sich zu der Behauptung versteigen, die Menschen von heute würden keine Bücher mehr lesen, müsste man sich Verkaufsstatistiken besorgen. Alles andere wäre nicht ernstzunehmen. Dass dies die Philosophie disqualifiziert, die von Haus aus kein primäres Interesse an empirischen Kenntnissen, sondern eher an den nicht-empirischen Bedingungen ihrer Möglichkeit hat, dürfte der Fall sein. 5 Dieselbe Tendenz, die hier anlässlich der aktuellen Krise der Kulturkritik thematisiert werden kann, ist die, die Transzendental-Philopsophinen dazu treibt, irgendwann doch zur „Philosophy ofMind“ überzugehen.
Integration ins System
Für Habermas lässt sich folgender Einwand gegen die »Dialektik der Aufklärung« formulieren 6 Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung. A.a.O., 288. :
Seit Nietzsche ist es immer wieder dasselbe: Die radikale Vernunftkritik verfährt selbstbezüglich; die Kritik kann nicht zugleich radikal sein und die eigenen Maßstäbe unberührt lassen.
Die Aussage »Alles ist falsch« (wenn wir den Hinweis auf die Radikalität als Hinweis auf die implizite Totalität einer Aussage verstehen dürfen), muss notwendigerweise diese Aussage selbst mit in sich einbeziehen, womit sie sich widersprechen würde. Zudem wird nicht mehr deutlich, von welchem Standpunkt aus sie überhaupt gemacht werden kann. Genau eine solche Aussage machen Horkheimer und Adorno, wenn sie statuieren: »Aufklärung ist totalitär.« 7 Ebd., 12. Das bedeutet, dass noch diese Aussage selbst zum Totalitären der Aufklärung gehört und demnach ihrem kritischen Impuls, der ja einen Maßstab außerhalb des Kritisierten beanspruchen muss, selbst widerspricht.
Der performative Selbstwiderspruch der Kulturkritik wird überall deutlich, wo sich ein Philosoph oder eine Philosophin veranlasst sieht, über die Welt, die Gesellschaft, die Kunst oder die Kultur zu sprechen. Dann werden die eigenen Kriterien vom Kritisierten geschluckt, und die Aussage enthebt sich der Möglichkeit, Wahres zu treffen. Eine Philosophin, die über das Ende der Philosophie spricht, mag mindestens als inkonsequent erscheinen, wenn nicht schon der Sachverhalt, dass sie selbst philosophisch über dieses Ende redet, ihre Aussage widerlegt.
Dann ginge es darum, mehr zu differenzieren. Habermas hat diese Konsequenz aus seiner Auseinandersetzung mit Horkheimer und Adorno gezogen. Es gibt wohl keinen Text von ihm, der sich zu Total-Behauptungen hinreißen lässt. Davor hat ihn vermutlich von Anfang an eine größere Nähe zur Wissenschaft als solcher, das heißt vor ihrem intrinsischen Forschungsauftrag, behütet. Horkheimer und Adorno nahmen sich gleichsam vor ihm, diesem Auftrag, in Acht, wenn es heißt, dass die »Eliminierung der Qualitäten, ihre Umrechnung in Funktionen« »sich von der Wissenschaft vermöge der rationalisierten Arbeitsweise auf die Erfahrungswelt der Völker« übertrage und »sie tendenziell wieder der der Lurche« 8 Ebd., 43. anähnele. Habermas hätte darauf hingewiesen, dass nur ein Lurch solches hätte schreiben können und dürfen. 9 Der Aufruf zur Differenziertheit allerdings kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass er ganz im Geist dessen daher kommt, der sich der „radikalen“ Kulturkritik entziehen will. Differenziertheit ist ein Wert wissenschaftlicher Aussagen und Erkenntnisse, doch sie streift den Verdacht, zum ideologischen Bestand einer Forscherinnenkaste zu werden, die vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen — will. Man weicht dann aus, nimmt sich in Schutz, verleugnet eine etwaige Betroffenheit, verweist aufs Funktionieren selbst, das immer besser sei als ein Nicht-Funktionieren. Zuletzt: Welcher Philosoph ist dadurch aufgefallen, dass er vor allem differenzierte Erkenntnisse zu was auch immer geliefert hätte? Die Faszination der Philosophie ergibt sich aus beidem, der Arbeit an den Differenzen und dem Mut zur Indifferenz. — Heute, scheint mir, müsste man vor allem diesen Mut mehr belohnen.
In Bezug auf Horkheimer und Adornos Werk der »Dialektik der Aufklärung« enthält diese Habermas’sche Kritik allerdings noch einen anderen, nicht zu unterschätzenden Aspekt. Wenn Adorno Folgendes in seinem ihm eigenen Sound im Kapitel über die »Kulturindustrie« schreibt »Kultur ist eine paradoxe Ware. Sie steht so völlig unterm Tauschgesetz, daß sie nicht mehr getauscht wird; sie geht so blind im Gebrauch auf, daß man sie nicht mehr betrachten kann. Daher verschmilzt sie mit der Reklame.« 10 Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung. A.a.O., 170f. , dann betrifft das das Phänomen der Frankfurter Schule in vielerlei Hinsicht.
Ich hatte zu Beginn bereits auf den Stil des Buches aufmerksam gemacht. So kritisch sich Adorno später über den »Jargon der Eigentlichkeit« 11 Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1964. hermachen sollte, so unbezweifelbar ist es, dass Adornos Stil die Leserinnen und Leser seiner Zeit zu betören vermochte. Die Distinguiertheit und Fragilität eines Tones, der sich in der Auseinandersetzung mit radikalen Kunstwerken, sei es aus der Literatur oder der Musik, wohl nicht gebildet, aber bewährt hatte, vermittelt vielleicht wie kein anderer der Philosophie des 20. Jahrhunderts intellektuelle Sensibilität.
Die Sensibilität, die Adorno überall in seinem Werk als Eigenschaft des Denkens betont, hat er sich beinahe als Markenzeichen seiner Texte und nicht nur seiner Texte gleichsam patentieren lassen. Davon kann sich die Leserin insofern beeindruckt zeigen, als sie selbst sich zuletzt diese Sensibilität zusprechen kann, wenn sie meint, sie verstanden zu haben. Wer sich über die vermeintliche Dumpfheit eines »Jargons der Eigentlichkeit« belustigt, kann sich an der gebildeten Feinheit eines Adorno-Textes wie an seiner eigenen Emotion berauschen.
Das geht so weit, dass manch einer womöglich geglaubt hat, auch das von Adorno zurecht betonte Thema »Auschwitz« könne nur in seiner Sprache besprochen werden; eine Sprache, die nicht selten als Stilübung sich erweist. All das ist heute anders. Idiomatisches Schreiben jeder, natürlich auch Heidegger’scher Art ist nicht nur in der Philosophie, sondern anscheinend auch in der Literatur obsolet. — Man schreibt primär verständlich.
Das Markenzeichen der Adorno’schen Philosophie geht allerdings über die Texte hinaus und setzt sich in der sogenannten Suhrkamp-Kultur fort. Adorno war ein Bestsellerautor, seine »Minima Moralia« 12 Thedor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp: 1951. Die „Dialektik der Aufklärung“ erschien 1969, nachdem Raubdrucke der Querido-Ausgabe kursierten, bei S. Fischer. Adorno war seit den „Minima Moralia“ jecoch Suhrkamp-Autor. Warum S.Fischer die „Dialektik der Aufklärung“ erhielt, entzieht sich zur Zeit meinem Wissen. aus dem Jahr 1951 waren ungeheuer erfolgreich — was im Abstand von mehr als siebzig Jahren angesichts der Komplexität des Textes als erstaunlich erscheint. Diese Massenhaftigkeit des Adorno’schen Textes ist ohne den Suhrkamp-Verlag schwer zu denken. Der verlieh Adornos Büchern (bis in die edition suhrkamp vom Anfang der sechziger Jahre hinein) ihren Wiedererkennungswert. Dass das etwas mit „Reklame“ zu tun hat, ist offensichtlich. So wie Suhrkamp Reklame für Adorno machte, machte Adorno mit jedem Nachweis seiner expressiven Sensibilität Reklame für Suhrkamp.
Ob sich Adorno und Horkheimer dieses Problems ihrer Kulturkritik, sich in vielfacher Hinsicht selbst zu widersprechen, bewusst waren? 13 Horkheimer / Adorno: Dialektik der Aufklärung. A.a.O., 275: „Wenn die Rede heute an einen sich wenden kann, so sind es weder die sogenannten Massen, noch der Einzelne, der ohnmächtig ist, sondern eher ein eingebildeter Zeuge, dem wir es hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht.“ Das klingt so, als wüssten Horkheimer/Adorno um den prekären Stand der Kultzrkritik. „Eingebildeter Zeuge“ übrigens wohl von Horkheimer und Adorno „eingebildet“, also vielleicht nicht real. Habermas macht darauf aufmerksam, dass Horkheimer aufgrund seines marxistischen Denkrahmens diese »Aporie« 14 Ebd, 288. wahrzunehmen vermochte. Adorno habe in den Bereich der Kunst und Musik ausweichen können. Beides, der Marxismus sowie die Ästhetik, haben sich inzwischen ganz und gar in ihre Systeme integriert. Es scheint so, als gebe es keinen Grund, an der Kulturkritik festzuhalten.
Unverzichtbar oder obsolet?
Kulturkritik ist unwissenschaftlich und widerspricht sich selbst. Sollen wir deshalb Abschied von ihr nehmen? Haben uns jene Texte von Heidegger, Wittgenstein, Arendt, Adorno etc. nichts mehr zu sagen? Real jedenfalls scheint es zu sein, sich in den Funktionen der verschiedenen gesellschaftlichen Systeme einzufinden und zu fügen, sich seiner Ersetzbarkeit bewusst zu sein und ansonsten zu hoffen, im Privaten ein Glück zu finden, das man der Welt selbst schlechthin nicht mehr zutraut.
Damit wären wir bei dem Problem, welche Alternative es zur Kulturkritik gibt. Denn trotz ihrer Unwissenschaftlichkeit und ihres widersprüchlichen Charakters scheint die Alternative einzig und allein darin zu liegen, sich dem Kritisierten zu fügen, sich seinen Spielregeln zu beugen und wie in jeder totalisierten Konfiguration solcher Spielregeln zu versuchen, so gut es geht von ihnen zu profitieren. Das hat heute einen planetarischen Lebensstil hervorgebracht, den man jenseits und diesseits der ausgebrochenen Kriege pflegt.
Und doch bleibt fraglich, ob Habermas und alle, die wie er denken, recht hat und haben, dass es kein Außerhalb mehr gibt, von dem aus das Ganze als falsch betrachtet werden kann. Adorno hat am Ende seiner »Minima Moralia« in Walter Benjamins Erbschaft vom »Messianischen Licht« 15 Adorno: Minima Moralia. A.a.O., 334: „Perspektiven müssten hergestellt [naja, am besten noch „produziert“] werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messaianischen Lichte daliegen wird.“ gesprochen, das sich »einmal« über die Welt ergießen werde. Die Quelle dieses Lichts ist so bekannt wie unbekannt. Sie entzieht sich in ein uns zugleich Vertrautes und Fremdes. Von dort aus spricht jede Kulturkritik, ob sie es weiß oder nicht.