Das Doppelgesicht des Liberalismus

Man muss die Freiheit gegen den Autoritarismus verteidigen – so lautet die jahrhundertealte Selbsterzählung des Liberalismus, die auch aktuell wieder aktiviert wird. Verdeckt wird dadurch, dass dem Liberalismus selbst eine Affinität zu autoritären Modellen der Gesellschaftssteuerung eingeschrieben ist, wie Daniel-Pascal Zorn analysiert.

Die »Krise des Liberalismus« ist eine Modediagnose. Sie beschreibt die Gegenwart wie folgt: Populistisch-autoritäre Kräfte bedrohen in wachsender Zahl und Aggressivität das Ideal der »offenen Gesellschaft«. Wer sich als Liberaler versteht, ist in der Verantwortung, die Institutionen der freiheitlichen Welt zu verteidigen. Dieses Narrativ ist nicht falsch, aber es spart ein entscheidendes Moment aus: Die Gefahr einer autoritären Gesellschaftssteuerung tritt nicht von außen an den Liberalismus heran, sie ist dem politischen Liberalismus eingeschrieben. Wer die »Krise des Liberalismus« wirklich verstehen will, muss sich darum kritisch mit der Geschichte befassen, die der Liberalismus über sich selbst erzählt, genauer: mit ihren Auslassungen und blinden Flecken.

Wie alle anderen bürgerlichen Ideologien besitzt auch der Liberalismus ein Basisnarrativ, eine Grunderzählung. Diese Grunderzählung wird von einer Formel organisiert, auf die sich auch Nichtliberale einigen können: »Für die Freiheit, gegen die Unterdrückung!« Ob Liberale, Konservative, Rechte oder Linke: alle wollen Freiheitskämpfer sein, keiner will auf der Seite der Unterdrücker stehen. Um sich von den anderen Ideologien abzugrenzen, hat aber einzig der Liberalismus seine Grunderzählung historisch maximal ausgedehnt. Sie geht in allen Varianten ungefähr so: 

Im Zeitalter nach dem Mittelalter haben sich einige Intellektuelle und Philosophen von der drückenden Autorität der Kirche befreit – »gegen die Unterdrückung!« – und entdeckt, dass der Mensch ein Wesen aus eigenem Recht und Wert ist. Ob bei mittelalterlichen Vorläufern oder in der frühen Neuzeit, die bereits den Fortschritt im Namen trägt: das Individuum ist gefunden und mit ihm der Gedanke der Freiheit und der Gleichheit des Menschen.

Die Philosophin Elif Özmen nennt diesen Dreischritt das »trio liberale«, dessen Begriffe miteinander verschränkt und komplementär sind: Wenn alle Individuen sind, sind sie gleichermaßen Individuen und jedes Individuum hat seinen eigenen Freiheitsbereich, in dem es sich ungehindert entfalten können muss. Mit der Entdeckung des »trio liberale«, so die liberalistische Erzählung weiter, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die inhärente Vernunft dieser drei Begriffe Individuum, Freiheit und Gleichheit durchsetzt: Die Idee des Guten kämpft sich durch die Geschichte, gegen Rückfälle in religiöse Repression, gegen den absolutistischen Herrscherstaat und sein Ancien Regime, gegen den antiquierten Feudalismus der Scholle, den der Adel bevorzugt – bis sie sich schließlich in den bürgerlichen Revolutionen, in den USA und in Frankreich, politisch Bahn bricht. Die Botschaft: Das Gute siegt am Ende immer.  

Daniel-Pascal Zorn

Daniel-Pascal Zorn ist promovierter Philosoph, Historiker und Literaturwissenschaftler. Er ist Autor beim Klett-Cotta-Verlag. Dort erschienen sind »Logik für Demokraten«, »mit Rechten reden« und »Das Geheimnis der Gewalt«. Im März 2022 ist sein Buch »Die Krise des Absoluten« erschienen.

Es dauert noch ein weiteres langes Jahrhundert, bis die Idee der politischen Freiheit als Liberalismus so richtig bei sich ankommt. Trotz Revolution sind die Widerstände nicht kleiner geworden: Die Arbeiter träumen von einem Kollektivismus, in dem sie den Ton angeben, König und Adel halten sich hartnäckig auf den Thronen, kollektivistische oder quasi-kollektivistische Diktatoren reißen die Macht an sich. Erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vollends mit dem Ende des Kalten Krieges siegt der Liberalismus und setzt sich gegen die alten und falschen Ideen durch. Die Freiheit, so die Moral der Geschichte, siegt am Ende immer.

Die Heldenreise der Freiheit

Sieht man bei dieser Erzählung des Liberalismus über den Liberalismus etwas genauer hin, dann fällt die Machart doch sehr ins Auge: Es handelt sich um eine Heldenreise, eine Odyssee, auf der die zentrale Idee der eigenen politischen Ideologie Hindernisse überwinden und Gegner besiegen muss.  

Weil die liberalistische Erzählung die Geschichte im Nachhinein erzählt, kann sie sich aussuchen, wen sie als zeitgenössischen Freiheitskämpfer präsentiert. Vor allem aber kann sie die Geschichte auf sich selbst zulaufen lassen: Der Liberalismus ist das Erbe aller Vorkämpfer für Freiheit in der Geschichte – und, im Umkehrschluss: diese Vorkämpfer haben im Grunde schon mehr oder weniger den gleichen Begriff von Freiheit im Sinn, den auch der heutige Liberalismus vertritt. Schließlich funktioniert eine Heldenreise nur dann, wenn der Held auf dem Weg sich selbst treu bleibt. Freilich, er darf sich entwickeln und dazulernen – und auch der Liberalismus gesteht sich selbst in aller Bescheidenheit zu, bestimmte Dinge erst mit der Zeit verstanden zu haben: Die liberalen Vordenker mögen wohl blinde Flecken in ihrem Denken gehabt haben. Aber im Großen und Ganzen – so die liberalistische Erzählung – haben wir es beim Liberalismus mit einer großen Erfolgsgeschichte zu tun: mit der  Durchsetzung der immer gleichen Idee der Freiheit gegen große Widerstände – und  ihrer Verwirklichung in der Gegenwart. 

Spätestens an dieser Stelle kann man skeptisch zurückfragen: Ist die versprochene Freiheit in der Gegenwart denn tatsächlich verwirklicht? Für alle Menschen oder nur für einige? Dient die Heldenreise des Liberalismus womöglich dazu, zwei Dinge miteinander zu versöhnen? Nämlich die Gewissheit, dass man sich alternativlos auf dem richtigen Weg befindet und die Einsicht, dass ein Weg noch kein Ziel ist, dass es also noch viel zu tun gibt? Solche Fragen stoßen auf die Struktur der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, die Reinhard Koselleck und Odo Marquard als säkularisierte, also verweltlichte Form der christlichen Heilserwartung beschreiben: Man ist auf sicherem Weg ins Paradies, das am Ende der Zeit steht, aber bis man dort angekommen ist, muss man weiter auf diesem sicheren Weg bleiben, weil eben das Ende der Zeit daran erkannt wird, dass keine Zeit mehr vergeht – und die Zeit eben immer noch vergeht.  

Die Geschichtsphilosophie vermittelt die Probleme, die sie selbst aufwirft: Die Heilserwartung wirft das Problem auf, wann denn nun genau das Heil verwirklicht wird; die Bereitschaft, auf einem vordefinierten Weg zu bleiben, wirft das Problem auf, warum man das tun soll. Die Heilserwartung antwortet auf die Bereitschaft, die Bereitschaft auf die Heilserwartung. Kritisiert man den Liberalismus, verweist er auf die Alternativen, die alle ins Verderben führen – kritisiert man, dass er immer noch nicht so verwirklicht ist, wie er es versprochen hat, verweist der Liberalismus negativ auf die Schwäche der Menschen oder positiv auf den Fortschritt eines halben Jahrtausends. Jetzt, da er abermals in die Krise geraten ist, reagiert er nach demselben Muster: Der Weg ist richtig, das Ziel noch nicht erreicht, die neuen Widerstände müssen aus dem Weg geräumt werden. Doch dieses Narrativ verbirgt etwas vor sich selbst. 

Eine Archäologie des Liberalismus 

Wer sich mit der tatsächlichen Geschichte des Liberalismus befassen will, muss sich zuallererst durch diese Geschichtsphilosophie arbeiten – ganz wie ein Archäologe durch die Sedimente, die sich auf den Überresten der Vorgeschichte abgelagert haben. Geht man von demjenigen idealistischen Selbstverständnis des Liberalismus aus, das er immer schon gehabt haben will, landet man etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts, nicht in der frühen Neuzeit. Der politische Liberalismus, der Freiheit mit Gleichheit und Emanzipation verknüpft, hat keinen einheitlichen Anfang. Man kann ihn vielleicht am frühesten, allerdings nur als Postulat, in den Vereinigten Staaten und ihrer Verfassungsdiskussion sehen. Dennoch dauert es noch bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, bis die Abschaffung der Sklaverei dieses Postulat glaubwürdig werden ließ. Noch einmal knapp hundert Jahre dauerte es, bis die Rassentrennung abgeschafft wurde.  

In England findet sich der politische Liberalismus etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Bewegung von liberalen Nachfolgegenerationen, die im Geist romantischer Philosophie die bereits erreichte Freiheit weiter ausweiten wollten. Diese Bewegung setzte sich allerdings politisch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch. In Frankreich, dem Land der großen europäischen Revolution, blieb die Spannung zwischen idealistischem Freiheits- und Gleichheitspostulat gar bis 1958 erhalten, dem Datum des Putsch d’Alger. In der vergleichsweise stabilen Dritten Republik von 1870 bis 1940 bestimmte vor allem der Gegensatz von Rechten und Linken und die Auseinandersetzung mit dem religiösen Erbe das Geschehen. Auch im Gaullismus kann von einem liberalistischen Durchbruch in Frankreich keine Rede sein.  

Im Deutschen Reich, in dem der Freiheitsbegriff zunächst mit dem Kampf gegen Napoleon verbunden wurde und wo die Industrialisierung erst mit Verspätung Fuß fasste, gab es eine kurze Phase, in der sogar die Unternehmer – und vor allem ihre, das gilt es fairerweise hinzuzufügen, politisch bewegten Söhne – die Lösung der sozialen Frage optimistisch mit knospenden Ideen eines politischen Liberalismus verbanden. Nach der Revolution 1848, als die Liberalen mit ihrem Angebot einer liberalen Verfassung an Kaiser Friedrich Wilhelm IV. gescheitert waren, verbündeten sie sich – entgegen ihres vorher geäußerten Liberalismus – mit dem autoritären Staat unter Bismarck.  

Als 1919, mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Sozialdemokraten die politische Oberhand gewannen und die Weimarer Republik ausriefen, war der deutsche Nationalliberalismus bereit, sich mit reaktionären Kräften ebenso zu verbünden wie mit völkischen Extremisten. Gemeinsam beseitigte man die Sozialdemokraten, indem man die gemeinsame Regierungsarbeit sabotierte – und wurde dann von den völkischen Extremisten überholt, die eigene Ideen für Deutschland hatten. Erst 1949 setzte sich in Deutschland ein politischer Liberalismus durch, der nicht mehr mit der autoritären Macht liebäugelte – auch wenn Nationalismus und Nationalsozialismus nicht nur in der CDU, sondern auch in der FDP fruchtbaren Boden fanden.  

Historisch gesehen ist der politische Liberalismus – je nachdem, wohin man schaut – noch keine 100 Jahre alt. Vor allem aber ist er nicht der erste Liberalismus, der sich politisch durchgesetzt hat. Die liberalistische Geschichtsphilosophie funktioniert wie viele Erzählungen, die sich Glaubwürdigkeit leihen, indem sie Fakten und Fiktion vermischen.

Vom Naturzustand zu einer Metaphysik des Marktes

Die Voraussetzung für den politischen Liberalismus war ein Wirtschaftsliberalismus, der – anders als sein politischer kleiner Bruder – ursprünglich keine politische Ideologie, sondern eine Regierungstechnik war. Dieser Wirtschaftsliberalismus hat seine Wurzeln tatsächlich in der frühen Neuzeit. Wo aber der heutige Liberalismus vorzugsweise englische Philosophen wie John Locke oder David Hume als Vordenker anführt, hatte der historische Wirtschaftsliberalismus seine Vordenker in Frankreich. Ironischerweise waren es gerade französische Materialisten wie Helvetius und Moralphilosophen wie François Quesnay, die dem alten scholastischen Begriff des ›Naturrechts‹ einen neuen Inhalt gaben.  

Helvetius argumentierte, dass sich eine Gesellschaft genauso nach Gesetzen verhalte wie die Natur – das Naturgesetz der Gesellschaft seien die Interessen der Einzelnen. Quesnay wiederum postulierte eine gesetzmäßige ökonomische Ordnung, die sich außerhalb staatlicher Intervention abspielt: Der Markt sei das Naturgesetz, das aller staatlichen Ordnung vorausgesetzt ist. Will ein Staat ökonomisch erfolgreich sein, darf er die Ökonomik nicht mehr als Kunst der Verwirklichung eines Teilinteresses sehen, das sich seinem Machtstreben unterwirft. Er muss sich vielmehr selbst der Ökonomik unterwerfen, die für ihn die Gesetze des Marktes deutet, denen er zu folgen hat, wenn er erfolgreich sein will.  

Die implizite naturrechtliche Anthropologie des Helvetius und die Marktmetaphysik der Physiokraten kombinieren das Naturrecht zu einem kreisförmigen Zusammenhang: der Markt dient der Gesellschaft und die Gesellschaft ordnet sich dem Gesetz des Marktes unter. Joseph Vogl formuliert diese zirkuläre Struktur als ›Jurisprudenz der Menschheit‹, als naturrechtliches Rechtssystem vor aller Staatlichkeit 1 Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2012, S.47

Der Markt exekutiert gleichsam ein Naturgesetz, und alle weiteren guten Gesetze und Einrichtungen haben sich daran zu bemessen, wie sie den Gehorsam gegen dieses Naturgesetz, also gegen die spontanen Wirtschaftsmechanismen gewährleisten können.

Die Pointe dieser naturrechtlichen Setzungen ist, dass der Naturzustand, der in der politischen Philosophie – bei Hobbes, Locke, Rousseau – eine Begründungsfigur des neuzeitlichen Staates ist, neu besetzt wird. Die politische Philosophie versteht den Staat und seine Gesellschaft gerade als Verabschiedung des Naturzustands und als Begründung des Rechtsstaates im Gesellschaftsvertrag. Die ökonomische Ordnung, die als materialistische Metaphysik konzipiert wurde, verlangt dagegen vom Staat seine Angleichung an den Naturzustand, der als idealer Marktzustand und als Gesetzmäßigkeit der zweckrationalen, nutzenmaximierenden Interessen verstanden wird. Aus Sicht der neuen ökonomischen Ordnung ist ein Gesellschaftsvertrag immer defizitär, weil er den Naturzustand verlässt, zu dem die materialistische Metaphysik dieser Ordnung zurückwill. So entsteht in der neuzeitlichen Staatstheorie ein fundamentaler Widerspruch 2 Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2012, S.47 :  

Eine zwangsläufige Konsequenz dieser marktförmigen Angleichung besteht nicht zuletzt darin, dass die […] Unterscheidung zwischen Zivilgesellschaft und Naturzustand hier keinen Sinn mehr macht. Der Markt löscht oder überspringt diese Demarkation und beseitigt die mit ihr verbundenen naturrechtlichen Aporien. Er unterläuft den Gesellschaftsvertrag und präsentiert sich als eine Art ziviler état de nature.

Im England des späten 17. und gesamten 18. Jahrhundert lässt sich die Austragung dieses Konflikts beobachten. Von der Auslagerung der ökonomischen Funktion in die »Bank of England« 1694 durch WilIiam III. über die Konflikte der englischen Herrscher mit der East India Trading Company bis zum technokratischen Utilitaristen und Sozialreformer Jeremy Bentham zieht sich die polemische Herausforderung des Staates durch die Vertreter des Marktes. Dabei geht es nicht unbedingt immer gegen die Regierung: Die neuen Wirtschaftsliberalen verbünden sich eine Zeit lang mit dem Königshaus gegen den Landadel, weil dessen Besitztümer und altertümliche Rechtsordnung Freizügigkeiten verhindert und Arbeitskräfte blockiert. Später suchen sie Allianzen mit dem jüngeren Adel, zu dem nun auch Unternehmer gehören, weil die königlichen Vorrechte und altertümliche Rechtsordnung keine Druckmittel gegenüber der Unterschicht erlauben.

Die gebrochene Wurzel 

Als der politische Liberalismus im 19. Jahrhundert seine Vorstellungen von Individuum, Freiheit und Gleichheit entwickelt, ist die Entwicklung des Wirtschaftsliberalismus schon anderthalb Jahrhunderte alt. Viele Staaten haben das Effizienzversprechen der Ökonomen längst zum Anlass genommen, ihre Regierungstechniken auf die neue Ordnung umzustellen. Eines der Hauptargumente des Wirtschaftsliberalismus ist seine Alternative zur internationalen Wirtschaftsordnung. Sie soll nicht mehr nach dem Vorbild der frühneuzeitlichen Kriegsordnung verstanden werden – ein eingehegter Krieg, der als Nullsummenspiel verstanden wird: gewinnt der eine, verliert der andere –, sondern als eine Ordnung des Win-Win: Alle können gewinnen, wenn sie sich nicht im Weg stehen, einfach indem sie Nachfrage und Angebot aneinander anpassen. Voraussetzung ist aber, dass Frieden herrscht. Wirtschaftsliberalismus und – taktischer – Pazifismus gehören deswegen zusammen. Der politische Liberalismus setzt den Wirtschaftsliberalismus als Bedingung seiner Möglichkeit voraus: erst im relativen Frieden und Wohlstand kann man sich erlauben, über Emanzipation nachzudenken.  

Der Liberalismus ist an der Wurzel gebrochen. Deswegen sind sich die beiden Brüder – der große Bruder Wirtschaftsliberalismus und der kleine Bruder politischer Liberalismus – nicht in jeder Hinsicht einig. Der politische Liberalismus hat eine Affinität zur Demokratie, ist er doch in einer Ordnung entstanden, die ihm Sicherheit gewährt und Möglichkeiten bietet. Er ist romantisch, idealistisch, hinsichtlich der sozialen Frage optimistisch. Er schaut nach Amerika und fühlt sich republikanisch, aber in einem freiheitlichen Sinn. In all seinem Humanismus ist er blind dafür, dass in seinem Fundament die Grundsätze seines großen Bruders eingelassen sind, die ihm – wie allen anderen – den Blick auf den tatsächlichen Umfang der Machtfülle des Liberalismus verstellen. Der politische Liberalismus findet sich so in einem Spiel der bürgerlichen Ideologien wieder, in dem de facto nur liberale Splittergruppen miteinander ringen, sich aber selbst und gegenseitig ›rechts‹, ›links‹, ›liberal‹ und ›konservativ‹ nennen, und so den großen politischen Streit um die Zukunft inszenieren.  

Der Wirtschaftsliberalismus musste sich seinen Zugang zur Macht erkämpfen, gegen die alte Ordnung, den alten Staat, den Adel, die Kirche – und die stets zu kontrollierende Masse der Arbeiter. Er hat eine Affinität zur autokratischen Herrschaft, zu Monarchen und Diktatoren, die das, was richtig ist – den Naturzustand, die natürliche Ordnung – auch gegen Widerstände durchsetzen. Seine Vorstellung einer idealen Gesellschaft ist nicht romantisch, sondern rational; Menschenrechte verlacht er als »Unsinn auf Stelzen« (Bentham) und der Gesellschaftsvertrag ist ihm als staatliche Einschränkung, Vereinnahmung, Fremdherrschaft der natürlichen Ordnung verdächtig. Seine Formel »Für die Freiheit, gegen die Fremdherrschaft!« richtet sich daher auch immer wieder gegen den Staat – umso mehr, als er sich als Regierungstechnik durchgesetzt hat. Der Staat ist Mittel zum Zweck – auch in der Rhetorik: mal soll er, maskiert als »gesellschaftliche Verantwortung«, den gestrauchelten Unternehmern aus der Patsche helfen, mal erscheint er als Monster, das den individualistischen Unternehmerheros in seinem Freiheitskampf behindert.  

Der Liberalismus ist, entgegen der Geschichte, die er von sich selbst erzählt, historisch beides: ein Idealist, der an die Demokratie glaubt, und ein Technokrat, der sich nach autoritärer Macht sehnt. Die Erzählung des Liberalismus macht verständlicherweise seine machthungrige und technokratische Erscheinungsweise unsichtbar – ein Held wird unglaubwürdig, wenn er zugleich als Bösewicht erscheint. Die Widersprüche des Liberalismus, die sich in Krisensituationen immer wieder austragen – wie zuletzt Samuel Moyn in »Liberalism against itself« für den Cold-War-Liberalism gezeigt hat –, liegen in seiner zueinander verschobenen Doppelkonstruktion begründet: als effiziente Regierungstechnik und säkulare Metaphysik des Marktes und des Menschen einerseits und als pseudophilosophischer Idealismus, der die Begriffe Freiheit, Gleichheit, Individuum und Demokratie immer offen genug auffasst, damit sich der technokratische, machtaffine Aspekt durchsetzen kann, andererseits.  

Der politische Liberalismus fungiert in dieser Hinsicht als Feigenblatt seines großen, autoritären Bruders. Er kann das vor allem deswegen so effizient tun, weil seine Anhänger oft genuin an die Ideale glauben, die der politische Liberalismus als Richtlinien aufstellt: Viele Liberale – im Sinne politisch-liberaler Parteigänger – sind aufrichtige Anhänger der Demokratie, Emanzipation und sozialen Gerechtigkeit. Aber mit solchen sozialliberalen Ideen lässt sich Herrschaft nur sehr begrenzt durchsetzen.

Was wir im Augenblick im sogenannten »Westen« erleben, stellt die Geschichtsphilosophie des politischen Liberalismus in Frage. Vielleicht, so muss man sich fragen, ist es immer schon der große Bruder gewesen, der den kleinen gewähren ließ – bis diesem schließlich die Luft ausging. Die autoritäre Wende des Liberalismus, die man gegenwärtig in den USA wie in Europa beobachten kann, wäre damit keine Frage irgendeines obskuren Extremismus oder Irrationalismus. Es wäre einfach die Wiederkehr einer Regierungstechnik, die rückgängig macht, was sie selbst ermöglicht hat, weil ihre Zwecke damit einfach nicht mehr erfüllt werden können.  

Die Heldenreise des politischen Liberalismus, in der er sich als mächtige historische Strömung vorstellt, wäre nichts weiter als ein kurzer Traum des älteren Liberalismus. Wie der Gesellschaftsvertrag, der angesichts des Naturzustands, an dem er zu messen ist, überflüssig wird.


Quintessenz: Der Liberalismus hat eine autoritäre Seite. Eine wahrhaft freiheitliche Politik setzt voraus, sich mit ihr auseinandersetzen. Der Liberalismus der Gegenwart vermeidet jedoch diese Arbeit. Er erzählt stattdessen die eigene Geschichte als Heldenreise der Freiheit. Dieses mächtige Narrativ ist nur die halbe Wahrheit: Die reale historische Voraussetzung für den demokratischen Liberalismus mit seinem Freiheitsversprechen für alle war eine wirtschaftsliberale Regierungstechnik, durchgesetzt von autoritären Regierungen. Dieser Wirtschaftsliberalismus und der demokratische Liberalismus haben in den letzten zwei Jahrhunderten nebeneinander bestanden. Oft war der demokratische Liberalismus nur ein schönes Feigenblatt für ihren großen wirtschaftsliberalen Bruder. Die gegenwärtige Krise des Liberalismus ist als Auseinandersetzung dieser ungleichen liberalen Geschwister zu verstehen. Die autoritäre Wende in den USA und in Europa markiert die Wiederkehr eines älteren, autoritären Liberalismus, der rückgängig zu machen scheint, was er selbst ermöglicht hat, weil der politische, demokratische Liberalismus seine Zwecke nicht mehr erfüllt.