Isaiah Berlin, Karl Popper, Judith Shklar – Archiv der Harvard University, Grafik P&Ö Blog 

Geschichtsphilosophie gegen sich selbst

Samuel Moyn zeichnet nach, wie die Cold War Liberals sich ihren eigenen Antikanon zurecht gezimmert haben. Dahinter steckt jedoch noch eine viel bedeutendere Operation: Eine geschichtsphilosophische Umdeutung der neuzeitlichen Geschichte, um alle möglichen politischen Alternativen zum Nachkriegsliberalismus unmöglich erscheinen zu lassen, wie Daniel-Pascal Zorn zeigt.

Die Kontrolle über ein Narrativ ist eine der ältesten rhetorischen Machttechniken. In Thukydides‘ Der Peloponnesische Krieg nutzen die Athener das Narrativ einer ewig streitbaren menschlichen Natur, um ihre Zwangsmaßnahmen gegen die Melier zu rechtfertigen. Platons Sokrates sieht sich im Menon mit sophistischen Argumenten konfrontiert, die ihn dazu zwingen, den titelgebenden Gesprächspartner auf dem Boden von dessen eigener Denkschule zu widerlegen. In der Rhetorik ist die Kontrolle über das Narrativ ein locus classicus. Das betrifft insbesondere die Rolle der – jüngeren – Geschichte als gemeinsam geteiltem Horizont: Der Streit der griechischen Rhetoriker Demosthenes und Aeschines, beide Teil einer gescheiterten Gesandtschaft, die mit dem makedonischen König Philipp II einen Friedensvertrag aushandeln sollte, dreht sich um die Bedingungen dieses Scheiterns. Wurde Aeschines von den Makedoniern bestochen, wie Demosthenes es erzählt? Oder ist der einflussreiche Partner des Demosthenes seinerseits käuflich und moralischer Verstöße schuldig, wie Aeschines seine Vergangenheit darlegt? Wer die Vergangenheit bestimmt, der bestimmt auch, wie mit ihr in der Gegenwart umgegangen wird.

Nicht jeder Kontext, der vereinnahmt wird, betrifft dabei nur politische Entscheidungen oder philosophische Dialoge. Je größer er gewählt wird, je etablierter das Narrativ ist, das ihn bestimmt, desto umfassender gestaltet sich auch der damit verbundene Machtanspruch. 

Die eschatologische Erzählung einer erlösungsbedürftigen Welt, in der man sich an bestimmte Regeln halten muss, damit am Ende aller Zeit die erwartete Erlösung auch eintreten kann, gehört zu den wirkmächtigsten Beispielen für die Kontrolle eines Narrativs. Ihre säkulare Version hat der Historiker Reinhart Koselleck in der Vereinnahmung der Geschichte gesehen, die am Vorabend der Französischen Revolution der absolutistischen Herrschaft mit nagender Kritik und moralischem Hoheitsanspruch schließlich den Garaus machte. Während die skeptische Operation der Kritik auf die Zersetzung von Ansprüchen zielt, sichert die dogmatische Operation der Moral eine Asymmetrie, in der die Untertanen dem Herrscher immer schon überlegen sind. Die narrative Operation der Vereinnahmung von Geschichte aber, die Koselleck als »Geschichtsphilosophie« adressiert, garantiert einen zeitlichen Horizont, in dem der Sieg der eigenen Seite immer schon stattgefunden haben wird. Der »undurchsichtige göttliche Heilsplan wird zum Geheimnis geschichtsphilosophischer Planer«, so Koselleck. Der Fortschritt ist auf der Seite der moralisch Höherstehenden, er setzt voraus, »dass die … Planung auch verwirklicht wird, wie umgekehrt die rationale und moralische Planung selber den Fortschritt der Geschichte bestimmt«. 1 Koselleck 1973, S. 111 In der Geschichtsphilosophie wird Geschichte teleologisch, ausgerichtet auf ein Ziel, dessen Linie als Pfeil stets dorthin gezogen ist, wo man selber steht.

Daniel-Pascal Zorn

Daniel-Pascal Zorn ist promovierter Philosoph, Historiker und Literaturwissenschaftler. Er lehrt und forscht in Wuppertal und ist Autor beim Klett-Cotta-Verlag. Dort erschienen sind »Logik für Demokraten«, »mit Rechten reden« und »Das Geheimnis der Gewalt«. Im März 2022 ist sein neues Buch »Die Krise des Absoluten« erschienen.

Das 19. Jahrhundert bestätigt diesen Befund mit mannigfaltigen Beispielen. Sobald man die bürgerliche politische Rhetorik als Ausdruck des nun gegnerlos gewordenen Spiels aus Kritik, Moral und Geschichtsaneignung versteht, wird deutlich, dass die modernen politischen Ausrichtungen – vom Sozialismus und Marxismus über den Liberalismus bis zum »Konservativismus« – das Ergebnis geschichtsphilosophischer Erzählungen sind. Ob das zum Utopia gewordene Paradies nun als klassenlose Gesellschaft, als kapitalistische Technokratie oder als nie gewesenes Idyll einer romantisch verklärten Vergangenheit entworfen wird: immer geht es um das Versprechen einer endgültigen Freiheit des Menschen am Ende der Zeit. Entsprechend weisen die extremistischeren Formen bürgerlicher Ideologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die gleiche Strategie auf. Sie alle versuchen, das Gesetz der Geschichte nicht nur interpretativ, sondern durch Manipulation ihrer Erforschung auf sich selbst abzustimmen. Es reicht ihnen nicht mehr, eine Deutung der Vergangenheit anzubieten, die den Sieg nur verspricht. Sie ändern die Vergangenheit selbst, durch Verbote und Fälschungen, um die Geschichte hinter ihrer ideologisch motivierten Geschichtsphilosophie verschwinden zu lassen. Notorisch findet man diese gewaltsame Aneignung von Geschichte in den typischen Beispielen für extreme bürgerliche Ideologie: Faschismus, Nationalsozialismus, Stalinismus.

Die Aporie des Liberalismus

Der Liberalismus, der diese extremen Spielarten zu seinen Hauptgegnern erklärt hat, gilt diesbezüglich als unverdächtig. Im 19. Jahrhundert inszeniert er sich, im Streit der bürgerlichen Ideologien, als Nachfolger der Aufklärung, der dezidiert wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Geschichte. Seine Zukunftsvorstellung ist progressiv, an einem Perfektibilismus orientiert, dessen Geschichtsphilosophie als Ziel die Befreiung des Menschen von den Ketten der irrationalen Lehren der Tradition und der Übergriffe staatlicher Einschränkungen vorsieht. Doch bis zum Ersten Weltkrieg bleibt der Freiheitsbegriff auf reflexive Weise inklusiv: Eine Doktrin der Freiheit muss auch die Freiheit einschließen, sie auf verschiedene Weisen verstehen und bestehende Gebrauchsweisen überschreiten zu können. 

Das erklärt, warum zu Beginn des 20. Jahrhunderts – und zum Beispiel von Thomas Nagel oder Panajotis Kondylis – auch die sozialprogressiven Bewegungen bis hin zum westlichen Sozialismus unter die liberalen Bewegungen gerechnet werden. Die politischen Extreme des beginnenden 20. Jahrhunderts, so Kondylis, sind gerade erfolgreich, weil sie zunächst als Extrempunkte des Liberalismus erscheinen können: als autoritäre Formen altliberaler Gesellschaftsvorstellungen von oben oder aber als sozialrevolutionäre Bewegungen von unten. Die einen fordern die Rückkehr zu einer Vergangenheit, die nie Gegenwart war, die anderen den paradoxen Zustand einer stehenden Revolution auf dem infinitesimalen, nie wirklich zum Ziel kommenden Weg in eine glorreiche Zukunft endlich verwirklichter Freiheit. 

Die Vielfalt des Liberalismus und die Herausforderung durch seine Extremformen führen allerdings in eine Aporie. Einerseits muss Freiheit, wenn sie konsequent gedacht wird, auch die Freiheit einschließen, dass man sie anders denken kann als der liberale Nachbar. Als politische Bewegung erbt der Liberalismus dabei die philosophischen Probleme, die mit dem Prinzip Freiheit einhergehen, ebenso wie die Mehrdeutigkeit des Freiheitsbegriffs, in dem sich Möglichkeit und Negation in einer anspruchsvollen Differenzlogik kreuzen. Wo Freiheit Abwesenheit von Zwang bedeutet, muss sie diese Differenzlogik stets mit dem Anspruch konsistenter Selbstanwendung adressieren. 

Andererseits droht genau dieser Rückfall in den Zwang. Die Selbstanwendung absoluter Freiheit, begrifflich festgehalten in Hegels Figur der »Furie des Verschwindens«, hebt jegliche Bestimmtheit auf, am Ende auch noch die Bestimmtheit derjenigen Position, die absolute Freiheit anstrebt. In diesem Widerspruch kreiselnd verfällt die Suche nach Freiheit zu einem trivialen Exzess einer Abwehr von Bestimmtheit, der freilich kein Begriff, keine Realität je entkommt. Es ist freilich möglich, diesen Widerspruch zu umarmen. Der Anspruch absoluter Freiheit spiegelt sich in jenem der absoluten Willkür, wie sie im Stalinismus als Ein-Mann-Autoritarismus verwirklicht wird. Wahrhaft unangreifbar ist nur der, der sich auch seinem engsten Kreis gegenüber nicht erwartbar verhält. Was heute revolutionär ist, kann morgen schon konterrevolutionär sein – absolute Willkür ist die absolute Freiheit, jede Regel zu brechen, wenn sie nur einem übergeordneten Wohl dient.

Liberale Geschichtsphilosophie und das Ende der Geschichte

In seinem Buch »Liberalism Against Itself« behandelt der US-Historiker Samuel Moyn eine Phase des Liberalismus, in dem der Konflikt zwischen seiner Vielfalt und seinen Extremformen eskaliert. Als politische Bewegung ist der Liberalismus, wie andere politische Bewegungen auch, auf idealisierende Selbstauslegungen angewiesen. Die ideengeschichtliche Einordnung und die politische Selbsteinordnung des Liberalismus unterscheiden sich aber in einem prägnanten Punkt: Wer Liberalismus politisch vertritt, will ihn auch verwirklicht sehen. Wer Liberalismus als Idee analysiert und historisiert, muss auch jene Voraussetzungen in den Blick nehmen, die aus politischer Sicht dringend ausgeblendet werden müssen, um Glaubwürdigkeit aufrechtzuerhalten. Moyn schreibt vordergründig eine Ideengeschichte des »Cold War Liberalism«, der sich von seiner früheren progressiven Form verabschiedet und sich in eine neue Gestalt der gedanklichen Austerität verpuppt. Aus dem Fackelträger der Aufklärung wird der Spartiat, der die Thermopylen verteidigt: Faschismus und Sozialismus sind, als das ganz Andere, das reine Negativ der eigenen Position. Diese ideologische Verschanzung bringt es mit sich, dass die Vielfalt des Liberalismus sofort in den Verdacht gerät, faschistische oder sozialistische Strömungen zu beherbergen. Die Austerität schlägt um in eine Selbstreinigung von allem, was nicht wirklich dem Streben nach Freiheit dient. Mithin sieht dieser Liberalismus seinen Feinden erstaunlich ähnlich. 

Moyn zeichnet die – durchaus selbst plurale – Geschichte des »Cold War Liberalism« über sechs Portraits von liberalen Intellektuellen: der Politikwissenschaftlerin Judith Shklar, mit deren früher Kritik des »Cold War Liberalism« das Buch reflektierend einsteigt, der Philosophen Isaiah Berlin und Karl Popper, der Historikerin Gertrude Himmelfarb (mit ihrem Ehemann Irving Kristol), der politischen Theoretikerin Hannah Arendt und des Schriftstellers Lionel Trilling. Aus einer Vorlesungsreihe hervorgegangen, behält Moyn auch im Buch den mäandernden Charakter seines Vortrags bei und eröffnet dabei dem Leser ein ganzes Netzwerk von ideengeschichtlichen und persönlichen Beziehungen, biographischen Anekdoten und Close Readings zentraler Texte. Der rote Faden des Buches, der »Liberalism Against Itself« richtet, geht dabei zunehmend verloren. Das ist schade, denn gerade die ersten Kapitel zu Shklar, Berlin und Popper machen mehr deutlich, als Moyn zeigen will: Der Liberalismus richtet sich nicht nur gegen sich selbst, reinterpretiert sich selbst und gibt sich einen neuen Kanon. Er beansprucht damit auch genau jene Kontrolle über das Narrativ »Liberalismus«, die er eigentlich nur dem politisch ganz Anderen zuschreibt. Deutlicher gesagt: Moyn dokumentiert, wie liberale Intellektuelle nach dem Zweiten Weltkrieg systematisch die Geschichte in Geschichtsphilosophie verwandeln. 

Es ist dabei das Ausmaß und die Konsequenz dieser liberalen Aneignung von Geschichte, der die Ausschaltung möglicher Gegner vorangeht, das Moyns Darstellung so bemerkenswert macht. Denn obwohl der »Cold War Liberalism« ideengeschichtlich bald vom eindeutigeren, wirtschaftlich geprägten Neoliberalismus abgelöst wird, übernimmt dieser große Teile der vom »Cold War Liberalism« neu geschaffenen Geschichtsphilosophie. Seine Aneignung der Geschichte ist damit der Hintergrund der heute als selbstverständlich vorausgesetzten Ideengeschichten und beschreibt damit, wie der Untertitel von Moyns Buch treffend formuliert, »the making of our times«. Anders aber als die bürgerlichen Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhunderts – inklusive des bürgerlichen Liberalismus dieser Zeit – ist diese Geschichtsphilosophie der 1950er Jahre durch eine entscheidende Besonderheit ausgezeichnet: Sie richtet sich gegen die Geschichte selbst. Die Geschichtsphilosophie des »Cold War Liberalism«, die zugleich die Geschichtsphilosophie des bis heute dominanten Liberalismus ist, erscheint als Geschichtsphilosophie, die alle Geschichte beendet

»Der Streit der Cold War Liberals dreht sich beständig um den inhärenten Widerspruch des Liberalismus, sich Geschichte anzueignen und die Geschichte zugleich von sich abzustoßen.« 

In seinem Buch »Das fragile Absolute« erzählt Slavoj Žižek die Geschichte der Kommunistischen Partei (KP) in Kambodscha. Gegründet 1951 als Teil der KP Indochinas, wurde sie am 30. September 1960 autonom, agierte aber bis 1977 im Verborgenen. Diese Schwierigkeit bewog den Historiker der KP Kambodscha, Keo Meas, zu einer Kompromisslösung: Er gab als Datum der Parteigründung den 30. September 1951 an – »das Jahr der Gründung des kambodschanischen Flügels der KP Indochinas und den Tag des Kongresses der autonomen KP Kambodschas des Jahres 1960.« 2 Zizek 2000, S. 31 Als die KP schließlich 1976 bereit war, sich auch offiziell von Vietnam zu lösen, passte das alte Datum nicht mehr – es hätte Fragen zur Abhängigkeit von Vietnam aufgeworfen. Also änderte man das Datum auf den 30. September 1960 und erklärte das erste, abweichende Datum als Ergebnis einer Verschwörung des Historikers Keo Meas: »Er habe das Kompromissdatum vorgeschlagen, um die Existenz einer parallelen kambodschanischen Untergrund-KP zu verschleiern, die von Vietnam kontrolliert worden sei und die Aufgabe gehabt habe, die wahre, authentische KP Kambodschas zu unterwandern.« 3 Zizek 2000, S. 32 Die Kontrolle des Narrativs geht hier so weit, dass nachträglich die Geschichte umgeschrieben wird, wenn sie nicht mehr zum Narrativ passt. 

Die liberale Umdeutung der Geschichte durch die »Cold War Liberals« kostet, soweit bekannt, keinem Historiker das Leben. Sie geht aber in einem anderen Aspekt einen entscheidenden Schritt weiter: Sie beansprucht nicht nur die absolute Kontrolle über die eigene Geschichte, sondern zugleich die Kontrolle über jeden Zugriff auf »Geschichte« überhaupt. Die »Cold War Liberals« erweitern einerseits den angeblichen Kanon liberaler Vordenker erheblich, von einer – realistischen – Datierung am Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts weit zurück bis in das 17. Jahrhundert. Andererseits nehmen sie die Geschichtsfixierung der sozialistischen und kommunistischen Geschichtsphilosophie zum Anlass, jeden alternativen oder philosophisch anspruchsvollen Zugriff auf Geschichte als irrationale oder ideologische Verblendung zu stigmatisieren. Die Philosophie – sie wird zur Hauptressource der Neuausrichtung der »Cold War Liberals« oder »Neoliberalen«, inszenieren diese sich doch als philosophisch versierte Denker:innen, die beanspruchen, in einem Atemzug mit den Philosophen der Tradition genannt zu werden. Der Streit der »Cold War Liberals«, den Moyn ausgehend von Judith Shklars früher Kritik an dieser Bewegung skizziert, er dreht sich beständig um den inhärenten Widerspruch des Liberalismus, sich Geschichte anzueignen und die Geschichte zugleich von sich abzustoßen. 

Diese Abstoßungsbewegung beschreibt Moyn, ohne es explizit zu sagen, mit strategischer Genauigkeit. Er überlässt es der frühen Judith Shklar, die Selbsterzählung des Liberalismus zu historisieren – freilich in einer weiteren liberalen Selbsterzählung, dennoch: als Kritik. Bereits der Liberalismus des 19. Jahrhunderts, so Shklar, infiziert sich mit restaurativen Tendenzen, die sich bald als Ausdruck eines »Konservativismus« verstehen. Im liberalen Kontext äußern sich diese Tendenzen zugleich als Ablehnung des Staates und der Demokratie, als gleichzeitig revolutionäre und konterrevolutionäre Bewegung – vor allem aber als Ablehnung von Perfektibilismus, Romantik und Aufklärung, alle drei Konstruktionen, die den älteren Liberalismus in dessen Erzählung hervorgebracht haben. Für Shklar ist es das Bündnis der Liberalen mit den Konservativen nach 1848, das dem Liberalismus eine feindliche Haltung zur Französischen Revolution und – mutatis mutandis – zu allen sich auf sie berufenden sozialrevolutionären Bewegungen einpflanzt. Dieser konservative Zug, so Shklar, vollendet sich schließlich im »Cold War Liberalism«, der sich als Notstandsliberalismus, als letztes Gefecht gegen überall lauernde Feinde der Freiheit versteht. 

Die Vordenker des »Cold War Liberalism« gehen in diesem Gefecht systematisch vor. So sind es vor allem Jacob Talmon und Isaiah Berlin, die sich um Ausschaltung der früheren liberalen Selbsterzählung bemühen. Talmons Polemiken gegen den »politischen Messianismus« Rousseaus liegen auf einer Linie mit einer breiteren – und konservativ bis rechtsextrem unterstützten – Bemühung, Rousseau und den Jakobinismus der Französischen Revolution zum Vorbild gegenwärtiger Extremismen zu erklären. Die Simplizität dieses ahistorischen Kurzschlusses illustriert der englische Philosoph Bertrand Russell: »Hitler is an outcome of Rousseau.«  4 Moyn 2023, S. 43

Überhaupt bekleckern sich Philosophen in diesem aktivistischen Streit um die richtige Geschichtsphilosophie nicht mit Ruhm. Bei Berlin zeigt Moyn auf, wie dieser Vordenker des frühen Liberalismus wie Benjamin Constant oder John Stuart Mill im Licht der eigenen Perspektive liest, um sie von romantischen Denkfiguren zu trennen. Berlins berühmte Zweiteilung des Freiheitsbegriffs erweist sich vor diesem Hintergrund als eine weitere theoriepolitische Intervention, um den skeptischen »negativen Freiheitsbegriff« vom perfektibilistischen »positiven Freiheitsbegriff« zu trennen. Indem Berlin einseitig Constants »negative Freiheit« betont und dessen romantisches Denken unterschlägt, wird die »positive Freiheit« zu einer Scheinfreiheit umgedeutet, die immer schon dogmatische Setzungen voraussetzt. 

»Die Geschichtsphilosophie des Liberalismus, sie ist eine Geschichtsphilosophie der Nicht-Geschichte, des Endes der Geschichte im Liberalismus.«

Während Berlin sich um die unliebsame eigene Tradition kümmert, setzt Karl R. Popper gleich zur Ausschaltung der kontinentalen philosophischen Tradition und der Geschichte selbst an. Zu seinem Antikanon gehören, ausgehend von Rousseau, die philosophischen Positionen von Hegel und Karl Marx. Mit platten Lektüren, die er aus Zitatsammlungen zusammenstoppelt, bastelt sich Popper ein Bild von Hegels und Marx‘ Geschichtsphilosophie: Sie sei der Glaube an eine historisch beschreibbare, aber als Naturgesetzmäßigkeit ablaufende soziale Evolution, aus der es kein Entrinnen gibt. Damit wird Hegel zu einem Abziehbild des Abziehbildes von Rousseau, das Talmon entwirft: ein Vordenker des Totalitären – eine Philosophie des »Absoluten«! –, ein antiliberaler Denker, dessen »Historismus« den liberalen Selbstentwurf bedroht. In der Breite dieser Verabschiedung jeglicher nichtliberalen Historisierung ist die Abschaffung der Geschichte als kritische Ressource impliziert, die sich bis heute zu einer Beliebigkeit im Umgang mit Geschichte ausgewachsen hat, die in eben jener ihresgleichen sucht. 

Mit der Ausschaltung der Geschichte beraubt sich der Liberalismus nicht nur einer kritischen Ressource, sondern untergräbt auch seine eigene Selbsthistorisierung. Das wird umso deutlicher, als der theoriepolitische Streit um den Sinn der Geschichte, so effektvoll er ideologisch ist, in der Sache deutlich als Aneignung erkennbar ist. Die »Cold War Liberals« betreiben keine Quellenkritik, sondern suchen sich das aus der Geschichte aus, was ihrem Selbst- oder aber ihrem Feindbild entspricht. Die Verknüpfungen der Ideengeschichte, die aus solchem Cherry-Picking entspringt, übersteigen selten das Niveau vager Formulierungen – das eine »führt zu« etwas anderem, das eine »beeinflusst« das andere. Es ist eine assoziative Pseudohistorie, die an die Stelle historischer Forschung gesetzt wird, um eigene ideologische Vorurteile zu bestätigen. Die Kritik der Geschichte wendet sich gegen die historische Kritik, die moralische Hoheit des Liberalismus gegen die Funktion der moralischen Hoheit als Dogmatismus bloß »positiver Freiheit«. Die Geschichtsphilosophie des Liberalismus, sie ist eine Geschichtsphilosophie der Nicht-Geschichte, des Endes der Geschichte im Liberalismus. 

Interessant ist schließlich, wo eine solche dreifach widersprüchliche Bewegung ankommt. Mit Gertrude Himmelfarb und Lionel Trilling unterstreicht Moyn zwei Konsequenzen aus der Selbstreinigung des Liberalismus. Sie verwirklichen sich als Duett eines dialektischen Widerspruchs, einmal als Dogmatismus eines Liberalismus sub specie aeternitatis, einmal als Skeptizismus, der nicht von ungefähr an Fatalismus und Nihilismus erinnert. Auch darin ähnelt der »Cold War Liberalism« dem »Konservativismus«. Himmelfarb findet ihr liberales Gleichgewicht in den Texten des katholischen Historikers Lord Acton, in denen der Historiker das moralische Gewissen der Menschheit verkörpert, er vertritt einen »absolute and universal moral code with clear, certain and unchallenged principles« 5 Moyn 2023, 94 , in einer augustinischen Vision einer »new eschatology in which the plan of divine salvation would be identical with the history of human freedom’« 6 Moyn 2023, S.97 . Komplementär dazu erscheint das durch die Lektüre Freuds geprägte, skeptische Menschenbild Lionel Trillings, das sich den Liberalismus geradezu als Pastoralmacht vorstellt: Die nie einholbare Triebebene des Menschen verpflichtet ihn auf eine ständige Disziplin der Selbstkontrolle, um sich seine Freiheit gegen seine Natur erhalten zu können. Diese Selbstkontrolle äußert sich als dezidierte Antigeschichte: »History, as we now understand it«, schreibt Trilling in The Liberal Imagination (1950), »envisions its own extinction … We yearn to elect a way of life which shall be satisfactory once and for all, time without end …« 7 Moyn 2023, S. 159

Am Ende bleibt jedoch die Frage offen, die Moyns Buch dem Leser stellt: Hat, wie Shklar behauptet, die Selbstaushöhlung des Liberalismus zu allseitig offenen Flanken geführt, an die reaktionäre und konservative Strömungen angedockt haben? Moyn, der weiterhin den perfektibilistischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts als Alternative vertritt, die es zu aktualisieren gelte, scheint sich seiner Erzählung sicher zu sein. Oder sind die inhärenten Widersprüche des Liberalismus nicht auf seine tatsächlichen historischen Wurzeln zurückzuführen, auf eine polemische Selbstfindung in Abgrenzung vom absolutistischen Staat und auf die notorische Vieldeutigkeit des Freiheitsbegriffs? Sicher ist, dass den Selbsterzählungen des Liberalismus grundsätzlich zu misstrauen ist, auch und gerade denen, die von erklärtermaßen liberalen Philosoph:innen vertreten werden. Aufklärung kann nur der Rückgriff auf diejenige Ressource schaffen, derer sich der »Cold War Liberalism« als erster entledigt hat: der Geschichtsschreibung als geduldiger Analyse der Quellen. 

Literatur

Koselleck, Reinhart (1972): Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Moyn, Samuel (2023): Liberalism Against Itself. Cold War Intellectuals and the Making of Our Times. Yale University Press.
Zizek, Slavoj (2000): Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen. Berlin: Volk und Welt Verlag.