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Das Erfolgsrezept eines kalten Liberalismus

Samuel Moyn wirft dem Liberalismus des Kalten Krieges vor, seine Ideale und Utopien einer anspruchslosen und pragmatischen politischen Theorie geopfert zu haben. Aber war er nicht deswegen so erfolgreich? Und kann es in einer pluralistischen Gesellschaft überhaupt einen anderen gelingenden Liberalismus geben?

»Cold War liberalism was a catastrophe – for liberalism.« Mit diesem Satz beginnt Samuel Moyn und brilliert damit auf beneidenswerter stilistischer Höhe: Schlechte Anfangssätze sind nichtssagend, gute Anfangssätze deuten eine Geschichte an und exzellente Anfangssätze sind bereits die Geschichte selbst. Souverän fügt Moyn seine Helden (GWF Hegel), tragische (Anti)helden (Judith Shklar) und Bösewichte (Isaiah Berlin, Karl Popper und Getrude Himmelfarb) in diese Erzählung ein, die davon handelt, was Liberalismus mal gewesen ist und vielleicht wieder werden könnte, wenn die liberale Denkschule ihre Sünden aus dem Kalten Krieg ablegen würde. Es ist kein Buch, das auf einen konstruktiven Dialog aus ist, Argumente auf- und abwägt oder Einwände antizipiert und entkräftet. Dies ist eine Erzählung, die nicht nach links und rechts schaut, sondern von A nach B will. Eine solche Herangehensweise kann Klarheit und Stringenz schaffen, was hier durchaus gelungen ist. Allerdings geht dies auf Kosten der intellektuellen Sorgfalt. In diesem Beitrag möchte ich mich einerseits mit zwei Hauptaussagen Moyns auseinandersetzen, deren Plausibilität sich mir nicht erschlossen haben. Andererseits möchte ich Moyn zumindest in einem Punkt entgegenkommen: Der Liberalismus braucht neue Impulse, aber es sind nicht nur die Impulse, an die Moyn denkt. 

Doch zunächst zu Moyns Haupthesen: Erstens habe sich der Liberalismus des Kalten Krieges von sinnstiftenden Fortschrittserzählungen gänzlich verabschiedet. Und zweitens, sei dieser durch seine Absage an perfektionistische Inhalte für die Subjekte liberaler Demokratien zu einer Ideologie ohne Inhalt geworden. Das soll heißen, der Liberalismus habe sich von konkreten Konzepten des guten Lebens und der Selbstverwirklichung verabschiedet. Beide Kritiken eint die Kernaussage, dass hierdurch der motivationale Aspekt für die Bürgerinnen und Bürger auf der Strecke geblieben sei. Die Krise der liberalen Demokratie ist daher, folgt man Moyns Argumentation, zumindest teilweise auch auf die liberale Denkschule des Kalten Krieges zurückzuführen.

Meine beiden Kritikpunkte an Moyn lassen sich ebenfalls auf einen zentralen Punkt zurückführen: In seiner Darstellung des Cold War Liberalismus hat der Autor zwar völlig recht, dass dieser Liberalismus sich von jeder Form des Perfektionismus verabschiedet hat, aber der daraus resultierende Pluralismus der Lebensentwürfe und Überzeugungen wird in Moyns ideengeschichtlicher Rekapitulation nicht entsprechend gewürdigt. Statt als Katastrophe sollte der Cold War Liberalismus als adäquate Antwort auf eine spezifische gesellschaftliche Entwicklung verstanden werden: Die multiethnische, multireligiöse, areligiöse Demokratie mit ihren vielfältigen teilweise auch einander widersprechenden Anschauungen. 

Mounir Zahran

Mounir Zahran ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Theorie und Philosophie des Otto-Suhr-Instituts. Er promoviert derzeit an der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin zur Rolle institutioneller Erwartungen in liberalen Demokratien.

Leerstellen in Moyns Popper-Lektüre

Nun zu Moyns erster Behauptung: Moyns harsche Kritik, der Liberalismus des Kalten Krieges habe dem Westen keine motivierende Zukunftserzählung bieten können, bleibt selbst dann wenig nachvollziehbar, wenn man sich nur auf Moyns ‚Hauptbösewicht‘ Karl Popper konzentriert. 

Folgendes Verbrechen wird Popper vorgeworfen: »the liquidation of its [liberalism] Hegelian and historicist legacy.« 1 Moyn 2023: 68  Seit Popper habe man innerhalb der liberalen Denkschule Historizismus nur noch als ein »scientistic credo«, 2 Moyn 2023: 68 das staatlichen Terror als etwas Unvermeidliches rechtfertigte, angesehen: »But his flat declaration that “history has no meaning” left no resources for considering whether it actually might have such a meaning outside the scientistic and systemic attempt to provide one that Popper stigmatized.«  3 Moyn 2023: 73 Hat Moyn hier Recht? Und wenn ja, wie kommt es, dass Liberale wie Richard Rorty, der sich ebenfalls in der Tradition des Cold War Liberalismus sieht und auch mit Popper sympathisiert, mit seiner liberalen Utopie selbst ein Fortschrittsnarrativ anbieten?

Moyn wird in seiner Auslegung Popper ebenso wenig gerecht, wie Popper in seiner Interpretation Hegels. Indem er Popper als einen schwachen Gegner konstruiert, macht er es sich leicht. Denn Popper arbeitet in seiner politischen Theorie sehr wohl mit Fortschrittsnarrativen. Popper ging es in seiner Theorie vor allem darum, die Geschichtsphilosophie von ihren Pfadabhängigkeiten zu befreien. Erlebt wird dieser Prozess vom Individuum als Sicherheitsverlust: »Von Feinden umgeben und von gefährlichen oder sogar bösartigen magischen Kräften, erleben sie die Stammesgemeinschaft, wie ein Kind seine Familie und sein Zuhause erlebt, in dem es seine wohlbestimmte Rolle einnimmt; eine Rolle, die es gut kennt und gut spielt.« 4 Popper 2003a: 211  

Diese soziale Sicherheit, die der Bürger in der geschlossenen Gesellschaft erfahren habe, sei im Übergang zur offenen Gesellschaft verschwunden. An ihre Stelle tritt der Klassenkampf um sozialen Aufstieg und die Prämisse, vernünftig zu handeln, d.h. das eigene Handeln zu hinterfragen und letztlich zu verantworten. Das ist Poppers kritischer Rationalismus im politischen Kontext. Ein emanzipatorischer Prozess, den er als die Last der Zivilisation beschreibt. Und diese Lücke, die das Verschwinden der Sicherheit hinterlassen habe, müsse nun gefüllt werden.

Der Verlust, der in der geschlossenen Gesellschaft erlebten Sicherheit, »ist der Preis für die Humanität«. 5 Popper 2003a: 211 Aber gerade diese Humanität begünstigt nach Popper eine bestimmte Interpretation der Geschichte. Popper sagt also ganz klar, dass die Bürgerinnen und Bürger der Geschichte Ziele vorgeben müssen. Eine Geschichte, die sich für die »Herrschaft der Vernunft, für Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und für die Kontrolle des internationalen Verbrechens« ausspreche. 6 Popper 2003b: 326 Es ist keine Geschichte, die erzähle, dass es so kommen müsse. Das einzige, was diese Geschichte vermitteln könne, sei Hoffnung: »Es ist wahr – wir brauchen Hoffnung; ohne Hoffnung zu handeln oder zu leben übersteigt unsere Kraft. Aber wir brauchen nicht mehr; und man darf nicht mehr versprechen. Wir brauchen keine Gewissheit.« 7 Popper 2003b: 327-328

Wenn Moyn also Sätze schreibt wie: »Contrary to Tocquevilles’ call for a visionary liberalism, Cold War liberalism required foreclosing the future.« 8 Moyn 2023: 84 und andere Sätze wie: »No liberalism has thrived for long without being emancipatory and futuristic too.«,  9 Moyn 2023: 86 dann übersieht er den visionären Input, den auch – zugegebenermaßen – weniger aufregende Denker wie Popper bieten können. Zumal, wie erwähnt, andere Denker des Cold War Liberalismus wie Rorty in ihren Werken die Zukunftserzählung eines utopischen Liberalismus entfaltet haben. Hinzu kommt, dass auch Immanuel Kant, dessen Fortschrittsnarrativ Moyn in seinem Buch als idealtypisch lobt, kein so vorbehaltloses Fortschrittsnarrativ vorgelegt hat. Auch bei Kant müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit Fortschritt überhaupt möglich ist. Selbes gilt für alle anderen Denker der Aufklärung.

Moyn kann natürlich immer noch einwenden, dass Poppers emanzipatorischer Fortschrittsgedanke doch nicht so verheißungsvoll klingt wie der Hegels. Und er könnte auch einwenden, dass Popper mit seiner Hegel-Lektüre sozusagen einen Lesestopp für Hegel innerhalb der liberalen Denkschule verhängt hat. Aber kann es nicht sein, dass hier Poppers Einfluss stark überschätzt wird? Zu welchem Zeitpunkt war Popper jemals eine anerkannte Hegelautorität? War es nicht eher so, dass Poppers Hegelinterpretation von Anfang an umstritten war? So stellte Walter Kaufmann schon 1956 fest, dass Poppers Hegelexposition mehr Missverständnisse über Hegel enthalte, »als man je zuvor auf so schmalem Raum beisammen gesehen hat«. 10 Kaufmann 1956: 192

Ist es nicht wahrscheinlicher, dass Hegel einfach an Attraktivität verloren hat und jetzt, wenn man sich die Neuerscheinungen ansieht, die Hegel als liberalen Denker wiederentdecken, wieder an Attraktivität gewinnt? Gibt es in der Philosophie nicht genauso wie in der Kleidungsmode Trends? Trends, die plötzlich auftauchen und ebenso plötzlich wieder verschwinden? 

Die voraussetzungslose Voraussetzungslosigkeit des Cold War Liberalismus

Nun zu meinem zweiten Kritikpunkt: Moyn ist der Auffassung, dass die Abkehr des Cold War Liberalismus vom Perfektionismus als Fehler anzusehen sei. Diese Abkehr bringt Moyn kurz mit John Rawls in Verbindung: »Crucially, Rawls ended up rejecting an account of the highest life in favor of a liberalism that prioritized coexistence and toleration.«  11 Moyn 2023: 40 Seltsamerweise wird Rawls im ganzen Buch nur zweimal erwähnt. Dies mag verwundern, da Rawls für das Verständnis der Entwicklung des Liberalismus der letzten 50 Jahre unverzichtbar ist. Meines Erachtens geschah dies nicht aus Unachtsamkeit oder Unterschätzung, sondern mit Absicht. Eine angemessene Berücksichtigung von Rawls hätte die Argumentation von Moyn erschwert. Mit anderen Worten: Hier drängt sich der Verdacht auf, dass Moyn eine Art Cherry-Picking betrieben hat. Es werden genau jene Denkerinnen und Denker erwähnt, die Moyns Narrativ zuträglich sind. Widersprechen sie dem Narrativ, werden sie eigenwillig interpretiert oder schlicht ignoriert, wie Jan-Werner Müller kürzlich bemerkt hat. Die ideengeschichtliche Zuordnung der Theoretikerinnen Hannah Arendt und Getrude Himmelfarb in die liberale Denkschule, die Auslassung eines anderen Cold War Liberalen, Raymond Aron, der nicht in Moyns Narrativ reingepasst hätte und sein »quasi-empirical claim«, dass Cold War Liberalismus und die Aushöhlung des Wohlfahrtstaates im Zusammenhang stehen würden, sind nicht nachvollziehbar. Letzteres, so Müller, ist umso erstaunlicher angesichts des Jahres 1971: »After all, that was the year […] John Rawls published his magnum opus, A Theory of Justice, which offered a defense of the supposedly undefended welfare state.«

Aber das soll nicht mein Hauptkritikpunkt sein. Moyn argumentiert, dass der Liberalismus nach dem Zweiten Weltkrieg als Antwort auf den Realsozialismus quasi aus dem Ärmel geschüttelt wurde und insbesondere der Legitimation marktwirtschaftlicher Interessen diente. Eine solche Sichtweise ist natürlich nicht falsch – der Liberalismus öffnete sich natürlich auch dem Neoliberalismus, wie Moyn richtig anmerkt. Trotzdem übersieht Moyn hier etwas Grundlegendes. Wenn Moyn Rawls für seinen politisch entleerten Liberalismus kritisiert und diesen dann in einem recht kurzen Absatz abhandelt, dann unterschätzt er, wie voraussetzungsvoll diese vermeintliche Leere für eine multiethnische, multireligiöse sowie areligiöse Gesellschaft ist. Der Liberalismus des Kalten Krieges, so flach und intellektuell unterfordernd er manchen politischen Theoretikern erscheinen mag, bietet gerade wegen seiner Flachheit ein hohes Maß an Anschlussfähigkeit und Integrationsfähigkeit. Anschlussfähigkeit deshalb, weil sich ihm Menschen unterschiedlicher politischer Couleur zugehörig fühlen. 

Wie können Menschen unterschiedlicher Herkunft, Weltanschauung und Religion in einer Gesellschaft zusammenleben, die zugleich stabil und antiautoritär ist? Die Antwort liegt in der normativen Voraussetzungslosigkeit des Liberalismus des Kalten Krieges. Diese Voraussetzungslosigkeit ist zugegebenermaßen theoretisch selbst außerordentlich voraussetzungsreich: Die Ablehnung einer als deterministisch verstandenen Geschichtsphilosophie und der Vorrang der negativen vor der positiven Freiheit – was nicht als deren völliger Ausschluss zu verstehen ist – sind vieles, aber nicht voraussetzungslos. 

Wesentlich für das hier dargelegte Argument ist jedoch, dass diese Prämissen zu einer Voraussetzungslosigkeit der Lebensentwürfe führen; zu ihrer Pluralität. Diese Voraussetzungslosigkeit kann also im Sinne einer Anschlussfähigkeit interpretiert werden. Und zwar nicht nur in dem Sinne, dass sich dieser Liberalismus mit vielen Auffassungen als kompatibel erweist, sondern auch in dem Sinne, dass mit der Zeit auch zunächst inkompatible Auffassungen Anschlussfähigkeit entwickeln. Rawls ist hier vom Einflussfaktor liberal-demokratischer Institutionen überzeugt. Nicht nur in dem Sinne, dass sie im Verständnis kommunitaristischer Theorien einen politisch-kulturellen Einfluss auf die Ansichten der Bürgerinnen und Bürger haben. Sondern auch in dem Sinne, dass sie den adäquaten Rahmen bieten, in dem es für jede Bürgerin und jeden Bürger vernünftig erscheint, dieser Ordnung zuzustimmen. Vernünftig weil das Individuum seinen eigenen Vorteil darin sieht, so zu handeln, und auch erwarten kann, dass andere Individuen dies ebenso sehen. In dieser Form der sozialen Kooperation wird sozusagen Geschmack daran gefunden, dass Staat und Gesellschaft nicht bestimmte Lebensentwürfe vorgeben, sondern eine Pluralität von Lebensentwürfen zulassen: »In einer modernen demokratischen Gesellschaft wird die Existenz verschiedener Lebensweisen als Normalzustand angesehen, der sich nur durch den autokratischen Gebrauch der Staatsgewalt verändern ließe.« 12 Rawls 2021: 420  

Der Cold War Liberalismus war also mitnichten eine Katastrophe für den Liberalismus. Ganz im Gegenteil. Zutreffender wäre es ihn als Ermöglichungskonzept zu verstehen, in dem sich die Einwanderungsgesellschaften liberaler Demokratien überhaupt erst entwickeln konnten. Ein Novum in der europäischen Geschichte. Man könnte meinen, so wie sich der östliche Mittelmeerraum im Zuge der Vertreibung der Jüdinnen und Juden, des libanesischen Bürgerkrieges, des Irakkrieges und des syrischen Bürgerkrieges langsam aber sicher von seiner Jahrtausende alten Heterogenität verabschiedet, so seien die letzten 1500 Jahre Europas von gewaltsamen Homogenisierungsbewegungen geprägt gewesen: die Vernichtung heidnischer sächsischer und slawischer Stämme im frühen Mittelalter, die Vertreibung der Juden und Muslime aus Südspanien im Zuge der Reconquista, die bestialischen Religionskriege der Neuzeit und der Holocaust vor knapp 80 Jahren als unfassbarer Höhepunkt dieser Geschichte der Intoleranz. Die Tatsache, dass sich der Kulturraum, der sich selbst als Westen bezeichnet, nun zum ersten Mal in seiner Geschichte friedlich heterogenisiert, hat dazu geführt, dass sich der Liberalismus des Kalten Krieges noch lange nach dem Zusammenbruch von Faschismus und Realsozialismus bewähren konnte. Er wurde nach und nach als politiktheoretische Antwort auf eine spezifische gesellschaftliche Entwicklung verstanden.

Liberalismus und seine heutigen Leerstellen

Ist damit alles über Moyns Buch gesagt? Lässt sich das Fazit so formulieren, dass es sich um eine hervorragend geschriebene Erzählung handelt, die aber ohnehin nur Kritiker des heutigen Liberalismus überzeugen kann? An dieser Stelle aufzuhören, wäre ignorant. Denn Moyns Arbeit bietet trotz dessen einen augenscheinlichen Mehrwert. Augenscheinlich ist nämlich, dass der Liberalismus in einer Krise steckt. Derzeit und im Horizont werden Systeme sichtbar, die weder liberale Demokratien noch Autokratien sind. Aus begrifflicher Verlegenheit werden sie von der Politikwissenschaft der Öffentlichkeit noch als illiberale Demokratien vermittelt. Diese Begriffswahl ist ungewöhnlich. Sie werden illiberal genannt, weil sie Tendenzen zu nicht-liberalen Regierungsformen aufweisen. Sie werden also über ihren Mangel an Liberalität heraus definiert und nicht über ein spezifisches Merkmal. Diese negationsbetonende Bezeichnung verweist auf einen fundamentalen Bruch: Die beschworene Gleichursprünglichkeit von Liberalismus und Demokratie ist zwar in Teilen der Demokratietheorie nicht widerlegt, faktisch aber schon. Der Liberalismus bezog einen Teil seiner Systemplausibilität daraus, dass es ohne Liberalismus keine Demokratie geben kann. Und deshalb ist es klar, dass der Liberalismus, wie Moyn in seinem Buch immer wieder betont, neue Impulse braucht. Und die Leerstellen werden von Moyn auch richtig identifiziert.

Klarerweise reicht es eben nicht aus, nur zu sagen, dass wir gute Gründe haben, uns heute und in Zukunft nicht die Köpfe einzuschlagen. Die Klimakrise, die wachsende Ungleichheit und die für viele Migrantinnen und Migranten schmerzhaft spürbare, ja kaum mehr erträgliche Fremdenfeindlichkeit verlangen nach neuen Impulsen: »The results left blighted lives behind, as the oppressions of class, race, and gender made it increasingly unclear why this liberalism was worth defending.«  13 Moyn 2023: 175

Was müsste nun geschehen? »The task for liberals in our time is to imagine a form of liberalism that is altogether original.«  14 Moyn 2023: 176 Wäre aber eine Rückbesinnung auf die liberalen Traditionen des 19. Jahrhunderts, wie sie Moyn vorschlägt, wirklich so originell? Es würde sicherlich auch das bedeutende Problem der materiellen Ungleichheit adressieren, aber wären damit auch die anderen drängenden Probleme unserer Zeit gelöst? Ich glaube, dass die Probleme, die wir heute haben, auch nach Impulsen verlangen, die sich auf andere Bereiche erstrecken.

Und in diesem Punkt hat Moyn mit seiner Kritik am Liberalismus des Kalten Krieges auch Recht. Es werde viel über Fairness und Freiheit im eigenen Land geredet und viel Aufwand betrieben, um sich vom Autoritarismus im Ausland abzugrenzen. Aber wenig habe der Liberalismus zu den westlichen Interventionen und Einflussnahmen zu sagen: »They merely passed in silence over a world of decolonizing bids for freedom and brutal great power responses that made freedom seem to them beleaguered.«  15 Moyn 2023: 170 Moyn trifft hier einen wunden Punkt. Das liberale Vokabular blieb von den antikolonialen Befreiungskämpfen des 20. Jahrhunderts ebenso unberührt wie von den westlichen Interventionen im Kalten Krieg und den amerikanischen Interventionen im Kampf gegen den Terror. 

Während Liberale oft die richtigen Worte finden, wenn es um Angriffskriege geht, die von illiberalen Autokratien ausgehen, fehlt ihnen das Vokabular, um Ungerechtigkeiten, die von liberalen Demokratien ausgehen, angemessen im Rahmen ihrer Theorie moralisch zu verurteilen. Rorty mag den Irak-Krieg verurteilt haben, aber das geschah nicht aus seiner liberalen Theorie heraus, sondern unabhängig von ihr. Ähnliches gilt auch bei Rawls: »The primacy of domestic justice and the “natural duty” of social stability directed his political action toward fighting the unjust distribution of draft cards in the United States rather than the unjust distribution of napalm and Agent Orange in Southeast Asia.«, schreibt Olúfẹ́mi O. Táíwò in einem Essay und verweist hier auf Rawls’ selektives Gewissen. 

Dieses selektive Gewissen lässt sich auch auf dem Liberalismus im Allgemeinen übertragen. So sind Liberale in solchen Fragen überfordert: »No wonder Cold War liberals are once again being challenged by millennial and post-millennial generations concerned much less with enemies abroad than with economic inequality, endless war, and environmental disaster.«  16 Moyn 2023: 172 Und hier hat Moyn Recht, der Liberalismus wird seinen angestrebten Universalismus nicht erreichen, wenn er diese augenscheinliche Leerstelle nicht füllt.

Hier können die progressiven Theorien der Gegenwart, ähnlich wie damals die emanzipatorischen Theorien des 19. Jahrhunderts, nützliche Impulse geben. Die postkoloniale Denkschule hat im Gegensatz zur liberalen Theoriefamilie Antworten und Reflexionen auf die genannten Leerstellen. Vielleicht sind Postkolonialismus und Liberalismus keine absoluten Gegensätze? Vielleicht sind hier Inspirationen möglich, ohne dass der Liberalismus seine voraussetzungsvolle Voraussetzungslosigkeit unterminieren muss. Dazu müsste allerdings das große Misstrauen zwischen beiden Denkschulen überwunden werden, das in letzter Zeit eher zu- als abgenommen hat. Doch auch abseits der postkolonialen Denkschule wird es im nicht-westlichen Denken Möglichkeiten der Inspiration geben. Ich meine, dass im Falle eines ernsthaften Austausches die Erträge sowohl anregend als auch nützlich sein könnten. Nützlich in dem Sinne, dass der vom Liberalismus propagierte Pluralismus der Lebensentwürfe und Anschauungen über den Westen hinaus lagerübergreifend an Glaubwürdigkeit gewinnen kann. Durch adäquate Einbeziehung anderer politischer Denkweisen, die sich auf ihre Art und Weise auch als universalistisch idealisieren, wird der liberale Universalismus noch universeller. Die tatsächliche Universalisierung des Universalismus ist nichts Geringeres als das liberale Projekt schlechthin. Dabei ist es nicht zwingend notwendig, nur in andere Denkschulen hineinzuschauen. Es gibt auch nicht-westliche Varianten des Liberalismus. Es liegt im Wesen des Liberalismus, integrativer zu werden. Wieso sollte er das nicht noch einmal können?

Literatur

Moyn, Samuel. 2023. Liberalism Against Itself. Cold War Intellectuals And The Making Of Our Times. New Haven/London: Yale University Press.
Kaufmann, Walter. 1956. Hegel. Legende und Wirklichkeit, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd.10, S. 191-226.
Popper, Karl. 2003a. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I. Der Zauber Platons. 8. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck.
Popper, Karl. 2003b. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band II. Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen. 8. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck.
Rawls, John. 2021 . Politischer Liberalismus. 7. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Rorty, Richard. 2012. Kontingenz, Ironie und Solidarität. 10. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.