»Das Gespenst der Inflation« von Isabella M. Weber

Isabella M. Weber breitet die intellektuellen Grundlagen sowie ein beeindruckendes Diskurspanorama der chinesischen Reformdebatten aus, die sich von den späten 70er bis in die frühen 90er Jahren erstreckten und aus welchen eine spezifisch chinesische Form des Kapitalismus hervorging.

Am Ende der 1980er Jahren ächzte die Sowjetunion unter den massiven Krisen ihrer politischen Öffentlichkeit und zentralverwalteten Wirtschaft. Zwar versuchte Gorbatschow den Kontrollverlust mit den Reformbemühungen Glasnost („Transparenz“) und Perestroika („Umbau“) aufzufangen, allein: sie kamen viel zu spät. Die politischen Widerstände gingen bis zum Putschversuch, die politische Ökonomie des Landes konnte sich nicht zugleich dermaßen plötzlich und tiefgreifend neu ordnen. Schließlich waren die Fliehkräfte an der Peripherie des Warschauer Paktes zu groß. 

Im Jahr 1990, knapp ein Jahr vor dem endgültigen Zusammenbruch der UdSSR, veröffentlichte der britische Ökonom John Williamson seinen berühmten Aufsatz „What Washington Means by Policy Reform“ 1 John Williamson, „What Washington Means by Policy Reform“, in Latin American Adjustment: How Much Has Happened? (Institute for International Economics, 1990), 7–20. Online verfügbar: https://www.piie.com/commentary/speeches-papers/what-washington-means-policy-reform, 10.07.2023. , in dem er das policy-Paradigma Washingtons in den Schuldenkrisen Südamerikas der 1980er Jahre herausarbeitete. Gleichzeitig brachte Williamson den hegemonialen „Washington Consensus“ auf den Begriff. Der IWF, die Weltbank und das Treasury Department der USA setzten entsprechend dieses schon im eigenen backyard erprobten „Consensus“ in Osteuropa und Russland eine fundamentale Umwälzung ins Werk, die monetaristische Geldpolitik, Preisliberalisierung und „institutional restructuring“ (Privatisierung) zum goldenen Dreiklang neoliberaler Reformen verband. Die dadurch erhoffte, geschichtsphilosophisch 2 Man denke an Blumenbergs Kommentar zu Heines Denkschrift über Ludwig Börne, von dem sich Heine (vice versa) nach der Julirevolution entfremdete: „Heine bekennt, die ausgestreckte Hand nicht ergriffen zu haben. […] Es ist die furchtbare Formel all derer, die die kleine Humanität der Gegenwart verweigern, um der vermeintlich größeren der Zukunft zu genügen. Die Formel des am Schiffbrüchigen Vorbeifahrenden ist dafür von singulärer und kältester Präzision: Ich trug an Bord meines Schiffes die Götter der Zukunft.“, Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmetapher (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997), S. 71. Hier zeigt sich im Übrigen, dass säkularisierte Eschatologie kein Proprium des historischen Materialismus ist.  imprägnierte BIP-„J-Curve“ – durch das notwendige (Diagramm-)Jammertal hin zur Erlösung schnellen Wachstums – blieb in aller Regel aus. Jedenfalls im Falle Russlands lässt sich von einem veritablen Desaster sprechen. Es ist dies jene bis zur Erschöpfung erörterte „Schocktherapie“. 

Victor Loxen

Victor ist Student der Rechtswissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte. Er arbeitet als studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staatstheorie, Politische Wissenschaften und Vergleichendes Staatsrecht von Prof. Florian Meinel an der Universität Göttingen.

In der dazu im August 2021 veröffentlichten Bestandsaufnahme 3 Kristen Ghodsee und Mitchell A. Orenstein, Taking Stock of Shock: Social Consequences of the 1989 Revolutions (Oxford, New York: Oxford University Press, 2021). von Kristen Ghodsee („Why Women Have Better Sex Under Socialism“) und Mitchell A. Orenstein scheint am Rande des Blickfeldes allerdings eine gänzlich andere Verlaufsform auf. Unter der Überschrift „The China Comparison“ registrieren die beiden den erstaunlichen Erfolg von Chinas transformed communism, der in die triumphalliberalen Prämissen des „Washington Consensus“ nicht recht hineinpassen will, und resümieren: „Nonetheless, the China comparison continues to hang over economic debates about the costs and benefits of transition. For while Eastern Europe suffered, China prospered.“ 4 Ibid., S. 62. Das Desiderat der china comparison hatte sich indes bei Veröffentlichung von „Taking Stock of Shock“ bereits drei Monate früher eingelöst: Isabella M. Weber legte im Mai 2021 ihre Studie „How China Escaped Shock Therapy“ vor.

Im Frühjahr 2023 erschien bei Suhrkamp die deutsche Übersetzung dieses als Dissertation gestarteten Werks mit dem (angesichts der Zeitumstände nicht gerade inopportunen) Titel „Das Gespenst der Inflation“. Weber breitet hierin ein beeindruckendes Diskurspanorama der chinesischen Reformdebatten aus, die sich von den späten 70er bis in die frühen 90er Jahren des 20. Jahrhundert erstreckten und aus denen eine spezifisch chinesische Form des Kapitalismus hervorging. Es handelt sich damit zumindest auch um die volkswirtschaftliche Wissenschaftsgeschichte eines Landes, das sich für wesentliche Teile des 20. Jahrhundert den modernen Axiomen ausgerechnet jener Disziplin radikal versperrte (171 und öfter). Die Kulturrevolution gestattete keine Grenzkostenanalyse. 5 Es zeigt sich hier Maos eindeutige Abkehr von jedem Marxismus: „Mao’s vision was that the economy should be propelled forward by unleashing local initiative and the enthusiasm of the masses. In this context, the Marxist tenet that the development of the forces of production drives historical progress was reversed: Under late Maoism a revolution of the relations of production should instead elevate the forces of production. The latter were thus to some extent reduced to a derivative of the former and what mattered for economic development was believed to be political, social and cultural relations rather than technical economic considerations.“, Isabella M. Weber und Gregor Semieniuk, „American Radical Economists in Mao’s China: From Hopes to Disillusionment“, Research in the History of Economic Thought and Methodology 37A (2019): S. 50.  Das Wechselspiel dieses Befundes mit Webers ideengeschichtlicher Methode, die die „intellektuellen Grundlagen“ des chinesischen Weges verständlich zu machen sucht (17), verweist sie auf tiefere Schürfungen im historischen Bestand. Die frühesten Linien macht die Autorin dementsprechend vor zwei bis zweieinhalbtausend Jahren aus – und fügt das Buch damit en passant in die mittlerweile breite Kritik an der eurozentrischen Legendenbildung des eigenen Faches ein. 6 Für die arabische Welt vgl. nur klassisch Joseph J. Spengler, „Economic Thought of Islam: Ibn Khaldūn“, Comparative Studies in Society and History 6, Nr. 3 (1964): S. 268–306.

Die Debatte über Salz und Eisen

Aus der Guanzi, einer Schriftensammlung des siebten Jahrhundert v. Chr., extrahiert Weber drei aufeinander aufbauende Leitlinien der altchinesischen Wirtschaftspolitik. Erstens die werttheoretische Unterscheidung zwischen „leichten“ (unwichtigen) und „schweren“ (wichtigen) Gütern, zweitens die allgemein preisbildende Bedeutung des „schweren“ Gutes Getreides als „Herr über das Schicksals des Volkes“ (47) und drittens, angesichts saisonaler Wechselfälle, die Notwendigkeit antizyklisch-stabilisierender Preispolitik vermittelst staatlicher Getreidespeicher: „Die Aufgabe des Staates ist es, die Bevölkerung vor jahreszeitlichen Klimaschwankungen und dem Auf und Ab des Marktes zu schützen und zu gewährleisten, dass die Menschen jederzeit Zugang zu den Gütern des täglichen Bedarfs haben.“ (51). 

Die Debatte über Salz und Eisen im ersten Jahrhundert v. Chr. drehte sich um den Sinn und Unsinn von Staatsmonopolen auf Wein, Salz und Eisen. In konfuzianisch-sozialphilosophischen Kategorien begriffen die „Literaten“ die Ausbreitung eines allgemeinen Äquivalents (Geld), den entstehenden Fiskus und die weit über Subsistenz hinausgehende Wirtschaftsweise als den dekadenten Abfall von einer natürlich-genügsamen Lebensweise, die die Beteiligung des Staates bloß beschleunigen und ausweiten würde, während die „Verwaltungsbeamten“ den wachsenden Wohlstand begrüßten und ihn durch aktive Wirtschaftspolitik, vornehmlich mithilfe von Monopolen, verstetigen wollten. Vor allem die geographisch konzentrierte Salz- und Eisengewinnung sei prädestiniert für natürliche Monopole. Es kam für die Beamten somit entscheidend darauf an, ob diese privat oder staatlich kontrolliert wurden (61). Nur die zweite Option könne eine stabile Wirtschaft und eine egalitäre Sozialstruktur ermöglichen. Von Weber werden diese zwei Positionen unter „Idealismus“ (Literaten) und „Pragmatismus“ (Beamte) rubriziert (58), wobei die Sympathien recht klar verteilt sind. 

Die ausführliche Darstellung dieser Bewegung ad fontes findet ihren Grund im Gegenstand. Methodisch zieht die Autorin ihre Lesart des Guanzi und der Debatte über Salz und Eisen „im gesamten Buch“ als Analysefolie heran, „um die Auseinandersetzungen und Praktiken in den chinesischen Marktreformen in jüngerer Zeit in einem neuen Licht zu betrachten“ (39). Die Darlegungen des Leicht-Schwer Prinzips im Guanzi werden später eminenter Referenzpunkt für die transformative „Zweigleisigkeit“ der (post-)kommunistischen Preispolitik (insb. 263, 399). Ebenso hält die Debatte über Salz und Eisen als Urgrund eines Pragmatismus her, der unter dem Gesichtspunkt des chinesischen Sonderwegs abseits der „idealistischen“ Schocktherapie wieder auftaucht: „So wie einst in der Debatte über Salz und Eisen stellten praktisch denkende Gelehrte und für den Handel verantwortliche Beamte den idealistischen Ansatz in der Debatte über die Preisreform in den achtziger Jahren in Frage“ (397). Diese Präformationen geraten manchmal arg schematisch-assoziativ (vgl. z.B. „nicht zwangsläufig direkt beeinflusst“ aber „ähnlich“; es „lagen ganz ähnliche Prinzipien […] zugrunde“, 110, 127), ihr analytischer Mehrwert erschließt sich jenseits rhetorischer Präfiguration 7 „[W]as schon einmal getan worden ist, bedarf unter der Voraussetzung der Konstanz der Bedingungen nicht erneuter Überlegung, Verwirrung, Ratlosigkeit, es ist durch das Paradigma vorentschieden.“, Hans Blumenberg, Präfiguration: Arbeit am politischen Mythos, hg. von Angus Nicholls und Felix Heidenreich (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2014), S. 9, vgl. zur suggerierten Fraglosigkeit durch die Präfiguration S. 15. („um es in den Worten des Guanzi zu sagen“, 263) nicht immer. Auf der anderen Seite grenzt sich die Autorin von der strengen Determination der Marktformdebatten durch die antike Literatur explizit ab (68). 

Westliche Preis- und Industriepolitik nach 1945

Mit einer tour d‘horizon entlang der ökonomischen Diskurse und Politik Chinas bis zum 20. Jahrhundert leitet Weber das zweite Kapitel ein. Es vergleicht die Preis-/ Industriepolitik in Großbritannien, den USA und Deutschland unmittelbar nach 1945 und beinhaltet ebenfalls eine die spätere Argumentation stark antizipierende Hintergrundstrahlung („gewisse Parallelen“; „[nahm] gewissermaßen die Urknall-Reform vorweg“, 69) 8 „Tatsächlich lässt sich vor diesem Hintergrund eine Konfrontation zwischen den Erkenntnissen praktischer ,Preissetzer‘ und wirtschaftlichen Theoretikern erkennen, die gewisse Parallelen zu der im vorhergehenden Kapitel behandelten Debatte über Salz und Eisen zwischen für den Staat tätigen Kaufleuten und ,Literaten‘ aufweist. Gleichzeitig nimmt die abrupte und weitreichende Preisfreigabe im Übergang von der Kriegs- zur Nachkriegswirtschaft gewissermaßen die Urknall-Reform vorweg, die beim Übergang vom Sozialismus zur Marktwirtschaft von einem Teil der Experten befürwortet wurde, so auch in China.“, S. 69 (Emphase VL.). . Abgesehen davon kommen hier die äußerst innovativen Elemente von Webers Ansatz erstmals voll zur Geltung. Einerseits reichert sie die folgenden Kapitel mit einer oral history an, die sie in vielen Interviews mit an den Reformen beteiligten Wissenschaftlern (sic) zusammengetragen hat. In den Interviews lassen sich wiederum die manifesten Einflüsse der europäischen Nachkriegsdiskurse festmachen (31). Andererseits bewegen sich die exzellent herausgearbeiteten Konfliktlinien von nun an innerhalb moderner Staatlichkeit und Ökonomie, sodass die dogmengeschichtliche Ausarbeitung die Unschärfe anachronistischer Übertragung verliert. 

Hervorgehoben werden die durch den ersten und zweiten Weltkrieg bedingten Preiskontrollen, die entgegen der reinen Theorie erst durch das Ermessen von Verwaltungsbeamten und die damit verbundene stete Re-Evaluation von bestimmten Güterpreisen funktionieren konnte. Der Wirtschaftswissenschaftler Frank William Taussig (1859-1940) figuriert insofern als moderner Kronzeuge eines pragmatischen trial end error Verfahrens, dessen Inbegriff die Maxime „Vortasten von Fall zu Fall“ (72) ist. Sie wird später in Deng Xiaopings berühmter Reformmaßgabe „nach Steinen tastend den Fluss überqueren“ (176) wiederkehren. Der Abschnitt enthält sodann eine luzide und kontraintuitive Analyse der weitgehend von John Kenneth Galbraith geleiteten US-Kriegswirtschaft; insbesondere aber des Übergangs vom Dirigismus dieser Zeit zu einer freieren Friedenswirtschaft. Eingerahmt wird die Transformation von einem Brief renommierter Ökonomen (Alvin Hansen, Frank Knight, Simon Kuznets, Abba Lerner, Paul Samuelson usw. usf.), der eine zeitweilige Fortsetzung der Preiskontrollen befürwortete, um dem massiven Kaufkraft- und Nachfrageüberhang zu entgehen und ein soft landing zu schaffen. Auch hier wird wieder kräftig argumentativ präfiguriert, so nähme der Brief „die Debatte über die Preisreform vorweg, die in den achtziger Jahren in China entbrennen sollte“ (93). Die angedachte Politik scheiterte jedoch im Kongress, die Preiskontrollen fielen ruckartig aus und es kam zu einer Inflationswelle, die 1948 in eine elfmonatige Rezession einmündete. Anders in Großbritannien, wo sich ein gradueller phase out durchsetzte und nochmal anders in Deutschland, wo Ludwig Erhard sein Programm keineswegs mit einer Schockliberalisierung verfolgen konnte, sondern aufgrund eines Generalstreiks im Jahr 1948 dem Sozialstaat wieder erheblich mehr Raum geben musste [vgl. Fuhrmann, P&Ö]. Trotzdem geriet dieses sogenannte Wirtschaftswunder zum Goldstandard neoliberaler Reformprogramme, insbesondere für die späteren Schocktherapeuten Milton Friedman und Jeffrey Sachs (98, 312). Dass Friedrich A. von Hayeks selbststabilisierende Märkte des 20. Jahrhunderts eine wie auch immer geartete „Ähnlichkeit“ zu den konfuzianischen Bedenken („Zusammenbruch von Riten und Rechtschaffenheit“, 61) der „Literaten“ aus der antiken Debatte über Salz und Eisen attestiert wird (101), überspannt aber wohl den historischen Assoziationsbogen. 

Das basale Muster der Transformationen zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung formuliert Weber am Ende des Kapitels in der Sprache Adam Smiths und setzt dies berechtigterweise kursiv: „Die unsichtbare Hand wurde unter Anleitung der sichtbaren Hand eingeführt.“ (107). Die kontingenzbewusste Repolitisierung der Marktgenesen des 20. Jahrhunderts ist auch eine herausragende Leistung dieses Buches. 

Volkschinesische Preispolitik

Zurück nach China. Der Ausbruch des Japanisch-Chinesischen Krieges des Jahres 1937 löste eine katastrophale Hyperinflation aus, die bis in die 40er Jahre andauerte. Die KPCh reagierte darauf mit der Wiedereröffnung des „Salzkanals“, d.h. lizenzierten Monopolen und dem Nebeneinander von freien Marktpreisen für „leichte“ und gesetzten Listenpreisen für „schwere“ Güter. Die institutionelle Kontinuität und das begriffliche Raster des antiken Chinas sind an dieser Stelle gut fundiert und überzeugen auf ganzer Linie. Infolge der ökonomisch anspruchsvollen Maßnahmen konnte die KPCh die Hyperinflation hegen (129f.). Der Große Sprung nach vorn (1958) verstummt jedoch die Volkswirtschaftslehre als gesellschaftlich relevantes System.

Nach Maos Tod im Jahr 1976 musste es schnell gehen. Das Land fand zur modernen Ökonomie schon aus purer Not zurück; Reformen waren ein „wirtschaftlicher Imperativ“ (159), ihre Notwendigkeit allgemein anerkannt (272). Deng Xiaoping, ab 1979 Generalsekretär der KPCh, gab die Direktive „Die Wahrheit in den Fakten suchen“ aus und steckte damit das neue Paradigma ab:

In the era of economic reform since 1978, the conception of historical progress has been redefined in China as economic development. Economics as a ,general science‘ in Mises’s sense became key. China has given up on a class standpoint in academic work and on class struggle as the moving force in history. The universalization of the division of labor became instead the dominant principle.

Isabella M. Weber, „Origins of China’s Contested Relation with Neoliberalism: Economics, the World Bank, and Milton Friedman at the Dawn of Reform“, Global Perspectives 1, Nr. 1 (2020): S. 2.

Das so eingeleitete Hauptstück der Studie seziert die ökonomischen Frontstellungen und -verschiebungen ab den späten 1970er Jahren mit exzeptionellem Kenntnisreichtum. Von einzelnen Akteuren und Gruppierungen über internationale Konferenzen und Verquickungen bis hin zu den immer mitzudenkenden Parteikadern und Ränkespielen überblickt Weber souverän die Szenerie, während sie die wirtschaftswissenschaftliche Debatte virtuos durch die Darstellung webt und deren ganz eigenes, eben chinesisches Gepräge aufzeigt. Diesen besonderen Charakter vermag die Autorin mittels ihrer genealogischen Methode gründlich zu erschließen, wobei das Tableau der dramatis personae am Ende des Buches eine notwendige Hilfestellung und für den westlichen/deutschen Raum eine verdienstvolle Übersicht über chinesische Wirtschaftsdenker bereithält. 

Was sich im Laufe der 1980er Jahre ungeachtet der vielen Rückschläge und Kämpfe also etabliert, ist jenes uns bereits im Guanzi nahe gebrachtes und 1950 wieder praktizierte System der zweigleisigen Preiskontrolle (263). Dem zugrunde lag ein experimenteller Gradualismus – das Bild eines JENGA-Spiels wird bemüht (266) –, der sich immer wieder gegenüber der „Magie der Wirtschaftswissenschaften“ (300), d.h. der schocktherapeutischen „J-Curve“-Theorie behaupten musste. Diese Kämpfe verweisen auf die fundamentale These Webers, von der aus die gedanklichen Leitplanken der Studie bestimmt werden können: die strukturelle Parallele rationalistischer Reinraumtheorien, die zwischen planwirtschaftlichen und „freien“ Marktmodellen ausgemacht wird: 

Tatsächlich mag man eine Parallele erkennen zwischen der Idealisierung der Planwirtschaft im sowjetischen Marxismus, der sich die gesamte Volkswirtschaft als eine einzige zentral geplante Fabrik vorstellte, und der Idealvorstellung von der Marktwirtschaft, die der Schocktherapie zugrunde lag. Diese beiden theoretischen Konzepte widersprechen einander in der Frage, ob der Plan oder der Markt der überlegene Regulierungsmechanismus ist, aber beiden liegt das Streben nach einer optimalen, rationalen Wirtschaft zugrunde. Diese methodologische Gemeinsamkeit zwischen denen, die an die Allmacht der sichtbaren Hand glauben, und jenen, die von der Allmacht der unsichtbaren Hand überzeugt sind, beobachtete Frank Hahn, einer der bedeutendsten Theoretiker der allgemeinen Gleichgewichtstheorie: ,[Beide Seiten] betrachten es als selbstverständlich, dass es irgendwo eine Theorie, das heißt ein Gefüge von logisch miteinander verbundenen Aussagen gibt, das auf nicht vollkommen mit den Tatsachen unvereinbaren Postulaten beruht und die von ihnen verfochtene Politik unterstützt.‘

Isabella M. Weber, „Das Gespenst der Inflation. Wie China der Schocktherapie entkam“, (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2023), S. 393

Der „Idealismus“ der Literaten, der Realkommunisten und der Marktfundamentalisten resultierte in allerlei Theorieangeboten, die sich zu dogmatischen Positionen auswachsen mussten. An solchen rigiden Modellen ging die Preispolitik der KPCh schlicht vorbei: „Während die Forscher große Mühe auf Modellentwicklung und Berechnungen verwendeten, entwickelte sich in der Praxis langsam das mehrstufige Preissystem“ (267). In Anbetracht der erfolgreichen Inflationsvermeidung bei gleichzeitiger Ausweitung des freien Preismechanismus und des damit einhergehenden rasanten Wirtschaftswachstums scheint das keine ganz schlechte Idee gewesen zu sein (vgl. die Diagramme, 26f.). 

Wie China der Schocktherapie entkam 

Nimmt die Leser*innen allerdings den Untertitel des Buches ernst, muss sie insoweit eine Dimension vermissen; wie „entkam“ China denn nun der Schocktherapie? Begannen die von Weber beschriebenen Marktreformen doch gut zwölf Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion – sie waren 1991 schon zu einem großen Teil vollendet – und hatte die UdSSR bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls systemimmanente Reformen (s.o.) durchführen wollen. Wieso also setzte sich der „Washington Consensus“ 1991ff. in den postsowjetischen Ländern durch, in China dagegen nicht? Die Antwort liegt in den Beharrungskräften von politischen Ordnungen. Die UdSSR ging an den revolutionären Ausbrüchen an ihrer imperialen Peripherie (insb. in der DDR und Polen) zugrunde. Für China gibt es einen analogen Moment, der bei Weber bedauerlicherweise zwar als „Höhepunkt“ einer Krise aufgegriffen wird, dies indes nur knapp auf den letzten vier Seiten. Dabei weist sie mit Jeffrey Sachs und David Lipton, die Bezug auf Polen nahmen, 9 David Lipton u. a., „Creating a Market Economy in Eastern Europe: The Case of Poland“, Brookings Papers on Economic Activity 1990, Nr. 1 (1990): S. 75–147.  zuvor noch die Bedingung der Möglichkeit jeder Schocktherapie aus: „Der Zusammenbruch der kommunistischen Einparteienherrschaft war die unabdingbare Voraussetzung für einen effektiven Übergang zur Marktwirtschaft“ (379). Der in Rede stehende Kairos einer Revolution, die andere Reformen als die der KPCh ermöglicht hätte, ist das Massaker auf dem Platz am Tor des himmlischen Friedens (Tian’anmen). Am 4. Juni 1989 – eine sprechende Gleichzeitigkeit: in Polen wurden just an diesem Tag die ersten freien Wahlen abgehalten – räumten die chinesischen Truppen den Tian’anmen-Platz. Die kritische Situation war Deng, wie in Ezra F. Vogels brillanter Biographie nachzulesen ist, akut bewusst:

In explaining his rationale for sending in the troops, Deng acknowledged that political reform was needed, but he was firm about maintaining the four cardinal principles: upholding the socialist path, supporting the people’s democratic dictatorship, maintaining the leadership of the Communist Party, and upholding Marxist–Leninist–Mao Zedong Thought. If the demonstrations and the pasting up of posters continued, he said, there would not be enough energy left to get things done.

Ezra F. Vogel, Deng Xiaoping and the Transformation of China (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2013), S. 627.

Vor diesem Hintergrund lässt sich der zuvor ausgebreitete Diskurs vom Kopf auf die Füße stellen. China konnte der Schocktherapie gerade dadurch entkommen, dass es Demokratiebewegungen regelmäßig im Keim erstickte, ausnahmsweise auch überrollte: „The Chinese model was based on a Communist Party maintaining control – by violent force – in the face of reformist pressures (such as those expressed at Tiananmen Square in 1989)“ 10 Ghodsee und Orenstein, Taking Stock of Shock, S. 61f. . Weber anerkennt den engen Zusammenhang zwischen scharfer Repression und dem pragmatisch-experimentellen Modus der Preispolitik, problematisiert diese relativ grelle Ambivalenz und ihr Verhältnis zur konkreten historischen Möglichkeit einer starken sichtbaren Hand, die die unsichtbare einführt, hingegen leider nicht explizit; sie reißt das Problem auf der letzten Seite des Buches lediglich an. Dass der Kapitalismus, über den die KPCh stets die „Kommandohöhen“ (405) wahrte, in China keinerlei emanzipatorische Kraft entfaltete, ist dann aber in der Tat „bis heute von gewaltiger politischer Bedeutung“ (405). 

Die ausbleibende Emanzipation erklärt sich durch die differentia specifica des chinesischen Modells zum (neoliberalen) Kapitalismus westlicher Prägung: durch die Existenz von Privateigentum. Einem Milton Friedman ging es einerseits selbstverständlich um die Preisbildung vermittelst Angebot und Nachfrage; sie galt ihm andererseits als ein jenem basaleren Institut „freier“ Gesellschaften untergeordnetes Prinzip: „The crucial issue is not market or no market, the crucial issue is private property or no private property.“ 11 Zitiert nach Weber, „Origins of China’s Contested Relation with Neoliberalism“, S. 8.  Erkannt hat das der Ökonom Li Yining gewissermaßen von der anderen Seite, als er an der „Urknall-Reform“ ihren allein äußerlichen Ansatzpunkt bemängelte: „Die Wirtschaftsreform kann immer noch scheitern, wenn die Preisreform scheitert, aber ihr Erfolg hängt nicht von der Preisreform, sondern ausschließlich von der Reform der Eigentumsverhältnisse ab“ (312). Es sei dieses primäre System zu reformieren, um die institutionellen Voraussetzungen für horizontale Marktverhältnisse erst herzustellen. Insbesondere müssten das Management professionalisiert und die Staatsunternehmen in Aktienunternehmen umgewandelt werden. Das liberale Eigentumsregime sollte freilich nur zur Hälfte, nämlich in seiner ökonomischen Funktion der Güterzuordnung (proprietas) rezipiert werden – an Eigentum als negatives Herrschaftsrecht des Individuums (dominium) war nicht zu denken. 12 Das römische Recht kannte keinen einheitlichen Eigentumsbegriff; das moderne Eigentum entstand aus der Verbindung dieser zwei Hinsichten, vgl. Dietmar Willoweit, „Dominium und Proprietas. Zur Entwicklung des Eigentumsbegriffs in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechtswissenschaft“, Historisches Jahrbuch 94 (1974): S. 131–56.  

Der neuralgische Punkt des autoritären Kapitalismus, die gewaltige politische Bedeutung der KPCh-Kommandohöhe, ist die fehlende Trennung von Staat und Gesellschaft. Zugleich ist dies der staatstheoretische Überschuss des besprochenen Buches. Das „Gespenst der Inflation“ ist in China ein unvermittelt politisches Gespenst, weil die Wirtschaft des Landes der Dialektik von Schutz und Gehorsam unterliegt. Der Staat behält sich den unbeschränkten Zugriff auf die ökonomische Sphäre vor, gleichsam fällt ihm präzis dadurch die unbeschränkte Verantwortung für die gesellschaftliche Wohlfahrt zu. Die liberale Exkulpation des Staates qua Verweis auf die wirtschaftlichen Risiken ausgeübter Freiheit ist nicht möglich: „… die führenden Reformpolitiker waren in Sorge, die Preisanstiege könnten die wirtschaftliche und politische Stabilität gefährden. […] Das Gespenst der Inflation spukte seit den ersten Tagen der Reformen durch die Volksrepublik“ (187). Wie mehr oder weniger alle Reformer wussten (vgl. auch 188, 237, 314), musste ökonomische Deprivation der KPCh mangels demokratischer Legitimationsverfahren ihre zentrale Legitimitätsressource entziehen. Diese Mechanik begründet bis heute die (prekäre?) Verstrickung des chinesischen Staates. 


Viele bereichernde und fruchtbare Aspekte konnten in dieser Besprechung nicht berücksichtigt werden. Hingewiesen sei an dieser Stelle nur noch auf den Ursprung von Sonderwirtschaftszonen im experimentellen Reformismus (163), an die Quinn Slobodian mittlerweile monographisch angeknüpft hat. 13 Vgl. Quinn Slobodian, Crack-Up Capitalism: Market Radicals and the Dream of a World Without Democracy (Random House, 2023), S. 27ff.; nota bene gab es unter dem Rechtsinstitut des corpus separatum eine interessante Form der SWZ nicht nur in den Kolonien, sondern auch im alten Europa, zu Fiume vgl. Dominique Kirch Reill, The Fiume Crisis – Life in the Wake of the Habsburg Empire (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 2020), S. 25f.  Aus Webers „Gespenst der Inflation“ ergibt sich den Leser*innen jedenfalls das umfassende Bild eines (allein aufgrund der Sprachbarriere) zuvor hermetischen Diskurses. Die Darstellung ist mitunter ein wenig zu kleinteilig, ein journalistischer Reportagestil bricht teilweise recht unvermittelt in die dichten Erörterungen ein (z.B. „An einem sonnigen Januartag im Jahr 2017 führte ich ein langes Gespräch mit Luo in seiner bescheidenen Wohnung in Hongkong.“, 227; „Rund dreißig Jahre später traf ich Edwin Lim in einem gemütlichen Londoner Pub.“, 291) und die etwas inflationäre Präformation späterer Ausführungen wirkt zuweilen leicht forciert. Weber leistet ungeachtet dieser Petitessen insgesamt, vor allem im Lichte akuter Systemkonkurrenz, einen hervorragenden Beitrag zur historischen wie ökonomischen Rekonstruktion der chinesischen politischen Ökonomie und weist in doing so die vermeintliche Omnipotenz volkswirtschaftlicher Abstraktionen zurück. Zu lesen ist ein Plädoyer für wissenschaftliche Demut, Institutionensensibilität und methodische Offenheit – wider der dogmatisierten Modellmetaphysik. Nicht zuletzt schützt die Lektüre auch vor der umstandslosen Identifikation von Kapitalismus und Liberalismus.