Bild:  Jared Leeds

Der Lieblingsphilosoph von Olaf Scholz

Das Werk des in Harvard lehrenden US-Philosophen Michael Sandel dreht sich vor allem um Fragen der Gerechtigkeit. Auch Olaf Scholz liest seine Bücher und tauscht sich mit ihm aus. Doch wie genau beeinflusst der US-Philosoph das Denken des Bundeskanzlers?

Ein dunkler, holzvertäfelter Hörsaal, auf der Bühne geht ein Mann im grauen Anzug vor Hunderten Erstsemestern auf und ab, blickt in das Publikum und spricht eine Warnung aus: Philosophische Selbsterkenntnis, wie beunruhigend sie auch sei, kann nicht zurückgenommen werden. Das Semesterprogramm verkündet er dagegen wie eine Verheißung: Wer hier Kant, Aristoteles und John Locke liest und über Ungleichheit, Meinungsfreiheit oder Wehrpflicht mitdiskutiert, wird – wenn auch nicht direkt – am Ende ein „besserer und verantwortungsvollerer Staatsbürger“ werden. 

Die Vorlesungen von Michael Sandel erreichen auf YouTube ein Millionenpublikum. Der Moralphilosoph aus Harvard ist mittlerweile einer der gefragtesten Denker im englischsprachigen Raum. Doch seltsam unbeachtet blieb bisher, dass er auch hierzulande mächtige Anhänger hat. Und zwar ganz buchstäblich. Kein Geringerer als Bundeskanzler Olaf Scholz hatte Sandel im Dezember 2020 per Videoschalte ins Willy Brandt-Haus eingeladen, um mit ihm über sein Buch Vom Ende des Gemeinwohls – Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt zu sprechen. 

Scholz und Sandel zeigten im Talk große Einigkeit, etwa darin, dass Leistung nicht immer in Einkommen gemessen werden dürfe und dass sogenannte systemrelevante Berufe – von der Pflege bis zur Müllabfuhr – mehr Anerkennung verdienten. Scholz‘ Büro bestätigte auf Anfrage von ZEIT ONLINE, dass sich der SPD-Politiker auch „in letzter Zeit zu verschiedenen Fragen“ mit Sandel ausgetauscht habe. Berät der Philosoph also den Kanzler? Dass Politiker in Krisenzeiten nach intellektueller Orientierung suchen, zeigte sich zuletzt etwa daran, dass sich Friedrich Merz oder Sahra Wagenknecht auf die Analysen des Soziologen Andreas Reckwitz bezogen. Robert Habeck wiederum diskutierte bereits mit der Philosophin Eva von Redecker und ließ sich bei der Lektüre eines Buchs des Philosophen Rainer Forst fotografieren. Olaf Scholz wiederum scheint sein theoretisches Fundament seiner Politik bei Sandel zu suchen. 

Matthias Ubl

Matthias Ubl ist freier Journalist und schreibt u.a. für ZEIT ONLINE und das Jacobin Magazin. Er ist außerdem Host des Videopodcasts Jacobin Talks.

Das Werk des in Harvard lehrenden Philosophen dreht sich vor allem um Fragen der Gerechtigkeit. In seinem 1982 veröffentlichten Buch Liberalism and the Limits of Justice setzte sich Sandel kritisch mit der Philosophie von John Rawls auseinander, einem der einflussreichsten Denker des egalitären Liberalismus. Eine von Sandels Grundannahmen besteht darin, dass Menschen keine freischwebenden Individuen sind, sondern sich immer schon von Gemeinschaften und Traditionen eingebunden finden. Eine liberale Philosophie, die allzu sehr vom Einzelnen ausgeht, bleibe daher defizitär. In seinem 2020 erschienenen Buch Vom Ende des Gemeinwohls erweitert Sandel seine philosophischen Grundlinien zu einer beißenden Gesellschaftskritik und legt dabei nicht weniger als eine Theorie des Zerfalls der USA vor. Auch hier entpuppt er sich als Kritiker liberalen Denkens, indem er mit beeindruckender Genauigkeit die Abgründe der Leistungsgesellschaft aufzeigt.  

»Viele glauben heute, dass ökonomischer Erfolg ausschließlich Resultat ihrer eigenen Anstrengungen sei. Die Verlierer haben sich aus dieser Perspektive nicht genug bemüht, da jeder für sein Schicksal selbst verantwortlich sei.« 

Deren Grundideen begannen sich Sandel zufolge ab den Achtzigerjahren in vielen westlichen Ländern durchzusetzen. Die Schlagworte „Eigenverantwortung“, „Anreize“ und „Chancengleichheit“ prägten den politischen Diskurs und die Politik lockte mit großen Aufstiegsversprechen für alle, die sich anstrengen. In vielen Ländern ging damit gleichzeitig der Abbau des Sozialstaats einher. Die gesellschaftlichen Folgen dieser Entwicklung seien Sandel zufolge tiefgreifend. Viele glauben heute, dass ökonomischer Erfolg ausschließlich Resultat ihrer eigenen Anstrengungen sei. Die Verlierer haben sich aus dieser Perspektive nicht genug bemüht, da jeder für sein Schicksal selbst verantwortlich sei. 

Nach Sandel offenbart sich in diesem Denken die Ideologie der Meritokratie, also jener Herrschaft der Leistungsstärksten und Verdienstvollsten, in der „Erfolg als Zeichen der Tugend“ gewertet wird. Das Prinzip, das der meritokratischen Ethik zugrunde liegt, ist die Chancengleichheit. Gerade in den immer noch von Rassismus geprägten USA spielt diese eine besondere Rolle: Ein schwarzes Mädchen aus einfachen Verhältnissen sollte gegenüber einem weißen, wohlhabenden Jungen keine Nachteile haben, insofern sie gleiche oder bessere Leistungen erbringt, etwa bei der Wahl der Universität. 

Der Schattenseite der Chancengleichheit liegt nach Sandel nun allerdings darin, dass diese zwar Ungerechtigkeit angreift, Ungleichheit aber legitimiert: Denn wenn die Chancengleichheit gemeinhin als politisch durchgesetzt gilt, dann liegt es nur an den Einzelnen, ob sie Erfolg haben. Versagt das schwarze Mädchen in einer Leistungsgesellschaft, ist sie innerhalb dieses Denkrahmens selbst schuld – alle hatten ja vermeintlich dieselben Chancen. Erfolg ist hier nicht Resultat mehr oder weniger zufälliger Umstände, sondern Ausdruck besonderer Leistungsbereitschaft, also letztlich auch von moralischer Tugend. 

Diese ideologische Verbindung von Moral und Erfolg ist laut Sandel nicht nur bei den politischen und ökonomischen Eliten der USA weitverbreitet, deren „meritokratische Überheblichkeit“ durch das Universitätssystem befördert werde, sondern stellt auch ein großes gesellschaftliches Problem dar. Denn tatsächlich ist die viel gepriesene Chancengleichheit eben oft nicht verwirklicht. Kinder von wohlhabenderen Eltern in den USA haben de facto etwa einen riesigen Vorteil, wenn es um Uniplätze geht. Doch begreifen zahlreiche Akademiker ihre Erfolge dennoch allein als eigenen Verdienst und schauen dementsprechend auf andere hinab. So konstatiert Sandel: „Einer der tiefsten Gräben in der heutigen Politik verläuft zwischen denen mit und denen ohne Uniabschluss.“

Auch Olaf Scholz beobachtet die Spaltung in den USA genau und sieht in Deutschland eine in dieser Hinsicht ebenfalls zunehmende Polarisierung. In einem seiner wenigen programmatischen Essays, der im März 2021 in der FAZ erschien, verweist er wie Sandel kritisch auf den Begriff der Meritokratie, um sein Gesellschaftsbild darzulegen. Nach Scholz blendet „das meritokratische Prinzip in einer Gesellschaft der Singularitäten aus, dass wir eine arbeitsteilige Gesellschaft sind, in der wir alle aufeinander angewiesen sind“. Mit dem Schlagwort der „Gesellschaft der Singularitäten“ bezieht sich Scholz auf den Soziologen Andreas Reckwitz, der die Zunahme von Selbstverwirklichungswerten und den Wunsch nach Einzigartigkeit in breiten Teilen der Bevölkerung diagnostiziert, die der Gemeinwohlorientierung oft entgegenstehen. Scholz kommt zu dem Schluss: So erfolgreich wir sein und so sehr wir unseren Erfolg verdienen mögen, bleiben wir immer von jenen abhängig, die andere Tätigkeiten ausüben, „etwa Reinigen, Liefern, Kochen oder Betreuen“. Auch diese Jobs seien notwendig und verdienten den gleichen Respekt wie andere Tätigkeiten.

Im Videotalk im Willy-Brandt-Haus mit Sandel wirkt der damalige Kanzlerkandidat außergewöhnlich gelöst. Besonders gefreut habe er sich, den Namen Michael Young in Sandels Buch zu lesen. The Rise of the Meritocracy sei zwar schon 1958 veröffentlicht, aber eigentlich „the book of our time„, wie Scholz auf Englisch sagte. Der Labourpolitiker und Soziologe Young wiederum hat in seinem Buch eine dystopische Zukunft im Jahr 2034 entworfen: Eine überhebliche, technokratische Elite steht einer Klasse von Abgehängten gegenüber, denen permanent eingeredet wird, dass sie selbst an ihrer Misere schuld seien, woraufhin diese schließlich revoltieren. Laut Sandel hat sich das von Young entworfene Szenario in der Realität 18 Jahre früher ereignet, nämlich „als Großbritannien 2016 für den Brexit und Amerika für Trump stimmte“.

Das fragile Verhältnis von Politik und Philosophie

Sowohl für Scholz als auch für Sandel befeuert das meritokratische Denken also gesellschaftliche Konflikte. Nun ist das Bemerkenswerte dabei, dass Scholz als Bundestagsabgeordneter und Parteifunktionär in den Nullerjahren selbst an der Durchsetzung dieses Denkens und der damit einhergehenden Politik beteiligt war: Scholz trug Gerhardt Schröders Agenda 2010 mit, die auch Sandel in seinem Buch als Beispiel für die Durchsetzung der meritokratischen Ideologie anführt. Sandel zitiert den ehemaligen Bundeskanzler Schröder, der damals mit Blick auf die Arbeitsmarktreformen ein „Mehr an Verantwortung“ forderte und davon sprach, dass jeder die Pflicht habe, „seine Chancen zu nutzen“. Was das hieß, ließ sich am damals eingeführten Arbeitslosengeld II, auch Hartz IV genannt, beobachten.

Arbeitslosen wurden dabei mitunter offen unterstellt, sich nicht richtig anzustrengen. Es galt, sie zu aktivieren und wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern. „Es gibt kein Recht auf Faulheit“, sagte Schröder, propagierte „Leistungsgerechtigkeit“ statt sozialstaatlicher Solidarität und schürte eine gesellschaftliche Stimmung, in der den scheinbar Leistungsschwachen von vielen offene Geringschätzung entgegengebracht wurde und mitunter in Verachtung umschlug: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, verkündete damals Schröders SPD-Kollege Franz Müntefering

Mit Hartz IV entstand damals ein hartes Sanktionsregime, das finanziell so auf Kante genäht war, dass viele Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen unter die Armutsgrenze rutschten. Auch Olaf Scholz rechtfertigte damals den Rück- und Umbau des Sozialstaats, der ihm zufolge „bereits ein sehr weitgehendes Niveau der Umverteilung materieller Ressourcen und Einkommen erreicht“ habe, worauf auch der ZEIT-Journalist Mark Schieritz in seinem kürzlich erschienenen Buch Olaf Scholz – Wer ist unser Kanzler? verwies.  

Schieritz zufolge war es allerdings auch Scholz, der von 2007 bis 2009 als Minister für Arbeit und Soziales im ersten Merkel-Kabinett Teile der Agenda zurückgenommen hat – und zumindest in den letzten Jahren einen gewissen Sinneswandel zeigte. Die Einführung des Mindestlohns oder der globalen Mindeststeuer, bei deren Durchsetzung Scholz beteiligt war, können als Ausdruck einer politischen Haltung gelesen werden, die wenigstens in der Tendenz auch den ökonomisch schlechter Gestellten ein Leben in Würde verschaffen will – und nicht danach fragt, ob sie das „verdient“ haben.  

Wie ist Scholz‘ Begeisterung für Sandels Philosophie nun letztlich zu deuten? Tatsächlich muss sich die Sozialdemokratie ähnlich wie in den Neunzigerjahren heute wieder neu erfinden und Sandel liefert dabei mindestens die richtigen Stichworte. Scholz‘ seit dem letzten Wahlkampf vermehrt verwendete Rhetorik des Respekts, der sich etwa auch Hubertus Heil und viele andere Parteigenossen bedienen, lässt sich auf die Kritik der Leistungsgesellschaft zurückführen. Diese könnte darüber hinaus tatsächlich Leitwirkung für eine sozialdemokratische Politik entfalten, die angesichts multipler gesellschaftlicher Krisen und großer ökonomischer Ungleichheit nicht mehr nur auf Wirtschaftsliberalismus und Flexibilität setzen kann. 

Schon ein Blick in die Geschichte zeigt allerdings, dass die Allianz zwischen Politik und Philosophie fragil ist. Platon etwa – glaubt man an die Echtheit des sogenannten Siebten Briefs – beriet den Herrscher Dionysius von Syrakus, der mit einem zerstrittenen Hof und der Verrohung der Sitten zu kämpfen hatte. Der Platon-Schüler Dion hatte seinen Lehrer mit Hoffnung auf Veränderung an den Hof geholt und der Herrscher Dionysius zeigte durchaus Sympathie für Platons Ratschläge. Letztlich gelang es ihm allerdings nicht, diese in eine erfolgreiche politische Praxis zu überführen. Die Konflikte spitzten sich zu und letztlich entschied sich ausgerechnet Dion, einen Umsturz anzuzetteln. Blickt man auf die derzeitige ökonomische Krise, so könnte diese Anekdote eine eigene Aktualität erfahren. 

»Nimmt man die Kritik an der Meritokratie ernst, müsste eine sozialdemokratische Politik heute jedoch in die Offensive gehen und umfassende steuerliche und gesellschaftliche Reformen anstreben.«

Auch Scholz‘ Inanspruchnahme von Sandels kritischer Philosophie könnte angesichts der derzeitigen sozialen Herausforderungen misslingen. Der von der Ampel geplante Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik hat sich etwa beim Bürgergeld schon weitestgehend als leeres Versprechen entpuppt. Die letztes Jahr umgesetzte Ersetzung von Hartz IV durch ein Bürgergeld brachte Betroffenen zwar rund 50 Euro mehr im Monat, hat damit aber gerade mal so die Inflation ausgeglichen. Ein Inflationsausgleich wäre aber bei Hartz IV gesetzlich sowieso notwendig gewesen, de facto ist der „Paradigmenwechsel“ also ein Verharren im Status quo.

Auch die Entlastungspakete verhindern im Moment bestenfalls das Schlimmste, nämlich die Verelendung breiterer Teile der Bevölkerung. Eine neue Ära „des Respekts und der Anerkennung der Lebensleistung“ leiten diese sozialpolitischen Projekte nicht ein, wie etwa Hubertus Heil mit Blick auf das Bürgergeld behauptete. In der verschärften Krise zeigt sich vielmehr, dass die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte nun nicht einfach mit kleinen Schritten korrigiert werden können. Die Anhebung des Mindestlohns von 10,45 Euro auf 12 Euro etwa ist zwar mehr als notwendig, doch auch sie wird angesichts der Inflation für Geringverdiener kaum spürbare Veränderung bringen. 

Nimmt man die Kritik an der Meritokratie ernst, müsste eine sozialdemokratische Politik heute jedoch in die Offensive gehen und umfassende steuerliche und gesellschaftliche Reformen anstreben, denn die Ungerechtigkeit sitzt tief und die Vorstellungen von der geglückten Leistungsgesellschaft mit ihrer Chancengerechtigkeit lassen sich kaum halten: Deutschland nimmt etwa mit Blick auf die Vermögensungleichheit einen Spitzenplatz unter den westlichen Demokratien ein. Ein Großteil des Reichtums wird hier nicht durch Leistung erarbeitet, sondern vererbt. Die Vermögensungleichheit nähert sich dabei wieder dem Niveau des Deutschen Kaiserreichs an, wie eine Studie der Uni Bonn zeigt.

Die Soziologen Oliver Nachtwey und Nicole Mayer-Ahuja sprechen in ihrem Buch Verkannte Leistungsträger:innen daher von einer „neuen Klassengesellschaft“. Die beiden Wissenschaftler kommen – ähnlich wie Sandel – zu dem Schluss, dass vor allem die Agendapolitik der Ära Schröder eine Umwertung der Werte eingeleitet hat: Als „Leistungsträger:innen“ galten seitdem nicht mehr Arbeiterinnen oder Angestellte, sondern „Unternehmer:innen, Manager:innen, Berater:innen und all diejenigen, die Geld, Einfluss und Erfolg hatten, egal ob dieser selbst erarbeitet war“. Es brauchte erst eine Pandemie, um vermehrt wieder jene sichtbar zu machen, die tatsächlich unsere Gesellschaft am Laufen halten: Beschäftigte in der Pflege, in der Lebensmittelindustrie, dem Einzelhandel oder der Lieferbranche. Menschen also, die Tag für Tag Höchstleistungen erbringen und viel mehr handfeste Anerkennung in Form von höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen erwarten.   

Gelingt es der Sozialdemokratie in ihrer Regierungszeit mit der Ampel nicht, einen echten Paradigmenwechsel durchzusetzen und genau diesen Menschen wirklich zu helfen, wäre Scholz‘ Flirt mit Sandels Philosophie nicht mehr als ein rhetorisches Feigenblatt, das eine verfehlte Sozialpolitik verdeckt.

Dieser Text ist letztes Jahr zuerst bei ZEIT Online erschienen und wurde für die Wiederveröffentlichung vom Autor aktualisiert.