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Die Agenda-Lüge

In Deutschland lahmt die Wirtschaft und Schuld daran hat das Bürgergeld, behaupten konservative und liberale Politiker. In seinem Beitrag widerlegt André Kühnlenz populistische Falschbehauptungen über das Bürgergeld und erklärt, warum die Wirtschaft heute nicht aufgrund von Sozialausgaben lahmt.

Es ist fast schon ein Glücksfall, dass in Deutschland Fachkräftemangel herrscht. Nicht auszudenken, was hier los wäre, wenn sich Unternehmen und ihre Interessenverbände noch an die neunziger Jahre erinnern würden, als sie die Beschäftigten und ihre Gewerkschaftsbosse Mitte des Jahrzehnts dazu überredeten, mindestens ein Jahrzehnt lang auf steigende Löhne zu verzichten, um die hartnäckige Arbeitslosigkeit zu senken. Seit fast drei Jahrzehnten hinken die Löhne dem Anstieg der Produktivität und der Preise nun hinterher (vgl. Abbildung 1).

Ende 2024 wird Deutschland auf drei Jahre wirtschaftliche Stagnation zurückblicken, falls die Wirtschaft bis dahin nicht noch tiefer in eine quälende Lähmung abgeglitten ist. Was läge da näher, als vermeintliche Erfolgsrezepte aus der Vergangenheit hervorzuholen, die in Deutschland gerne »Agenda« genannt werden? Immer wenn sie ratlos sind, reden Lobbyisten und ihre politischen Freunde von den berüchtigten »Strukturreformen«. Meistens fordern sie dann aber Schritte, die sie ohnehin immer verlangen.

Egal, ob es boomt oder Flaute herrscht: Bürokratieabbau steht immer ganz oben auf der Tagesordnung. Und die ewigen Klagen aus Sicht der Unternehmen sind gar nicht mal unberechtigt. Tatsächlich haben sich die Umsetzungskosten der Bundesgesetze, die der Normenkontrollrat (NKR) seit 2011 sammelt, 2022 mit der Erhöhung des Mindestlohns verdoppelt. Doch machen sie heute gerade einmal 0,23% des Umsatzes von Unternehmen aus (vgl. Abbildung 2). Diese machen sich allerdings genau dann bemerkbar, wenn die Kunden weniger Produkte kaufen und auch Preiserhöhungen irgendwann nicht mehr ausreichen, um die Gewinnmargen zu retten.

Abbildung 1: *Arbeitsnehmerentgelt korrigiert um Anteil der Selbstständigen (Erwerbstätige / Arbeitnehmer). Quelle: EU Amoco (14.05.24). @FuW_News | @KeineWunder bsky.social @mastodon.social
Abbildung 2: Quelle: NKR, Destatis. @FuW_News | @KeineWunder bsky.social @mastodon.social

Nachfrageschwäche bremst Aufschwung

Die jüngste Inflationsphase ab 2021 hat ganz nebenbei die »Lohnzurückhaltung« zurückgebracht, einen Euphemismus, den der neoliberale Zeitgeist tief ins deutsche Gedächtnis eingebrannt hat. Dabei ist heute eigentlich allen klar, die sich die Zahlen anschauen: Die Einkommensverluste durch die Inflation sowie die folgende Nachfrageschwäche sind die offensichtlichsten Bremsklötze für einen Aufschwung. Trotz der starken Exportabhängigkeit macht die deutsche Wirtschaft immer noch Dreiviertel ihres Umsatzes im Inland.

Es ist daher kein Wunder, dass die Unternehmen ohne große Aufregung und Murren sogar die Erhöhung des Mindestlohns im Jahr 2022 hinnahmen, die die Ampelkoalition durchgesetzt hat: Nach Abzug der Inflation liegt er heute 10% höher als 2020. Die Manager erinnern sich an das Jahrzehnt nach der Finanzkrise, das deutlich machte, dass ein Aufschwung nur bei steigenden Löhnen möglich ist (vgl. Abbildung 1). Heute versuchen die Unternehmen, deutlich mehr Beschäftigte zu halten, als sie für die erlahmende Produktion brauchen. Die Umfragen des Münchner Ifo-Instituts im Auftrag der EU-Kommission bestätigen das jeden Monat (vgl. Abbildung 3).

Die Folgen sind klar erkennbar: Um 1,9% stieg die Arbeitszeit der Arbeitnehmer in Deutschland im Vergleich zum ersten Quartal 2022 (vgl. Abbildung 4). Das ist natürlich viel zu viel, um ein nahezu stagnierendes Bruttoinlandsprodukt zu produzieren. Der Anstieg ist aber auch logisch, wenn die Unternehmen jedes Jahr weniger in die Verbesserung ihrer Produktivität investieren, also in bessere Maschinen und Anlagen: Sie brauchen mehr statt weniger Arbeitsstunden für einen Euro Gewinn- oder Lohneinkommen.

Alle, die vom laufend schrumpfenden Arbeitsvolumen der Deutschen fabulieren, greifen eindeutig ins Rezeptregal der abgedroschenen »Strukturreformen«. Egal, was ein zuletzt erhöhter Krankenstand nahelegen oder die demografische Zukunft noch bringen mag: Die Deutschen arbeiten nicht zu wenig, sondern zu viel. Dabei stellt sich die Frage, wie lange die Unternehmen dies noch mitmachen? Es könnten Entlassungen folgen.

Abbildung 3: Quelle: EU (via Ifo). @FuW_News | @KeineWunder bsky.social @mastodon.social
Abbildung 4: Quelle: Destatis. @FuW_News | @KeineWunder bsky.social @mastodon.social

Populismus gegen Arme

Gewaltig vergriffen haben sich auch die Politiker und ihre Ökonomenfreunde, die den Deutschen weismachen wollen, ein Großteil der Probleme resultiere aus zu hohen Sozialleistungen. Dabei steht das reformierte Arbeitslosengeld II, das heute unter dem Namen Bürgergeld firmiert, ganz oben auf der Liste. Gerade in Krisenzeiten wissen Politiker nur zu gut, was sie ihrer Klientel an moralischem Beistand bieten müssen.

Auch wenn sie es nicht immer offen aussprechen, haben sie dabei ideologische Aufbauarbeit im Sinn: etwa für den sozialdemokratischen Facharbeiter mit Spitzengehalt, der sich seinen Aufstieg redlich erarbeitet hat. Die liberalkonservative Version klingt nicht viel besser. Das hat alles nur einen Haken: Wer den Existenzdruck auf die Ärmsten der Armen erhöht, zersetzt auch den Zusammenhalt in der Mittelschicht.

Seit der Hartz-IV-Reform 2005 müssen alle fürchten, bei einem plötzlichen Schicksalsschlag unverschuldet den Großteil ihres Ersparten zu verlieren. So fördert die Politik eine Haltung, in der sich jeder selbst der Nächste ist. Das ist der perfekte Nährboden für Populismus, denn die Keule des sozialen Abstiegs schwebt nun über allen. Zuvor war wenigstens noch ein halbes Nettogehalt unbefristet in der Arbeitslosenhilfe drin, mit den Hartz-IV-Reformen ist diese aber abgeschafft worden.

Egal, ob es die zurecht Frustrierten sind, die nach Jahren im Niedriglohnsektor nur eine mickrige Rente erwarten können, oder die Frustrierten, die trotz bescheidenem Wohlstand am Ende doch nicht den erhofften Karriereaufstieg geschafft haben: Leider verfängt bei ihnen die Hetze gegen Migranten besonders gut, gleichgültig ob sie von der rechtsextremen AfD oder dem reaktionären BSW kommt.

Dabei gehört es einfach zum menschlichen Anstand einer Gesellschaft, die Ärmsten der Armen nicht verhungern zu lassen. Genau darum geht es beim Bürgergeld: Es verhindert gerade einmal, dass Bedürftige, aus welchen Gründen auch immer, betteln müssen. Wer meint, dass Leistungsempfänger ein anständiges soziales Leben führen könnten, sollte selbst einmal versuchen, mit den Regelsätzen über die Runden zu kommen. Jeder Vergleich mit der teuren Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens verbietet sich von selbst.

Ausgaben für Grundsicherung sind gesunken

Bemerkenswert ist, dass die Deutschen heute viel weniger für die Ärmsten der Armen ausgeben als vor fast fünfzehn Jahren. 2010, kurz nach der Finanzkrise, waren es noch 1,4% des erarbeiteten Einkommens, das Ökonomen Bruttoinlandsprodukt nennen. Als 2015 die erste Flüchtlingsbewegung aus Syrien und anderen Ländern kam, waren es dank des damaligen Aufschwungs nur noch 1,2%. Die Summe sank bis auf 0,9% im Inflationsjahr 2022 (vgl. Abbildung 5). 

Auch nach den späteren Fluchtbewegungen aus der Ukraine ab 2022 und nachdem die Regelsätze Anfang 2024 zur Kompensation der Teuerung (um 12% für Alleinstehende) erhöht wurden, gibt es nichts Dramatisches zu berichten: Hochgerechnet mit der Prognose des Kieler Instituts für das Bruttoinlandsprodukt und dem Zuwachs der Leistungsansprüche im ersten Quartal dieses Jahres ergibt sich ein Anstieg von 1,0% des Gesamteinkommens von 2023 auf 1,1% in diesem Jahr.

Abbildung 5: *Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II, bis 2022: Arbeitslosengeld II (Hartz IV): Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts, Mehrbedarfe und Kosten der Unterkunft. Quelle: BA, Destatis, BT. @FuW_News | @KeineWunder bsky.social @mastodon.social

Selbst nach zwei Fluchtbewegungen zahlen die Deutschen also immer noch weniger ihres Einkommens für ihre Ärmsten als 2015. Natürlich hatte Angela Merkel recht, als sie damals sagte: »Wir schaffen das«. Wenn Reaktionäre wie Friedrich Merz oder Sahra Wagenknecht im Wahlkampf mit ihrer zur Schau gestellten Ahnungslosigkeit punkten wollen, haben sie nur den nächsten Gipfel der Schäbigkeit erreicht.

Da zählt auch nicht, dass 2010 nur 19% der Leistungsansprüche von Ausländern kamen und es 2023 bereits 47% waren. Die Deutschen müssen sich entscheiden, ob sie wirklich als das Volk Europas gelten wollen, das sich komplett von seiner Barmherzigkeit verabschiedet hat. Auch die Spitzenpolitiker liberaler oder christlicher Parteien spielen gefährlich mit dem Feuer, wenn sie Großteils bei Geflüchteten die Hilfen kürzen wollen.

Das gilt auch für diejenigen, die das Sozialsystem ausnutzen und jede Arbeit verweigern. Natürlich wird es einige geben, die auf Kosten der Allgemeinheit leben. Aber Missbrauch lässt sich nie ganz verhindern. Wer sich eine Karriere mit »Hartzen« und Schwarzarbeit zusammenbastelt, verdient kein Mitgefühl, sondern eher Mitleid. Aber muss eine Gesellschaft das nicht aushalten können?

Mit dem Bürgergeld ist der Lohnabstand gewachsen  

Offiziell hat die Bundesagentur für Arbeit (BA) in den zwölf Monaten bis April die Leistungen bei 22.000 Menschen wegen Arbeitsverweigerung gekürzt. Wer hier eine weichere Haltung der Jobcenter seit Einführung des Bürgergelds Anfang 2023 vermutet, sollte eine wichtige Tatsache im Kopf behalten: Nur bei maximal 200.000 Menschen kann überhaupt der Verdacht geäußert werden, dass sie eine Arbeit nicht annehmen, obwohl sie könnten, wie Daniel Terzenbach erklärt 1 Unter: Arbeitsmarkt Juli 2024 Audios und Transkriptionen: Überblick über die Grundsicherung für Arbeitssuchend , Vorstand bei der Bundesagentur für Arbeit.

Das sind gerade mal 5% der 4 Millionen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Das aber heißt eben nicht, dass alle diese Menschen tatsächlich die Arbeit verweigern. Vielmehr erfasst die BA bei ihnen keine konkreten Vermittlungshemmnisse. Dazu zählen fehlende Kinderbetreuung in einer Kommune, erhebliche Sprachprobleme oder psychische Beeinträchtigungen. Konservativ geschätzt, handelt es sich also um eine fragliche Unterstützungssumme, die im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt kaum 0,05% ausmacht (grober Überschlag: 5% von 1,1% des BIP).

Es ist daher absurd, wenn jemand ernsthaft behauptet, dass fehlende Anreize zum Arbeiten die Stagnation der Wirtschaft erklären oder, wie Friedrich Merz, einen explosionsartigen Anstieg der Kosten für das Bürgergeld herbeifabuliert. Wenn der Mindestlohn als natürliche Schranke dient, an der sich das Bürgergeld messen muss, so lässt sich klar sagen: Der Lohnabstand ist in der Zeit der Ampelkoalition nicht kleiner, sondern größer geworden. Denn bevor die Regelsätze Anfang 2024 um 12% angehoben wurden, lagen sie immer noch 5% unter dem Niveau von 2020. Seither hat sich überhaupt keine Chance ergeben, den Mindestlohn mit seinem Plus von 10% einzuholen (vgl. Abbildung 6).

Abbildung 6: *Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II, bis 2022: Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Quelle: Destatis, BT. @FuW_News | @KeineWunder bsky.social @mastodon.social

Auch die Forscher des Ifo-Instituts haben im Frühjahr errechnet, dass nach der Erhöhung der Regelsätze um 12% (für Alleinstehende) zu Beginn des Jahres Arbeit in Deutschland immer zu einem höheren Einkommen führt als »Nichtstun«. »Die von manchen Politikern aufgestellte Behauptung, wer nur Sozialleistungen beziehe, bekomme netto mehr als ein Geringverdiener, ist schlicht falsch«, zitiert das Institut den Ifo-Forscher Andreas Peichl.

Neue Berechnungsmethode ist berechtigt

Am Ende bleibt es eine Frage der Abwägung: Ist eine Verschärfung des Leistungsbezugs wirklich zumutbar? Was wird der Mehrheit der Bedürftigen angetan, wenn die Politik den Leistungsbezug verschärft, wie die Koalition es im aktuellen Budgetstreit beschlossen hat?

Die Politik sollte sich bewusst machen, dass die Leistungsberechtigten die größte Last der Inflationsjahre zu tragen hatten (vgl. Abbildung 7). Seit Anfang 2020, dem Beginn der Pandemie, summiert sich der reale Verlust nach Abzug der Inflation immer noch auf 41% des Einkommens im ersten Quartal 2020. Durchschnittslohnempfänger kommen hier nur auf einen Verlust von 36% eines Monatsgehalts, ebenfalls gemessen an der Produktivitätssteigerung, also dem Einkommen pro Kopf.

Dass die Regelsätze Anfang 2024 stärker angehoben wurden, hat mit der neuen Berechnungsweise des Bürgergelds im Vergleich zu Hartz IV zu tun. Dabei wird die Preisentwicklung nun stärker berücksichtigt als die Lohnentwicklung. Tatsächlich fiel der reale Anstieg höher aus, als es den Lohnempfängern und ihren Gewerkschaften bislang als Inflationsausgleich gelungen ist, durchzusetzen. Doch wird sich dies in den nächsten Monaten angleichen, zumal beim Bürgergeld im nächsten Jahr eine Nullrunde bevorsteht.

Wie berechtigt die neue Berechnungsweise jedoch ist, zeigt sich an der verzögerten Anpassung der Hartz-IV-Sätze, die früher zu enormen Einkommensverlusten geführt hat. Die aufgelaufenen Verluste sind durch die Erhöhung der Regelsätze auch nur von 48% auf 41% des ursprünglichen Einkommens von Anfang 2020 gesunken. In realer Rechnung sind die Kosten für die Gesellschaft sogar gesunken, denn die Zahlungsansprüche fielen nach Abzug der Inflation um fast ein Prozent von 2020 bis 2024, wenn die ukrainischen Geflüchteten nicht mitgezählt werden (vgl. Abbildung 8).

Abbildung 7: Quelle: Destatis, BT. @FuW_News | @KeineWunder bsky.social @mastodon.social
Abbildung 8: *Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II, bis 2022: Arbeitslosengeld II (HartzIV): Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts, Mehrbedarfe und Kosten der Unterkunft. Quelle: BA, Destatis, BT. @FuW_News | @KeineWunder bsky.social @mastodon.social

Die Agenda-Lüge

Die große Aufregung um das Bürgergeld lässt sich also weder durch die Kosten noch durch fehlende Arbeitsanreize erklären. In den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit lässt sich nichts finden, was darauf hindeutet, dass erwerbsfähige Menschen verstärkt in den Bezug des Bürgergelds gewechselt seien – weder durch die Einführung des Bürgergelds 2023 noch durch die Erhöhung der Sätze 2024 (vgl. Abbildung 9).

Stattdessen verbreiten konservative Ökonomen wie Ifo-Chef Clemens Fuest in feinster trumpistischer Manier alternative Fakten. Dass er damit die Forscher seines eigenen Instituts konterkariert, scheint ihm dabei gleichgültig zu sein, wenn er im großen Handelsblatt-Interview im August sagt: »Dass es sich für große Teile der Bevölkerung wegen unseres Steuer- und Transfersystems nicht lohnt zu arbeiten, ist ein riesiges Problem.« Hat er vielleicht das Memo seiner Forscher nicht erhalten, in dem es heißt, dass sich Arbeit in Deutschland immer lohnt?

Fuest hat wahrscheinlich die vermeintlichen Segnungen der Hartz-Reformen von 2003 bis 2005 im Sinn, wenn er jetzt eine Agenda 2030 fordert. Doch wenn die Deutschen heute 1,9% mehr arbeiten als 2022 und das Bruttoinlandsprodukt stagniert, stellt sich die Frage, was genau hier reformiert werden muss? Es hat sich längst ein hartnäckiger Mythos um die Agenda gebildet, der den Reformen eine gewaltige Rolle zuschreibt, wie Deutschland damals aus der wirtschaftlichen Lähmung kam.

Der riesige Niedriglohnsektor, den die jüngsten Mindestlohnerhöhungen mit einem Schlag auf das Niveau der Mitte der Neunzigerjahre geschrumpft haben, bildete sich größtenteils vor den Agenda-Reformen heraus. Die große »Lohnzurückhaltung« begann schon 1995. Rezepte wie diese haben Deutschland aber erst zum »Kranken Mann Europas« gemacht.

Zugegeben, die Unternehmen konnten ihre Lohnnebenkosten mit den Agenda-Reformen etwas senken, weil die Agenda auch die Frühverrentung einschränkte, die zuvor dazu diente, Arbeitslosigkeit in der missglückten Währungsunion von 1990 aufzufangen. Positive Effekte am Arbeitsmarkt hatten vor allem die Hartz-Reformen I bis III, wie verschiedene Studien zeigen. Am Ende konnten Arbeitslose schneller in neue Arbeitsplätze vermittelt werden, was eines der Hauptziele der Reform war. Leiharbeit ging zwar zurück, von 1 Million 2018 auf zuletzt 800.000. Doch die Zahl der Minijobs liegt mit mehr als 7,6 Millionen immer noch deutlich über den 4 Millionen von 2002.

Gleichzeitig ist die Zahl der Menschen in unsicheren Jobs sowie die Zahl der von Armut bedrohten Menschen nach den Reformen gestiegen, was insbesondere mit der umstrittenen Hartz-IV-Reform zusammenhängt. Bis heute gelingt es Ökonomen nicht, die positive Wirkung dieser Reform eindeutig zu beziffern. Die letzte Studie aus dem Jahr 2018 war methodisch so unsauber, dass selbst Journalisten ohne große Kenntnisse in Modellmathematik sie kritisieren konnten.

Abbildung 9: *Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II, bis 2022: Arbeitslosengeld II (Hartz IV). @FuW_News | @KeineWunder bsky.social @mastodon.social
Abbildung 10: Grau = Rezession nach SVR oder 2 Quartalsregel. Quelle: Destatis. @FuW_News | @KeineWunder bsky.social @mastodon.social

Fakt ist jedoch, dass der deutsche Exporterfolg nach 2004 zeitlich mit einem weltweiten Wirtschaftsboom zusammengefallen ist, von welchem Deutschland heute nur träumen kann. Auch das gehört zur Nachfrageschwäche, unter der Deutschland heute leidet. In dem Jahrzehnt ab 1995 hatten die deutschen Unternehmen ihre Kosten vor allem durch Outsourcing gesenkt, durch die Reorganisation von Fabriken und Management sowie durch den Aufbau von Lieferketten in Mittel- und Osteuropa.

Wer heute mit der »Agenda 2030« sinnvolle Reformen oder eine endlich bessere Infrastruktur fordert, sollte dringend die Nachfrageschwäche angehen. Die ist nämlich schon längst zum Strukturproblem geworden. Wie zu Zeiten ihres Vorbildes vor zwanzig Jahren bremsen derzeit die realen Einkommensverluste das Wachstum aus. Nicht wenige Reformvorschläge wie für Bürgergeld sind da sogar kontraproduktiv, unanständig sind sie sowieso.