Die Debatte um die Krisenkosten: Versuch einer Klarstellung
Wer muss die Kosten für die Krisen und Herausforderungen unserer Zeit tragen? Steuerzahler, Bürgergeldempfänger oder künftige Generationen? Was sind überhaupt die realen Kosten dieser Herausforderungen? In einer Replik auf Mark Schieritz geht der Ökonom Dirk Ehnts auf diese Fragen ein.
In einem Leitartikel mit dem Titel „Rettende Notlage“ argumentiert Mark Schieritz in der ZEIT, dass die Wähler sich entscheiden müssten, wer für die Kosten aufkommen soll, die mit den Kriegen und Krisen unserer Zeit einhergehen. Um diese Frage müsse es in der aktuellen Haushaltsdebatte gehen. Als Gruppen nennt er die Steuerzahler, die Empfänger staatlicher Tranferzahlungen oder die zukünftigen Generationen. Dieser Diskurs basiert auf wirtschaftstheoretischen Vorstellungen, die längst überholt sind. Seit mehr als einem halben Jahrhundert zahlen wir mit digitalem Geld. Im Folgenden möchte ich deshalb versuchen, das Zusammenspiel von Ressourcen und Geld über Generationen hinweg vorzustellen und daraus abzuleiten, welche Möglichkeiten bei einer Belastung mit „Kosten“ realistisch sind.
Unseren Wohlstand haben wir geerbt
Bei der Analyse des Geldsystems ist streng zu trennen zwischen Ressourcen und Geld. Zu den Ressourcen gehören Rohstoffe, Energie, Maschinen, Computer, Patente, Land, Immobilien und auch Arbeitskräfte. Letztere spielen allerdings eine Sonderrolle, denn sie sind gleichzeitig Ressourcen und auch Empfänger der Konsumgüter, der öffentlichen Güter und Dienstleistungen sowie Genießer der Natur. Ressourcen sind begrenzt. Das bedeutet, dass „Knappheit“ ein Problem sein kann, wenn es eine große Nachfrage nach Ressourcen gibt. Als Gesellschaft müssen wir dann entscheiden, wie wir mit der Knappheit umgehen. Mit Geld hat das erstmal nichts zu tun. Ressourcen sind knapp, und Güter, die durch eine Kombination von Ressourcen unter Hinzufügung von Energie produziert werden, sind dann auch knapp. Das war schon so vor 5.000 Jahren so, bevor es modernes Geld gab.
Die Menschen in diesen vor-modernen Gesellschaften konnten entscheiden, was sie mit ihren Ressourcen anstellen würden. Entweder sie erzeugten Konsumgüter, die dann verbraucht wurden, oder sie erzeugten dauerhafte Kapitalgüter wie Felder, Häuser oder Infrastruktur wie Kanäle und Straßen. Während Konsumgüter untergingen, konnten Kapitalgüter und Infrastruktur auch von zukünftigen Generationen genutzt werden. Der Bau des 1782 Kilometer langen Kaiserkanals in China wurde im Jahr 485 v.u.Z. begonnen und 1290 beendet. Er wird noch heute genutzt. Diese Sicht auf die Ressourcen ist für uns als Gesellschaft wichtig. Wir sind in der physischen Welt verankert und Geld kann man ja bekanntlich nicht essen. Konsumgüter machen den „Reichtum der Nation“ aus, wie Adam Smith in seinem gleichnamigen Werk bereits feststellte. Allerdings sind die meisten Konsumgüter nicht sehr langlebig und lassen sich daher nicht sparen. Lebensmittel lassen sich einfrieren oder trocknen, Textilien zerfasern langsam, Möbel werden morsch und Autos verrosten.
Dirk Ehnts
Wir geben daher als Menschheit von Generation zu Generation langlebige Kapitalgüter und Infrastruktur weiter, so wie den Kaiserkanal und in moderner Zeit auch Autobahnen, Kanäle, Gebäude unterschiedlichster Art und Maschinen bis hin zu Autos und langlebigen Werkzeugen. Das ist der Grund, warum ein Land wie Deutschland reich ist. Wir haben viel urbar gemachtes Land, viele Gebäude und Maschinen (Fabriken), und viele Arbeitskräfte, die diese Kapitalgüter samt Infrastruktur in die Erzeugung einer großen Menge an Konsumgütern nutzen. Selbst das völlige Entwerten des Geldes in der Hyperinflation von 1923 hat dieses Produktionssystem nicht zerstört, auch nicht die Phase der Deflation Anfang der 1930er Jahre oder andere monetäre Phänomene. Die zwei Weltkriege haben Wohlstand gekostet, weil viel zerstört worden ist (woanders teilweise noch mehr als in Deutschland) und viele Menschen im Krieg und schon vor dem Krieg gestorben sind.
Wir haben unseren Wohlstand also quasi geerbt. Die Kosten der Kapitalgüter und der Infrastruktur, die uns so in den Schoß gefallen sind und an deren Erhalt bzw. Ersatz wir jeden Tag arbeiten müssen, sind reale Kosten. In der Vergangenheit haben Gesellschaften Ressourcen aufgewendet, um z.B. Zugverbindungen oder Kanäle, Hochöfen und Deiche zu bauen. Die dabei eingesetzten Ressourcen konnten nicht verwendet werden, um Konsumgüter zu produzieren. Dadurch mussten diese Gesellschaften ein geringeres Niveau an Konsum akzeptieren, als sie gehabt hätten, wenn sie alternativ die Ressourcen für die Produktion von Sommerhäuschen auf dem Lande, künstliche Seen zum Angeln oder landwirtschaftlichen Erzeugnissen genutzt hätten. Diese Reduktion der Lebensqualität lässt sich heute nicht mehr kompensieren. Die Gesellschaft hat damals so entschieden, und heute haben wir dadurch einen Vorteil. Mit Geld können wir die Erbauer nicht mehr entschädigen, denn sie sind ja tot. Auch können wir keine Konsumgüter per Zeitreise in die Vergangenheit schicken.
Die Kosten der Transformation
Die „Kosten“ für die Investitionen einer Gesellschaft in langlebige Kapitalgüter und Infrastruktur bestehen also darin, dass die Konsumgüterproduktion geringer ausfällt als andernfalls. Alle Bürger werden daran beteiligt, je nach Ausgestaltung der Verteilung der Einkommen und Vermögen. Diese Anpassung des Konsums an die Konsummöglichkeiten passiert automatisch. Es ist unmöglich, dass die Bürger mit ihrem Geld mehr kaufen, als produziert worden ist. (Natürlich gibt es noch Import und Export, aber das ändert am grundsätzlichen Prinzip der „Kosten“ hier nichts.) Es kann sein, dass es zu einer Inflation kommt, wenn von Konsumgüterproduktion umgestellt wird auf die Produktion langlebiger Güter. Es kann aber auch sein, dass die Beschäftigung steigt, weil noch Arbeitslosigkeit vorhanden war. In diesem Falle ist die Steigerung der Investitionen „kostenlos“ – sie wird eben nicht durch ein Absinken des Konsums erkauft, weil nun die Ressource „Arbeit” besser ausgenutzt wird.
Die Grenzen der Wirtschaft liegen dabei in den Ressourcen begründet, auf welche diese Zugriff hat. „Anything We Can Actually Do, We Can Afford“, formulierte es der englische Ökonom John Maynard Keynes 1942 bei BBC Radio. Für den Wiederaufbau des Landes brauchte es Ziegelsteine, Beton, Stahl und Arbeitskräfte wie Ingenieure und Bauarbeiter. Sofern diese vorhanden wären, so Keynes, gäbe es kein Problem. Wer kommt also für die „Kosten“ auf? Sind es Steuerzahler, die Empfänger staatlicher Transferzahlungen oder die zukünftigen Generationen? Nein, es sind erstmal die Bürger aus der Nachkriegszeit, die ihre Ressourcen und ihre Arbeitszeit in den Wiederaufbau des Landes investiert haben. Die zukünftigen Generationen können keinerlei Beitrag zu diesem Projekt leisten, weil es sie noch gar nicht gibt. Sie können weder Arbeit noch Geld beitragen. Wenn sie so weit sind, dass sie das können, ist schon alles gebaut. Die Arbeiter sind alt, und wenn das als gerecht empfunden wird, können die Renten ein bisschen höher ausfallen. So können Geldströme von denen, die in die Sozialversicherungen einzahlen, umgelenkt werden zu denen, die von den Auszahlungen profitieren. Nur in diesem Sinne können künftige Generationen beteiligt werden an den Kosten, wenn es um Investitionen geht. Allerdings findet dies ein Ende, wenn die alte Generation verstirbt.
Wie aber passt nun das Geldsystem zu diesen Ausführungen? Welche Rolle spielen jetzt die Steuerzahler in dem Ganzen? Und was ist mit den Schulden, die wir den zukünftigen Generationen hinterlassen? Bei den staatlichen Ausgaben für eine sozial-ökologische Transformation, um die es hier ja geht, ist es ganz einfach. Die Staatsausgaben der Bundesregierung werden immer mit Geldschöpfung der Bundesbank gezahlt, die im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen handelt. Sie belastet dabei täglich neu das Regierungskonto bei der Bundesbank, welches durch Steuern ebenfalls täglich wieder aufgefüllt wird. Jegliche Differenz wird durch das Aufbuchen von Erlösen aus Staatsanleihenverkäufen ausgeglichen, damit die Nettogeldschöpfung der „Hausbank des Staates“ (Bundesbank über Bundesbank) null ist. Eine direkte Staatsfinanzierung ist ja verboten und somit hält sich die Bundesbank an geltende Gesetze.
Das bedeutet, dass die „Finanzierung“ (eigentlich sind es ja Rückflüsse und keine Finanzierung) der Staatsausgaben immer automatisch abläuft. Ein Teil der Rückflüsse läuft über Steuern, ein anderer Teil über Staatsanleihenerlöse. Letztere erhöhen die „Staatsschulden“. Allerdings bestimmt jede Generation selbst über die Höhe der Staatsausgaben, die Steuerarten und die Steuersätze. Wir müssen also nicht damit rechnen, dass heutige Erhöhungen der „Staatsschulden“ dazu führen, dass zukünftige Generationen die Steuersätze erhöhen müssen und somit Wohlfahrtseinbußen erleiden. Die Zahlungsfähigkeit in der Eurozone hängt einzig und allein davon ab, ob die EZB die nationalen Regierungen unterstützt oder nicht. Bis Mario Draghi 2012 etwa davon sprach, er würde den Euro retten „whatever it takes“, unterstützte die EZB die nationalen Regierungen der Eurozone nicht und trieb die griechische Regierung dadurch bei einem Schuldenstand von 130% des BIP in die Zahlungsunfähigkeit. 2020 waren 210% „Staatsschulden“ der griechischen Regierung dann kein Problem mehr aufgrund der Ankaufprogramme der EZB, die damit den Investoren signalisierte Käufer letzter Hand zu sein und so das Ausfallrisiko de facto auf null reduzierte.
Die Finanzierungsfrage: ein falsches Dilemma
Wer trägt also die „Kosten“ der sozial-ökologischen Transformation? Die Antwort kann nur lauten: wir. Wie vorige Generationen in den Wiederaufbau des Landes investiert haben, müssen wir heute in die Transformation unseres Landes investieren. Wir tragen dafür die Kosten. Das aber heißt: Unsere Gesellschaft muss (mehr) Arbeitskräfte im privaten und öffentlichen Sektor einsetzen, um bestehende Infrastruktur umzubauen und zu modernisieren, um regenerative Energien zu fördern, systemrelevante Berufe besser zu bezahlen, soziale Härten abzufedern, und weitere Investitionen durchzuführen. Staat wie Unternehmen können dafür Geld einsetzen, was Zentralbank und Banken erzeugen – das sind keine „Kosten“. Die echten Kosten sind die Opportunitätskosten, der Verzicht auf eine alternative Verwendung der Ressourcen zur Produktion von Konsumgütern. Allerdings würde eine solche Verwendung der Ressourcen dazu führen, dass uns Kosten durch Krisen in den Bereichen Klimawandel, Extremwetterereignisse oder soziale Unruhen entstehen. Ein „Weiter so“ kann und darf es deshalb nicht geben, weil dessen reale Kosten (durch Zerstörungen, die Ressourcen vernichten) höher ausfallen würden als die eines Green New Deal (durch den Einsatz von Ressourcen).
Wenn Mark Schieritz also schreibt, dass wir uns entscheiden müssen, „wer für die Kosten aufkommen soll“, dann stimme ich ihm zu. Die Kosten durch entgangenen Konsum würden über steigende Preise oder geringeres Einkommenswachstum bzw. steigende Steuern alle treffen, sofern die Politik nicht in die Verteilung eingreift. Subventioniert die Regierung teure Elektroautos und besteuert sie arme Pendler, dann verändert sie die Kaufkraft in der Gesellschaft, ohne dass dies etwas mit den realen Kosten zu tun hat. Reale Kosten fallen hingegen an, wenn es wirklich zu einer Reduktion der Konsumgüterproduktion kommt bzw. zu einer Reduktion des Konsums. Dagegen ist jedoch zweierlei einzuwenden. Erstens ist Deutschland Nettoexporteur. Höhere Löhne könnten dazu führen, dass die Arbeiter mehr von ihrer eigenen Produktion verkonsumieren und weniger exportiert wird. Zweitens haben wir mehr als 2,5 Millionen Menschen, die aktuell arbeiten möchten, aber keinen Arbeitsplatz gefunden haben, und dazu noch Unterbeschäftigung mit einer stillen Reserve von etwa 3 Millionen Menschen. Sofern diese im Rahmen einer sozial-ökologischen Transformation aktiviert werden können, kann es sein, dass die realen Kosten nahe null sein werden. Das sind eigentlich ganz gute Nachrichten.
Doch leider werden diese komplett durch die Diskussion der Schuldenbremse überlagert. Die von Schieritz gestellte „Finanzierungsfrage“, die keine Grundlage in der Realität hat, wird zur politischen Wahl zwischen Pest und Cholera: Grüne Investitionen belasten in diesem gedanklichen Rahmen entweder die heutige Generation über Steuern bzw. die „Empfänger staatlicher Transferzahlungen“ über Kürzungen – oder sie belasten „künftige Generationen“ durch eine Reform der Schuldenbremse und eine entsprechende „Schuldenfinanzierung“. Politische Mehrheiten wird es wohl für beide diese Optionen nicht geben.
Die Politik sollte sich deshalb von überholten Geldvorstellungen abwenden, wenn sie ernsthaft an zukunftsorientierten Investitionen interessiert ist. Nur dann kann sie ein Angebot machen, welches die Wähler akzeptieren: Wir geben einfach mehr Geld aus und nur die, die dadurch mehr Einkommen erzielen, zahlen mehr Steuern. Die Differenz zwischen Ausgaben und Steuern erhöht die Staatsverschuldung, aber das ist noch kein Problem an sich und führt nicht automatisch zu mehr Inflation. Die Preise bleiben stabil, wenn wir die Beschäftigung und damit den Output erhöhen. Dabei achten wir darauf, dass der Ressourcenverbrauch nicht überstrapaziert wird und die Verteilung nicht aus dem Ruder läuft. Mit diesen Argumenten hat auch die Regierung Biden ihre Infrastrukturprogramme mit sozial-ökologischen Komponenten und ihre Industriepolitik erfolgreich verkauft.