Die Demokratie verfällt, doch was kommt danach? 

Der Politikwissenschaftler Veith Selk hat mit Demokratiedämmerung ein vielbeachtetes und düsteres Buch vorgelegt, das einen kalten Blick auf den Verfall der Demokratie wirft. Im Anschluss an die Lektüre stellt sich die Frage, ob wir nicht längst in der Oligarchie leben – und ob sich die Demokratie wieder erkämpfen lässt.

Demokratische Politik erscheint vielen Menschen heute als praktisch unwirksam und undurchschaubar. Während die politischen Eliten die Demokratie preisen, wächst die Entfremdung ihr gegenüber. Die tiefgreifenden Veränderungen in der Parteienlandschaft und der Aufstieg der Rechten sind Ausdruck dieser Entwicklung.

Doch sind all diese Phänomene auch Symptome des Verfalls der Demokratie selbst? Der Politikwissenschaftler Veith Selk hat mit seinem Buch Demokratiedämmerung – Eine Kritik der Demokratietheorie eine Studie vorgelegt, die wie kaum eine andere die tiefgreifenden Krisen der westlichen Demokratie – und die Unfähigkeit, ihnen sowohl intellektuell als auch praktisch zu begegnen – aufzeigt. Seine Ergebnisse sind düster. Denn nach Selk erleben wir derzeit womöglich das Ende der Demokratie, die beginnt, sich in etwas Neues zu verwandeln, ohne dass die Begriffe der Demokratietheorie mithalten können.

Selk verfolgt dabei grob zwei große Denkbewegungen. Im ersten Teil der Studie weist der Politikwissenschaftler nach, dass die modernen Demokratien sich in der Phase ihrer Devolution befinden. Damit ist gemeint, dass die Demokratie angesichts sich beschleunigender gesellschaftlicher Veränderungen anachronistisch wird: Der fortschreitende Modernisierungsprozess untergrabe »zentrale politische, ökonomische wie soziokulturelle Pfeiler der Demokratie«.

Demgegenüber kartografiert Selk im zweiten Teil die akademische Disziplin der Demokratietheorie und zeigt dabei, dass sich ihre großen Strömungen vor dieser Wirklichkeit blamieren – von radikaldemokratischen Modellen etwa bei Chantal Mouffe über die deliberativen Modelle im Gefolge von Jürgen Habermas bis zu den liberalen Modellen etwa bei Robert Dahl. Nicht nur die Demokratie befindet sich nach Selk in einer tiefen Krise – mit ihr gerät auch das Paradigma der Demokratietheorie ins Wanken.

Matthias Ubl

Matthias Ubl ist freier Journalist und schreibt u.a. für ZEIT ONLINE und das Jacobin Magazin. Er ist außerdem Host des Videopodcasts Jacobin Talks.

Die Devolution der Demokraite

Die Devolution der Demokratie ist von vier verschiedenen Prozessen bestimmt. Selk diagnostiziert erstens eine gesteigerte Politisierung, die zu Legitimationsproblemen führe. Damit ist gemeint, dass keine »soziale Sphäre und kein Sachverhalt« mehr vor Politisierung »geschützt« sei, dass dabei aber Partizipationsmöglichkeiten selbst extrem ungleich verteilt sind. Zugespitzt: Vor allem soziökonomisch wie bildungsmäßig Bessergestellte partizipierten an politischen Aushandlungen, die sich heute auch auf ehemals private Bereiche des Lebens beziehen. Hinzu kommt nach Selk zweitens eine Differenzierung und Komplexitätssteigerung politischer Prozesse: die Entscheidungen und Nichtentscheidungen fänden in immer heterogener werdenden Arenen und Politikfeldern statt und seien für Bürgerinnen und Bürger schwer zuzuordnen.

Diese Komplexitätssteigerung träfe drittens auf eine wachsende »Kognitionsasymmetrie« innerhalb der Bürgerschaft, deren Ausmaß sich in einer Zahl anschaulich manifestiert: Von den 51,5 Millionen deutschsprachigen Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren erreichen 16,8 Millionen Menschen nicht das Grundschulniveau des Schriftdeutschs. Da zwischen Literalität und politischer Teilhabe aber ein kausaler Zusammenhang bestehe, seien diese Menschen in hohem Maße von der politischen Kommunikation und Partizipation ausgeschlossen.

Diese Kognitionsasymmetrien träfen auf eine Kommunikation der politischen Eliten, die in hohem Maße durch »Manipulationsversuche, politische Werbung und rhetorische Täuschungsmanöver« charakterisiert ist. Selk zufolge sind in der Demokratie die verschiedenen politischen Akteurinnen und ihre Interessensgruppen geradezu strukturell auf die Erzeugung politischer Propaganda angewiesen, die eigene partikulare Anliegen und Machtinteressen verschleiert. Aus diesen Entwicklungen entstehe nach Selk ein »legitimatorisch problematisches Auseinanderdriften zwischen gewachsenen Ansprüchen der Demokratie und (…) dem stärkeren Bewusstwerden des opaken Charakters von Politik und der gesellschaftlichen Verhältnisse«.

Den vierten Prozess der Devolution beschreibt Selk als »Ende des demokratischen Kapitalismus«. Der sozialstaatlich eingehegte Kapitalismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Ländern entstanden ist, habe es geschafft, Wohlstand umzuverteilen und die politische Asymmetrie zwischen der einflussreichen Oberklasse und den Unterklassen abzumildern. Zumindest tendenziell habe sich diese Spielart des Kapitalismus dem demokratischen Ideal einer Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger im politischen Prozess angenähert. Jedoch sei die immer schon fragile Ehe zwischen Kapitalismus und Demokratie heute in der Scheidung begriffen: »Infolge der Vertiefung soziopolitischer Ungleichheit werden die bestehenden soziopolitischen Ungleichheiten von effektiver Veränderung abgeschirmt«.

Zugespitzt ließen die Devolutionsprozesse sich im Ergebnis also so zusammenfassen (auch wenn Selk rhetorisch recht neutral bleibt): Während Eliten nach wie vor an immer komplexeren politischen Prozessen teilnehmen, diese bestimmen und dabei auch ökonomisch ihren Vorteil durchzusetzen wissen, ist ein großer Teil des Demos von der Politik entfremdet und nicht mehr in der Lage, deren Komplexität überhaupt nachzuvollziehen.

Die antiquierten Neuen Linken

An einer solchen gesellschaftlichen Realität, so zeigt Selk wiederum mit akademisch gebotener Genauigkeit, scheitert eine Theorie, die etwa eine deliberative Auseinandersetzung in den Mittelpunkt stellt. Tatsächlich üben diskurs- und kommunikationsorientierte Ansätze in der Demokratietheorie heute großen Einfluss in der Politikwissenschaft aus. Genauso scheitern aber auch radikaldemokratische Ansätze – wie etwa derjenige Chantal Mouffes, die den antagonistisch geführten Kampf von breiten zivilgesellschaftlichen Bündnissen um Demokratisierungsfortschritte theoretisiert, und damit erheblichen Einfluss auch auf die Neue Linke ausübte.

Wer mit Mouffes Links-Schmittianismus und ihrem Projekt eines linken Populismus sympathisiert, muss trotz alledem Selks Kritik zustimmen: »Die Verbindung von zahlreichen pluralistischen linken Bewegungen und Initiativen zu einem übergreifenden linken Transformationsprojekt, das die Kerninstitutionen der Gesellschaft verändern soll«, ist gescheitert. Ein solches Projekt hat angesichts der Devolution und der historischen Schwäche der Linken keine Verankerung in der Realität, es konnte den Devolutionsprozessen in den letzten Jahrzehnten auch nichts entgegensetzen.

Mouffe und andere haben das marxistische Modell, in dem der Klassenkonflikt als zentraler Konflikt der kapitalistischen Gesellschaft im Mittelpunkt steht, durch ein Modell pluraler zivilgesellschaftlicher Konfliktlinien um Demokratisierung abgelöst. Doch der Zusammenschluss pluraler Projekte durch Mouffes berühmte Äquivalenzketten ist in der Realität nicht gelungen. Ihre Theorie wurde vielmehr durch die zahlreichen Siege des Kapitals in ihrer Voraussetzung untergraben, nämlich einem halbwegs stabilen »demokratischen Kapitalismus«. Eine Rückkehr zum marxistischen Denken eines zentralen Klassenkonflikts und dessen praktischer Politisierung ist heute umso nötiger: Die diversen Lohnarbeitenden haben nach wie vor ein gemeinsames Interesse gegen das Kapital, das politisch organisiert und politisiert werden kann. Nur in der Adressierung der eigenen Interessen ließe sich möglicherweise auch die von Selk festgestellte Kognitionsasymmetrie partiell durchbrechen, die viele Menschen von demokratischer Politik trennt.

Ein neuer Aufbruch?

Selks Buch eröffnet uns einen kalten Blick auf diese düstere Realität unserer Gesellschaft. Dabei wird deutlich, dass es derzeit kein politisches Projekt mit Machtoptionen gibt, das der Devolution etwas entgegenzusetzen gewillt ist. Die politischen Eliten und ihre Parteien stehen für ein System, das »nur so viel Mitbestimmung zulässt, wie die Reichen verkraften können«, wie es Thomas Zimmermann kürzlich im Jacobin Magazin formulierte. Hoffnung für die Demokratie besteht nur in der Erneuerung eines postkeynesianisch-marxistischen Projekts, das sowohl eine massive staatliche Investitionsoffensive in der Bildung voranbringt – und dabei gleichzeitig den Klassenkampf wieder aufnimmt, um durch radikale Reformen demokratische Verhältnisse zu erkämpfen. Und all das, ohne an seinen eigenen Widersprüchen zu zerbrechen.

Dass hierzulande zumindest einige junge Menschen bereit zu sein scheinen, ein solches Projekt zu verfolgen, zeigt die Austrittswelle bei der Grünen Jugend. Der ehemalige Bundesvorstand versammelt derzeit Aufbruchswillige in einer neuen Organisation, deren Grundüberzeugungen vielversprechend sind. Was daraus wird, ist allerdings offen.