Die Entzauberung der EU

Die Europäische Union ist für viele Politikerinnen und Politiker eine Projektionsfläche für einen künftigen Superstaat. Der Verfassungsrechtler Alexander Thiele entzaubert die gängigen EU-Visionen und bringt mit seinem Buch »Defekte Visionen« endlich Nüchternheit in die Debatte.

Die europäische Union ist ein Problem, das in politischen Sonntagsreden gern als Lösung verkauft wird. Der pathetischen Anrufung Europas durch Politikerinnen und Politiker steht bezeichnenderweise die relative Gleichgültigkeit oder sogar die EU-Skepsis großer Teile der Bevölkerung gegenüber. Spätestens mit dem Brexit hat sich außerdem gezeigt, dass die Spannungen, die im Inneren des europäischen Projekts herrschen, auch zu dessen Auseinanderbrechen führen können. Was dürfen wir also noch von der EU erwarten?

Der Verfassungsrechtler Alexander Thiele hat angesichts der Dauerkrise, in der sich die EU befindet, eine »Intervention zur Zukunft der europäischen Union« vorgelegt, die den Titel »Defekte Visionen« trägt. Thieles schmaler Band ist unbedingt lesenswert, denn er enthält eine kritische Untersuchung der institutionellen Architektur der EU, sowie eine kritische Rückschau auf die Probleme der »EU-Visionen«, die in den letzten Jahrzehnten in Umlauf waren. 

Die Vereinigten Staaten von Europa

Sehr viele dieser EU-Visionen eint die Vorstellung von einer »ever closer union«. Diesen Anspruch einzulösen, bekundeten die EU-Mitgliedstaaten schon im Vertrag von Lissabon, doch was genau am Ende dieses Einigungsprozesses stehen soll, ist offen geblieben. Thiele weist daraufhin, dass sich die EU in einer »staatstheoretischen Uneindeutigkeit« befindet. Sie ist weder ein einfacher Staatenbund noch ist sie ein Bundestaat. Das »europäische Monstrum« liegt als »Staatenverbund« irgendwo dazwischen. 

Matthias Ubl

Matthias Ubl ist freier Journalist und schreibt u.a. für ZEIT ONLINE und das Jacobin Magazin. Er ist außerdem Host des Videopodcasts Jacobin Talks.

Weil die EU also ein Monstrum ist, will es die Politik zukünftig in einen schönen Superstaat verwandeln? Schon in seiner Humboldt-Rede von 2006 formulierte der ehemalige Außenminister und Vizekanzler Joschka Fischer, dass das Ziel der EU ein »föderaler Bundesstaat« sei, so etwas also wie die »Vereinigten Staaten von Europa« könnte man mit den Worten Winston Churchills hinzufügen. Eine solche Vision findet sich heute auch noch im Koalitionsvertrag der Ampel, die ebenfalls einen »föderalen europäischen Bundesstaat« als Ziel festlegt. Auch das Autorenduo Vincent Heer und Martin Speer, die mit ihrem Buch »Europe for Future« ein emphatisches Plädoyer für die EU vorgelegt haben, schließen sich dieser Finalitäts-Vision an. 

Das Problem mit diesen Finalitäts-Visionen liegt Thiele zufolge jedoch auf einer sehr grundsätzlichen Ebene: Sie haben ein erhebliches normatives Defizit, weil sie die Frage nicht beantworten können, was eigentlich der grundsätzliche Vorteil einer solchen Weiterentwicklung der EU zu einem Superstaat wäre. Zudem ist die Vision einer »immer engeren Union« bereits tief in die EU-Verfassung eingesickert, wie Thiele zeigt. Die ganze Unionsrechtsordnung sei auf »stetige Integrationsverdichtung« aus, wobei »finale und normativ schwer eingrenzbare Kompetenzbestimmungen den gesamten Vertrag« durchziehen. 

Die EU soll aufgrund ihrer rechtlichen DNA also in immer weiteren politischen Bereichen Kompetenzen der Mitgliedsländer übernehmen. Die Verfassung fragt dabei nicht, ob und wo das überhaupt sinnvoll ist und nicht selbst das Funktionieren der EU gefährden würde. Damit steht in vielen Fällen auch die ausreichende Legitimität der Unionsgewalt in Frage. Zurecht fragt Thiele, ob die »ständige Vertiefung der Integration zum übergreifenden normativen Programm« erhoben werden soll, »wenn die Vorstellungen der 27 Mitgliedstaaten mittlerweile so unterschiedlich ausfallen und ein Mitgliedsstaat auch deshalb die Union bereits verlassen hat.«

Technokratie und Neoliberalismus

Eine weitere Kritiklinie Thieles richtet sich gegen EU-Visionen, die deren »Technokratisierung« vorantreiben wollen. Der französische Präsident Emmanuel Macron verglich bei einem Vortrag über die Zukunft der EU an der Sorbonne die parlamentarischen, teils scharf geführten Debatten in den EU-Institutionen gar mit einem »Bürgerkrieg«. Macron entwirft in seinem Vortrag die Vision einer technokratischen EU, in der Probleme nicht im politischen Streit verhandelt werden – sondern durch technokratische »Agenturen« gelöst werden. Thiele weist diese EU-Vision mit der Begründung zurück, dass es nun gerade diese politischen Debatten seien, »die an die Stelle grausamer kriegerischer Auseinandersetzungen der europäischen Staaten getreten sind«. 

Die EU und ihre Vorgängerinstitutionen haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich als relativ stabile Friedensordnungen erwiesen, deren tragendes Prinzip bekanntlich die ökonomische Integration war. Diese war jedoch insofern »vergiftet«, als sie zunehmend auf Technokratie und Neoliberalismus setzte. Nach Thiele sind etwa strenge fiskalpolitische Vorgaben für die Mitgliedstaaten im Primärrecht der EU verankert – und damit von jeglicher demokratischen Veränderung durch die Mitgliedstaaten »praktisch ausgeschlossen«. 

Der Verfassungsrechtler macht deutlich, dass die EU sowohl hinsichtlich ihrer Kompetenzbestimmungen als auch in Bezug auf ihre neoliberale Grundordnung von Prozessen der Juridifizierung geprägt ist, also der Stilllegung gesellschaftlicher und politischer Streitfragen durch ihre Festschreibung in der Verfassung, genauso etwa wie bei der Schuldenbremse in Deutschland. Thiele spricht sich daher grundsätzlich für eine Repolitisierung der Europäischen Union aus, die etwa die neoliberale Wirtschafsordnung zur politischen Disposition stellt, nur so könne die demokratische Legitimität der EU verbessert werden. 

Schrittweise Verbesserungen

Nun besteht die Pointe bei Thiele darin, dass der Verfassungsrechtler am Ende seines Buches keine eigene, große »EU-Vision« entwirft, sondern fragt, welche Reformschritte aus einer legitimitätstheoretischen Sicht in der EU notwendig und realistisch wären. Dabei macht er deutlich, dass die staatstheoretische Uneindeutigkeit, in der sich die EU befindet, kein grundsätzliches Problem darstellt und daher auch nicht notwendigerweise einer »Vollendung« bedürfe. Eine »fundamentale Neugestaltung« der EU sei Thiele zufolge »weder angezeigt noch sinnvoll«, vielmehr müsse die Legitimität der EU Schritt für Schritt verbessert werden. 

Im Zentrum solcher schrittweisen Reformen müssten nach Thiele die »Entschlackung« der Kompentenzordnung, die Verbesserung des Rechtsschutzes und die Reform der Verfassung in Bezug auf die Repolitisierung der EU stehen. Dafür wäre auch der Ausbau einer europäischen Öffentlichkeit angezeigt, etwa über ein europäisches Rundfunksystem. Thiele betont, dass die EU kein Selbstzweck – sondern eine politische Herrschaftsorganisation ist, die sich an »tradierten demokratischen Legitimitätsanforderungen messen lassen« muss. 

Mit seinem Buch leistet Thiele einen wichtigen Beitrag zur Entzauberung der EU, die angesichts der Neuordnung der globalen, internationalen Ordnung mehr als überfällig ist. Nur wer die EU mit kaltem Blick analysiert, kann sie schrittweise zum Besseren verändern. Thieles Vorschlag, die Legitimität der EU als wichtigstes Kriterium einzuführen, ist dabei überzeugend. Denn nur eine demokratische EU, die ihre Mitgliedstaaten nicht mit neoliberalen Regulierungen in den Ruin treibt, ist eine gute EU.