Die Geschichte als Schlachtbank und Fortschrittsmotor 

Gibt es Fortschritt in der Geschichte und wenn ja, wie sieht dieser genau aus? Rahel Jaeggi hat mit ihrem Buch Fortschritt und Regression eine anspruchsvolle Geschichtsphilosophie vorgelegt, die jedoch auch einige kleine Schwächen hat. Das macht ihre Analyse jedoch nicht weniger lesenswert, schreibt Matthias Ubl.

Kaum jemand hat den Fortschritt in einer so schaurig schönen Allegorie verdichtet wie der US-amerikanische Künstler John Gast. Sein Ölgemälde American Progress von 1871 zeigt eine überdimensionierte Frauenfigur in weißem Leinen, die, ein Schulbuch in der Hand und umgeben von Eisenbahnen, Telefonmasten und Landwirten, nach Westen schwebt, wo sich im Halbdunkel noch wilde Bären und Indigene befinden. 

Die Idee des Fortschritts, deren ideologischer Gehalt sich hier anschaulich manifestiert, ist mittlerweile in Verruf geraten. Erzeugt der Fortschrittsgedanke nicht immer schon das Gegenbild der rückschrittlichen „Wilden“ und rechtfertigt damit kolonialistische Gewalt? Ermöglichten Eisenbahnen nicht auch Deportationen? In ihrem neuen Buch Fortschritt und Regression versucht die Vertreterin der Kritischen Theorie die Idee des Fortschritts philosophisch zu retten und dabei die ideologischen Fallstricke zu umgehen, die mit der Fortschrittserzählung verbunden sind. 

Ohne einen anspruchsvollen Begriff von Fortschritt sind wir zwar nicht „normativ orientierungslos“, so Jaeggi. Wer jedoch davon ausgeht, dass sich Gesellschaften weiterentwickeln und dabei Handlungsspielräume für Verbesserungen jeglicher Art „freischalten“, sollte den Fortschrittsbegriff als kritisches Denkinstrument nicht aufgeben. In vielen Lebensbereichen scheinen wir recht selbstverständlich von Fortschritt auszugehen: Kaum jemand hält heute das Schlagen von Kindern für eine moralische oder pädagogisch wertvolle Handlung. Doch woher kommen diese Bewertungen und wie haben sie sich allgemein durchgesetzt? 

Matthias Ubl

Matthias Ubl ist freier Journalist und schreibt u.a. für ZEIT ONLINE und das Jacobin Magazin. Er ist außerdem Host des Videopodcasts Jacobin Talks.

Fortschritt entsteht aus Lern- und Erfahrungsprozessen

Jaeggi begreift Gesellschaften als „träge Ensembles sozialer Praktiken“, die sie als Lebensformen bezeichnet. Lebensformen lösen dabei nach Jaeggi Probleme, indem sie schlicht „Leben organisieren, also die Handlungsmuster und die Institutionen bereitstellen“.  Damit das Schlagen von Kindern als moralisch verwerflich anerkannt wird und praktisch ausbleibt, müssen an vielen Stellen in diesem gesellschaftlichen Gefüge Veränderungen stattfinden. Erkenntnisse aus der Pädagogik können dazu ebenso beitragen wie ein durch Popmusik verändertes Verhältnis zum Körper, neue Gesetze ebenso wie weniger disziplinäre Arbeitshierarchien. Eine Pointe bei Jaeggi ist nun, dass solche technologischen, ökonomischen oder kulturellen Veränderungen überhaupt erst dazu führen können, dass wir moralische Probleme als solche erkennen. 

Der antike Sklavenhandel erschien vielen Zeitgenossen etwa nicht als moralisch verwerflich. „Das Privateigentum von einem Menschen an einem anderen“ wirkt erst vom Standpunkt einer „höheren ökonomischen Gesellschaftsformation“ als „abgeschmackt“, wie Marx im ersten Band des Kapital schreibt. Jaeggi interpretiert Marx wiederum so, dass sich beim Wechsel von einem sittlichen Kontext zu einem anderen ein ganzer „epistemisch-normativer Bezugsrahmen ändert“. Dabei will sie keinem Relativismus das Wort reden, der meint, dass Normen nur in ihrem je spezifischen historischen oder geografischen Kontext gelten: Dass wir heute den Sklavenhandel verurteilen, ist vielmehr selbst Resultat von geschichtlichem Fortschritt, der sich in Form von rechtlichen und ökonomischen Problemlösungsprozessen vollzog und dabei auch unseren normativen Bezugsrahmen veränderte.

Normative Kriterien gehen den „Problemlösungsprozessen“ also nicht voraus. Jaeggi zitiert in diesem Zusammenhang den Philosophen Larry Laudan: „Ethischer Fortschritt ist ethischer Wahrheit vorgelagert und Wahrheit ist das, was man bekommt, sofern man fortschreitet.“ Ein solches Verständnis erlaubt Jaeggi, Fortschritt zu denken, ohne dabei in die Falle der kolonialistischen Fortschrittsideologie zu tappen. Verschiedene Gesellschaften „lösen“ in sehr unterschiedlichen ökonomischen oder politischen Konstellationen zu je verschiedenen Zeiten „Probleme“. Gleichzeitig ist Fortschritt nach Jaeggi damit kein wie auch immer gearteter Vorlauf zu einem vorher festgelegten Ziel, wie beim Bergsteigen das Erklimmen des Gipfels, sondern ein sich anreichernder Lern- und Erfahrungsprozess, der aus sich selbst seine normativen Leitlinien entwickelt. 

Verhinderte Lern- und Erfahrungsprozesse erzeugen Regressionen

Doch führt jeder Problemlösungsprozess in einer Lebensform zu Fortschritt? Für Jaeggi sind es vor allem „Probleme zweiter Ordnung“, an denen sich entscheidet, ob Gesellschaften Fortschritte machen oder in die Regression fallen. Ein Problem erster Ordnung kann in Gesellschaften etwa Armut darstellen, auf die in vielfältiger Weise reagiert werden kann, durch Umverteilungsmaßnahmen oder einen Ausbau der Daseinsvorsorge. Ein Problem zweiter Ordnung liegt vor, wenn Institutionen, die ein Problem lösen könnten, dauerhaft dysfunktional werden. Also wenn, um im Beispiel zu bleiben, politische Prozesse systematisch durch eine ökonomische Klasse beeinflusst werden, die von der Armut profitiert: „Verfestigen sich Probleme oder Krisen zweiter Ordnung, so ist das stets ein Indiz dafür, dass die Lebensform selbst ein Problem hat.“ 

Zeitdiagnostisch gewendet könnte man also mit Jaeggi sagen, dass unsere Gesellschaften sowohl hinsichtlich der Klimakatastrophe als auch hinsichtlich der immer extremeren ökonomischen Ungleichheit derzeit in einer tiefen Regression stecken, da unsere Institutionen es seit Jahrzehnten nicht vermögen, diese Probleme angemessen zu bearbeiten: „Regressive Rückschritte beruhen auf internen, selbsterzeugten und systematischen Blockaden einer Entwicklung, sie sind Ausdruck verhinderter Lern- und Erfahrungsprozesse.“ Jaeggis Begriffsbildung hat Potenzial, um aktuelle Dynamiken zu deuten. 

Doch gibt es nach Jaeggi einen Ausweg aus dieser Regression? Jaeggi entwickelt in ihrer Analyse ein mehrdimensionales, komplexes Geschichtsverständnis: Der Wandel zum Besseren verwirklicht sich oft über verschlungene Umwege: Die Erfindung des Schießpulvers etwa trägt dazu bei, den überkommenen Ehrenkodex des Adels zu unterminieren und somit bürgerlichen Werten zum Durchbruch zu verhelfen. In anderen Konstellationen sind es hingegen Einzelne oder Gruppen, die zu „weltgeschichtlichen Individuen“ (Hegel) werden, etwa soziale Bewegungen oder Politikerinnen, für Marx war es das Proletariat. Diese Akteure tragen in einer bestimmten Konstellation durch ihr Handeln dazu bei, Potenziale der Verbesserung in der Geschichte zu ermöglichen. Sie sind dabei keine „Geschichts-Genies“, die voluntaristisch Neuartiges schaffen, sondern sie verhelfen dem zum Durchbruch, was im Geschichtsprozess als Möglichkeit schon angelegt war, man denke zum Beispiel an die Bewegung des Abolitionismus. 

Die Dialektik von Fortschritt und Regression

Eine etwas dunklere Schlussfolgerung Jaeggis betrifft die Art und Weise, wie diese Möglichkeiten sich in der Geschichte selbst ergeben. Denn es ist nach Jaeggi durchaus möglich, dass erst eine in sich herrschaftsförmige soziale Praxis die Möglichkeit der Verbesserung hervorbringt. Man kann hier natürlich an das klassische Beispiel von Marx denken, der bekanntlich erst im Kapitalismus, der „aus allen Poren blut- und schmutztriefend“ zur Welt gekommen sei, die geschichtliche Bedingungen für die Möglichkeit einer humaneren Gesellschaft sah. Für Jaeggi ist auch die bürgerliche Ehe und der „Dualismus der Geschlechter“ einer ähnlichen Dynamik unterworfen. Erst die „bürgerliche Herrschaft über die Frau“ erzeugt durch ihre Struktur in sich „Probleme“ und „Krisen“, die wiederum eine „Problembearbeitung“ hin zu einer wirklichen Gleichheit in der Geschlechtsbeziehung ermöglichen. Jaeggi geht nun nicht in einem starren Stufenmodell davon aus, dass wir erst die bürgerliche Ehe realisieren müssen, damit echte Gleichheit entsteht, sie hält aber an einem dialektischen Prozess von Fortschritt fest, der sich unter Umständen auch in Widersprüchen realisiert. 

Die Kriterien, um emanzipatorische Problemlösungsprozesse von solchen zu unterscheiden, die klar regressiv sind, bleiben bei Jaeggi aber leider etwas blass. Fortschritt findet nach Jaeggi statt, wenn einerseits ein richtiger „Schritt (…) in Richtung der Entfaltung der Potenziale einer gegebenen Situation“ getan wurde und wenn andererseits Problemlösungsprozesse „angemessen“ und „offen“ sind. Diese beiden Definitionen werfen allerdings viele Fragen auf und Jaeggis Begriffsbildung läuft hier Gefahr, in Orientierungslosigkeit abzugleiten. Denn wie können wir unsere Handlungen als geschichtliche Akteure überhaupt noch sinnvoll kalibrieren, wenn – zugespitzt gesagt – jede noch so grausame Entwicklung in Zukunft irgendein wünschenswertes Potenzial entwickeln könnte? Die hegel-marxistische Tradition, in der sich Jaeggi bewegt, bietet hier nun glücklicherweise ein sehr bestechendes Kriterium, um Jaeggis Begriffsbildung zu ergänzen. Die Erweiterung der gesellschaftlichen und individuellen Freiheit (und die Bewahrung ihrer Voraussetzungen) wäre ein sinnvoller Gradmesser, um den Erfolg – auch von unabgeschlossenen – „Problemlösungsprozessen“ zu beurteilen und sie im Zweifel neu zu justieren. 

Verstehen wir Jaeggi so, dann bietet Fortschritt und Regression einen anspruchsvollen Beitrag zu einer zeitgemäßen Geschichtsphilosophie, in der die Geschichte als ein chaotischer, nicht gerichteter Prozess erscheint. Die Geschichte bietet das Potenzial zur Erweiterung des „Reichs der Freiheit“, sie hört dennoch nicht auf, eine Schlachtbank zu sein.