Die Vereinigung von Nähe und Fremde? Entwurf einer globalen Numismatik

Inwiefern können Münzen Wissen prägen? Wie erforschten frühneuzeitliche HistorikerInnen die Geschichte(n) ihnen bis dato fremder Kulturen durch Münzen? Und wie verhielt sich das Fremde zum Eigenen? Martin Mulsow versucht sich in seinem neuen Buch an einem numismatischen Experiment.

Nach Martin Mulsows erster, überzeugender Exploration einer möglichen „globalen Ideengeschichte“ in seinem 2022 erschienenen Buch Überreichweiten, unternimmt er in Fremdprägung (erschienen bei Matthes & Seitz, 2023) ein neues, nicht weniger gewagtes Projekt. Fremdprägung greift dabei Anknüpfungspunkte Mulsows vorheriger Arbeiten auf. So bietet sein neuestes Buch eine Art Fallstudie seiner in Überreichweiten entwickelter Ansätze einer nicht-eurozentrischen Globalgeschichte.

Mulsow wendet sich einem bedauerlicherweise oftmals eher am Rande wahrgenommenen Bereich der Geschichtswissenschaft zu: der Münzkunde, oder Numismatik. Diese übersetzt sich aus dem italogriechischen númmisma als ‚das Gesetzmäßige‘ oder ‚die Münze‘ und steht gleichzeitig für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Münzen und dem Sammeln und Katalogisieren dieser. Oft, so zeigt Mulsow, verschwimmen diese zwei Bereiche des Sammeln und der Auseinandersetzung mit Münzen.

Numismatik und Globalgeschichte

Numismatik gilt in den Geschichtswissenschaften oftmals als so spezialisiert, dass sie beinahe isoliert wahrgenommen wird. Dies, so Mulsow, sei eine vertane Chance für FrühneuzeithistorikerInnen, aber auch für die Numismatik selbst, denn diese sei intrinsisch mit anderen Bereichen wie der „Philologie und Geschichte, Geographie und Altertumskunde, Sprachwissenschaft und Naturkunde“ verbunden. Wenn es um einen globalen, weltoffenen und wissbegierigen Umgang mit anderen Kulturen und Währungen gehen soll, argumentiert Mulsow überzeugend, dann sei die Numismatik ein wesentliches zu beachtendes Feld. Wer verstehen möchte, wie wegweisend und wie fächerübergreifend verstrickt Münzkunde sein kann, kann dies eindrücklich in Mulsows Betrachtung frühneuzeitlicher NumismatikerInnen (der gewählte Zeitraum in Fremdprägung begrenzt sich hier grob auf 1600-1800) tun, die alles andere als isoliert arbeiteten.

Sie tauschten Münzwissen mit ForscherInnen aus der ganzen Welt aus und erfuhren über die Geschichte(n) anderer Länder durch die Betrachtung der Münzen selbst. Dieser weltoffene Umgang stellt eine Alternative zur bloßen, durch koloniale Strukturen geprägten Exotisierung des Fremden dar. Das Interesse der frühneuzeitlichen NumismatikerInnen scheint bezogen auf die tatsächlichen Lebenswelten der untersuchten Kulturen hinter den Münzen, sie wollen über die bloße Projektion hinausschauen.

Sina Menke

Sina ist Redakteurin für Feministische Ökonomie bei P&Ö. Sie promoviert in frühneuzeitlicher Geschichte an der Universität Marburg und ist Mitglied bei den New Voices on Women in the History of Philosophy und der DGphil AG Frauen in der Geschichte der Philosophie. Sie interessiert sich für feministisches Denken, Philosophiegeschichte und utopische Strukturen.

Münzen und Texte

Münzen werden auf (mindestens) zwei Arten geprägt, so Mulsow. Einmal durch den handwerklichen Akt der Münzprägung, aber auch als – am Beispiel von frühneuzeitlichen NumismatikerInnen – prägender Gegenstand. Münzen werden geprägt, aber sie können auch diejenigen prägen, die sich mit ihnen auseinandersetzen. Dieser Prozess wird veranschaulicht durch Mulsows Ansatz, der sich wie ein roter Faden durch Fremdprägung zieht, eine Parallelisierung zwischen Münzen und Texten aufzuzeigen. Wie der Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker Oliver Weber in seiner Rezension zu Mulsows Überreichweiten dessen Ansatz treffend zusammenfasst, sind „Bücher, Texte, Begriffe […] immer interpretationsbedürftig. Wer ihre ‚Zirkulation‘ über Kulturgrenzen hinweg erzählen will, muss also verstehen, wie die Beteiligten auf sie Bezug nahmen – und welche Missverständnisse und Überinterpretationen damit ins Spiel kamen.“

Diesen Ansatz überträgt Mulsow hier auf Münzgeld. Als einprägsames Beispiel der Über- bzw. Falschinterpretation fungiert die frühneuzeitliche Praxis, alle Ursprünge der Geschichte in der Bibel zu suchen. Diese Praxis übertrug sich auch auf die Numismatik. Nachdem zuvor geprägte Münzen mit den Gesichtern römischer Kaiser gefunden wurden, lag die Frage nach biblischen Prägungen nahe. Prompt wurden dann auch bronzene Münzen gefunden, die Moses abbildeten, welche aus dem vorchristlichen Zeitalter stammen sollten. Dass diese tatsächlich aus dem 15. Jahrhundert stammen und zudem noch auch Venezien, schien erstmal unerheblich. Vor dem Hintergrund der biblischen Ursprungsuche war die Deutung als vorchristliche Münze für damalige Münzinterpreten klar.

Eine Frage, die Mulsow dabei aufwirft: Wie werden Geschichten durch Münzen erzählt und wie verändern diese sich durch neue Erkenntnisse, aber auch durch neue Auslegungen („Prägungen“)? Von dem Interesse geleitet, Münzen lesen zu lernen, brachten sich NumismatikerInnen verschiedenste Sprachen bei, lasen sich in historische Hintergründe ein und begannen; Münzen auszulegen wie einen Text.

Prekäre Münzsammler und Faszinationsgemeinschaften

„Prekäres Wissen ist widerrufbares Wissen, Wissen, das zwar einmal erarbeitet wurde, dann aber vielleicht wieder verlorengegangen ist.“

Ein Beispiel eines prekär arbeitenden Numismatikers schildert Mulsow in Fremdprägung anhand von Georg Jakob Kehr, „eine[m] jungen Mann aus dem nahen Schleusingen […], der auf Durchreise war und sich lebhaft für orientalische Sprachen interessierte“. Studiert hat er bei dem syrischen Philologen, Sprachlehrer, Gelehrten und Priester Salomon Negri und Kalligraphie lernte er von dem ebenfalls syrischen Orientalisten und Dolmetscher Carolus Dadichi. Von dem Theologen Justus Samuel Scharschmidt erfährt Kehr von muslimischen Tartaren und insbesondere deren Poesie. Obgleich höchst gebildet und Autor der „kleine[n], hochgelehrte[n] Abhandlung De Saeaceni, Hagareni et Mauri“ und anderer Ausführungen, muss er immer wieder prekären, schlecht bezahlten Aufträgen nachgehen, wie beispielsweise Katalogisierungsarbeiten. Auch die Drucklegung seines Buches wird ihm, entgegen des angenommenen Interesses Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, nicht bezahlt und er muss zunächst selbst für die Probedruckkosten aufkommen. Kehrs Interesse wächst mit jeder neuen Erkenntnis und mit jeder neuen Sprache, über die er lernt. So bringt ihn die arabische Sprache zur bengalischen und zur persischen, woraus er wiederum den Schluss zieht zu fragen: Wie waren die Kommunikationsverhältnisse zwischen anderen Kulturen? Wie verständigten sich „Moslems in Indien [mit] denen in Arabien?“

Mulsow zeichnet hier gekonnt die Wege des Wissensdurstes eines frühneuzeitlichen Gelehrten nach, bei dem die Erforschung eines Interessengebietes unabdinglich zum nächsten führt. „Das“ so schlussfolgert Mulsow, „sind Fragen, die bereits nicht mehr nur kartieren wollen, sondern Herkünfte verstehen, historische Verläufe erforschen, Reichweiten abschätzen möchten.“ Kehrs Traum von der Reise in den Orient blieb ihm lebenslang verwehrt, aber 1732 wird er nach St. Petersburg eingeladen und dort, aufgrund der Ausdehnung des Moskowiterreiches in den Osten, komme „der Orient zu ihm.“ Trotz seines geplatzten Traumes lässt sich Kehr, so Mulsow, mit seiner steten Lust auf horizonterweiternde Forschung und akribische Arbeit, nicht rein als tragische Figur abbilden: „Kehr erarbeitet sich, sozusagen im Rücken der deutschen Frühaufklärung, die mit ganz anderen Dingen beschäftigt war, und ohne groß beachtet zu werden, eine neue, deutlich größere Welt.“

Mulsow erwähnt auch immer wieder gelehrte Numismatikerinnen und stellt fest, dass es unter den MünzensammlerInnen erstaunlich viele Frauen gab. Diese, so deutet Mulsow es auch an und so kann man es noch deutlicher explizieren, sollten dringend von Anfang an in die Überlegungen und Entwürfe einer globalen Numismatik mit aufgenommen werden. Fragen könnten darin unter anderem sein: Waren in den von Mulsow erwähnten Korrespondenzen zwischen dem Polyhistor Otto Sperling und verschiedensten Schriftstellerinnen und gelehrten Frauen vielleicht auch Numismatikerinnen? Oder in Sperlings „biografischem Lexikon […] mit 1339 Einträgen über gelehrte Frauen aller Zeiten und Länder“? Dies wäre aber sicherlich Arbeit für ein weiteres Buch.

Die Nähe aus der Ferne?

Gleichzeitig mit der „neue[n], deutlich größere[n] Welt“, die NumismatikerInnen bauen, gehe eine immer größere Hinwendung frühneuzeitlicher Forschende vom Fremden zum Eigenen, Heimischen einher. Wie ist das gemeint? Mit Rückgriff auf Alix Coopers These, die sie in Inventing the Indigenous: Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe formuliert, schlägt Mulsow vor, dass möglicherweise erst durch die Konzeptualisierung des Fremden eine Identifikation des Einheimischen stattfand. In der Auseinandersetzung mit fremder Botanik, Münzen und Texten wurden Kriterien erarbeitet und diese wiederum auf ihre Übertragbarkeit auf das Eigene geprüft. Diese „Identifikation des Einheimischen“ kann dabei Feindlichkeit und Argwohn gegenüber Exotischem, Fremden sein. So nennt Mulsow als ein Beispiel frühneuzeitliche, deutsche PharmazeutInnen, die darauf pochten, dass es für jede Krankheit doch eine deutsche Heilpflanze geben müsse, die exotische Pflanzen obsolet mache.

Gleichzeitig, und dies ist besonders bezüglich der NumismatikerInnen interessant, führte die Erforschung anderer Länder durch deren Münzen manchmal dazu, dass das Interesse an der historischen Vergangenheit des eigenen Landes wuchs. Solch fremdnumismatisches Lernen lässt sich beispielsweise gut an den Schülern des Jenaer Professors für Geschichte erkennen, die das Interesse ihres Lehrers an „Lokalgeschichtsschreibung [und] Antiquarianismus“ mit ihrer eigenen numismatischen Forschung verbanden. So beforschten diese intensiv die Geschichte des deutschen Mittelalter anhand von Münzen, aber konzentrierten sich dabei auf die bisher vernachlässigten Aspekte deutscher Geschichte, wie beispielsweise die der Kolonialisierung Sachsens im 10. und 11. Jahrhundert. Dieser Ansatz einer Erforschung „nicht-klassischer“ Geschichte durch Münzkunde könnte, so Mulsow, Hand in Hand mit der Erforschung bis dato fremder Kulturen gegangen sein. Mulsow pocht in der Betrachtung dieser zweischneidigen, aber auch manchmal kollidierenden Interpretationen auf Einzelstudien, Fallstudien, um nicht zu Übergeneralisierungen zu neigen.

Mulsow zeigt in Fremdprägungen gekonnt, dass seine Konzeptualisierung einer „globalen Ideengeschichte“ in der Numismatik ein Anwendungsgebiet finden kann. Auch wenn Mulsow betont, dass dies „noch keine Globalgeschichte der Numismatik und noch keine Verflechtungsgeschichte“ sei: Die Tür, die er mit Fremdprägung aufgestoßen hat, lässt sich so einfach nicht mehr schließen und das sollte sie auch auf keinen Fall.