Eine sozialökonomische Ideengeschichte der Ungleichheit

Wie hat das Denken über Ungleichheit sich in der Wirtschaftstheorie entwickelt? Über diese Frage hat Branko Milanović sein Buch »Visions of Inequality« geschrieben. Sein Zugang bietet einen neuen und alternativen Blick auf wirtschaftliche Phänomene und das, was Ökonomik als akademische Disziplin sein kann, schreibt Sebastian Thieme.

In der Fachliteratur jener Disziplin, die sich mit ›der Wirtschaft‹ befasst: also in ›der‹ Volkswirtschaftslehre bzw. Ökonomik, wird bisweilen behauptet, dass dort die Beschäftigung mit der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen lange Zeit nicht stattfand 1 so etwa Krämer 2015: 62 . Erst mit Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert« habe sich das geändert. Worauf aber, wenn man dieser Behauptung folgt, gründet dieses Desinteresse an dem Thema? — Das 2023 publizierte Buch »Visions of Inequality« von Branko Milanović bietet ein paar Antworten auf diese Frage. Milanović, der 1953 in Belgrad geboren wurde und zu den renommiertesten Ungleichheits- und Entwicklungsökonomen zählt, unternimmt in seinem Buch eine Reise zu den Stationen wirtschaftstheoretischen Denkens über Ungleichheit. Sein Buch umfasst 359 Seiten und ist in sieben Kapitel gegliedert. Jedes der Kapitel ist einer wirtschaftstheoretischen Persönlichkeit gewidmet: François Quesnay, Adam Smith, David Ricardo, Karl Marx, Vilfredo Pareto und Simon Kuznets. Das siebente Kapitel befasst sich mit der Ungleichheitsforschung in ›der‹ Ökonomik während des Kalten Kriegs.

Worum es (nicht) geht

Im Prolog stimmt Milanović die Lesenden schon einmal darauf ein, was sie erwartet: »In short, this is a book on the history of economic thought in one area (income distribution) as it was approached by the thinkers themselves – as far as possible.« Milanović stellt klar, dass er sich auf die Verteilung und Ungleichheit von Einkommen und deren Thematisierung konzentriert und dabei ausgewählte Persönlichkeiten ›der‹ Ökonomik in chronologischer Abfolge behandelt. Zwar beinhalten die Werke dieser Ökonomen normative Momente, die Milanović auch thematisiert, allerdings verhält sich Milanović ganz bewusst indifferent zu den normativen Perspektiven der Autoren, da er keine normative Debatte führen möchte.

Für die Auswahl der Ökonomen – ausnahmslos Männer – sei für ihn entscheidend gewesen, dass diese sich mit der tatsächlichen empirischen Verteilung von Einkommen beschäftigten und wichtige Studien dazu geliefert haben. Für Milanović müssen solche Studien Narrative, Theorie und Empirie beinhalten. Studien, die diese drei Elemente berücksichtigen, bezeichnet Milanović integrative Studien der Einkommensverteilung. Dabei versteht er unter einem Ungleichheits-Narrativ die Vorstellung darüber, wie sich eine Einkommensverteilung durch das Zusammenspiel bestimmter Faktoren herausbildet. Ungleichheits-Narrative dienen dazu, der Theorie Kohärenz zu verleihen und eine Idee davon zu vermitteln, warum welche empirischen Belege vom Autor bevorzugt werden. Die Theorie wiederum gibt den Narrativen ein stärkeres logisches Gerüst; ohne Theorie bleiben Narrative vage. Die Empirie wiederum liefert jene Daten, anhand der die Forderungen, die sich aus Narrativen und/ oder Theorien ableiten, bestätigt, unterstützt, widerlegt oder revidiert werden können. Für eine gute, d.h. integrative, Studie müssen alle drei Elemente – Narrativ, Theorie und Empirie – vorhanden sein.

Sebastian Thieme

Sebastian Thieme ist promovierter Volkswirt und forscht zum Thema »Wohlstand« an der Katholischen Sozialakademie Österreichs in Wien. In der Vergangenheit arbeitete er in verschiedenen Projekten zur Pluralen Ökonomik, war erster Schasching-Fellow der Katholischen Sozialakademie Österreichs, Vertretungsprofessor an der Hochschule Harz (VWL) und lehrt VWL und Wirtschaftsethik. Weitere Forschungschwerpunkte sind u.a.  Plurale Ökonomik, zu normative Aspekte der Ökonomik (Wirtschaftsethik), Selbsterhaltung (Subsistenz), Sozialstaat & ökonomischen Misanthropie.

Damit grenzt Milanović den Bereich seiner ideengeschichtlichen Studien ein und stellt auch klar, was bzw. wen er alles nicht berücksichtigt. Dazu gehören die Hinweise, dass er die Merkantilisten bewusst ausklammert (»pre-Quesnay writers«) und er im siebten Kapitel auf die Dependenztheorie eingeht, sein Wissen darum aber nicht ausreicht, um dies in angemessener Breite zu diskutieren. Im Sinne einer Einschränkung des Themenfelds ist es auch zu verstehen, wenn Milanović darauf hinweist, dass »race« und »gender« in der Vergangenheit, also auch und vor allem bei den Autoren, die er thematisiert, keine oder eine untergeordnete Rolle spielten. Konkret zu geschlechterbedingten Ungleichheiten heißt es 2 Milanović 2023, S.16 :

Gender inequalities were even less integrated in income distribution work until rather recently. The implicit reason for ignoring them were, first, that inequality was a matter of differences in family incomes, and second, that women either partook of income and wealth of family, or were ‘invisible.’ Today, both gender and racial differences are given a more greater role in inequality studies than in the past.

Ideengeschichtliche Zeitreise: Von Quesnay bis in den Kalten Krieg

In den darauffolgenden Kapiteln widmet sich Milanović den sechs genannten Ökonomen sowie der Ökonomik während des Kalten Krieges. Damit reicht sein ideengeschichtlicher Blick von der Physiokratie über die optimistische klassische Ökonomik (Smith) und pessimistische Klassik (Ricardo) bis zu den Anfängen der modernen Ökonomik (Pareto und Kuznets). Die Kapitel sind so strukturiert, dass Milanović am Anfang auf die Lebensumstände der entsprechenden Ökonomen eingeht, sie ideengeschichtlich verortet, dann die Verteilungssituation zu den jeweiligen Lebzeiten thematisiert – d.h. empirische Daten einflechtet – und am Ende die relevanten Aspekte in einem Abschnitt zusammenfasst. 

In seinen Ausführungen geht Milanović auf die unterschiedliche Verteilung zwischen gesellschaftlichen Klassen bei François Quesnay, Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx ein und macht auf diese Weise den Klassenbegriff fruchtbar. Dabei beugt er auch etwaigen Missverständnissen vor, wenn er zum Beispiel zu Adam Smith darauf hinweist, dieser habe zwar ›die Reichen‹ kritisiert, aber nicht wirklich die Klassenstruktur in Frage gestellt. Ausgehend von der Kategorie ›Klasse‹ lässt sich dann die Veränderung der wirtschaftstheoretischen Thematisierung von Ungleichheit deutlich erfassen. Denn mit Vilfredo Pareto (1848–1923) sei der Fokus von den Diskrepanzen in der Einkommensverteilung zwischen ›Klassen‹ hin zur individuellen Einkommensverteilung verschoben worden: »Classes were no longer at the center of attention; individuals were.« Mehr noch, das Augenmerk von Pareto lag auf den Eliten bzw. dem Wettbewerb der Eliten. Simon Kuznets (1901–1985) wiederum, der letzte Ökonom, den Milanović behandelt, habe den Fokus auf die strukturellen Faktoren der Ungleichheit gelegt (z.B. der Anteil der Stadtbevölkerung/ Urbanisation, das Niveau der urbanen und ländlichen Ungleichheit sowie der Durchschnitt des ländlichen und urbanen Einkommens). Insofern bewegte sich auch diese Forschung auf anderen Bahnen als die, die mit einem auf ›Klassen‹ eingeschärften Blick in Verbindung stehen.

Das siebente Kapitel widmet Milanović der Ökonomik zur Zeit des Kalten Kriegs. Eine besondere Note erhält dieses Kapitel dadurch, dass Milanović 1953 in Belgrad geboren wurde, dort auch studierte und promovierte sowie später, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, u.a. für die Weltbank arbeitete. Milanović geht in dem Kapitel auf die Ungleichheit in den kapitalistischen und real-sozialistischen Staaten ein, legt aber den Schwerpunkt auf die Gründe, die dafür sorgten, dass die Ungleichheit sowohl in den kapitalistischen als auch den real-sozialistischen Staaten kein Thema war. Die Antworten dazu liegen auf der Hand: Nach Milanović hätte nach dem Zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten des Systemstreits die Vorstellung vorgeherrscht, dass Klassenkonflikte der Vergangenheit angehören. In den Worten von Milanović 3 Milanović 2023, S.219 :

When class analysis and the role of capital incomes are ignored, studies of income distribution are, too. This is exactly what happened after the Second World War, when the competition between communism and capitalism pushed economics, on both sides, into service of the ruling ideologies’ political ends. Both camps shared the belief that, within their own systems, classes were the thing of the past, class divisions no longer existed, and work on income distribution was all but irrelevant. There was, they thought, not much to study.

Obwohl die Intuition vielleicht nahelegt, dass es im Staatssozialismus keine Ungleichheit gegeben hat, zeigt Milanović, dass es dort sehr wohl auch Einkommensdifferenzen gab und dies verschiedene Gründe hatte, z.B. die Stufe in der Hierarchie des politischen Systems oder politische Gründe, wie etwa Zulagen um die Lohnarbeit in geographisch entlegenen Gebieten – wie in Sibirien – attraktiv zu machen. Nichtsdestotrotz sei mit Milanović insgesamt davon auszugehen, dass die Ungleichheit im real-existierenden Sozialismus niedriger ausfiel als im Kapitalismus. Für den Mangel an Studien zur Ungleichheit in den real-sozialistischen Staaten führt Milanović im Detail vier Gründe an: Ideologischer Druck, autoritäre Obsession mit Datengeheimnissen, die eine wissenschaftliche (empirische) Untersuchung erschwerte, mangelhafte methodologische Rahmenbedingungen (Mangel an Daten) und die Abwesenheit politischer Narrative, die solche Studien zur Ungleichheit unterstützten (siehe Milanovićs Elemente für eine gute – integrative – Studie: Narrative, Theorie und Empirie).

»Cold War Economics«

Aber was sorgte in den kapitalistischen Staaten für den Mangel an Studien zur Ungleichheit? Milanović verweist dazu auf fünf Punkte. Erstens ›objektive Fakten‹, d.h. dass die positive wirtschaftliche Entwicklung, der Ausbau des Wohlfahrtsstaats usw. keinen Anlass gaben, um über Ungleichheit nachzudenken. Zweitens spielte auch die dominierende ökonomische Theorie, speziell die Neoklassik, eine Rolle: die Fachleute ›der‹ damals vorherrschenden Ökonomik ignorierten die Ungleichheit und lieferten auch keine ernstzunehmenden Studien. Sozialökonomische und politökonomische Aspekte wurden zu Gunsten der mathematischen Modellierung ignoriert. Drittens habe sich die moderne Ökonomik in Subfelder aufgefächert, so dass die Beschäftigung mit Ungleichheit in Teilbereichen/Nischen verschwand und der Blick auf Ungleichheit eng geführt war. Viertens sei auch der Einfluss von politischen und rechten Bewegungen und Förder-Institutionen (u.a. Mont-Pèlerin-Society und Cato-Institut) für den Mangel an Studien zur Ungleichheit verantwortlich, da diese Institutionen kein Interesse an der Bearbeitung oder Thematisierung von Ungleichheit hatten. Fünftens wurde der Mangel an guten Studien zur Ungleichheit auch durch den sogenannten Empirismus (empiricism) begünstigt, worunter Milanović das rein empirische Arbeiten, ohne theoretische Tiefe, meinte. Empirie an sich sei nicht verwerflich, im Gegenteil 4 Milanović 2023, S.256 :

But empiricism alone, bereft of support of political analysis, presents a very limited and, at times, biased picture of reality. The purely and solely empirical studies […] did not much advance our understanding of modern capitalism. […] Empiricism combined with a good theory can do wonders, but empiricism alone never makes for great economics or great social science.

Vor diesem Hintergrund definiert Milanović dann auch, was er als »Cold War Economics« bezeichnet: Neoklassische Ökonomik, die durch politische Erfordernisse und reiche Geldgeber gefördert wurde. 5 Milanović 2023, S.256

This particular type of neoclassical economics, supported by political exigencies and underwritten by billionaires’ money, might be labelled “Cold War economics.” It is a term that reveals the true nature and objectives of the enterprise more accurately than the conventional labels of “neoclassical” and “mainstream” economics. A version of neoclassical economics may have been at its intellectual core, but its success was due to the extra-academic pressures of money and politics.

Davon ausgehend erörtert Milanović drei Typen an Ungleichheits-Studien in kapitalistischen Gesellschaftssystemen, nämlich reine empirische Studien, reine theoretische Studien und zufällige Studien zur Ungleichheit. Sowohl den rein empirischen als auch den theoretischen Studien hätte das dynamische Element gefehlt, denn sowohl politische als auch strukturelle Begebenheit wurden schlicht ignoriert. Mit den zufälligen Studien zur Ungleichheit sind Studien gemeint, die eigentlich auf etwas anderes ausgerichtet waren, aber auch Ergebnisse zur Ungleichheit lieferten, z.B. Studien zum Erwerbslohn.

Ungleichheit zukünftig angemessen beforschen?

Im Epilog nimmt Milanović das große Interesse am Thema der Ungleichheit in den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts zum Anlass für einen Ausblick. Realwirtschaftlich hätten die durchschnittlichen Einkommen der Mittelklasse in den USA stagniert, was zu Diskrepanzen führte, die wiederum die Finanzkrise 2007-2008 deutlich werden ließ. Das hätte das Bewusstsein für die Ungleichheit geschärft und das Interesse an entsprechenden Studien geweckt. Dazu gehören die Arbeiten von Thomas Piketty, der eine neue Perspektive auf Ungleichheit eröffnet habe 6 Milanović 2023, S.292 :

Piketty has thus proposed an entirely new and compelling argument that peaceful development of capitalism leads to the breakdown of the system – not because the profit crashes to zero and capitalists give up investing (as Marx would have it), but for the very opposite reason that capitalists tend to end up in possession of a society’s entire output and that is a socially unsustainable situation. […] In Piketty’s [..] view, capitalists are extra ordinary successful. They keep on accumulating more and more capital, but the rate of return on that more abundant capital somehow does not decrease. In the end, they would own everything. But that must provoke a revolution, whether by pitchforks or by extraordinary taxation.

Zudem existieren heute neue und bessere Sozialstatistiken (social tables), die u.a. auch Klassen berücksichtigen; ferner wäre es dank der Digitalisierung und Computer möglich, mehr Daten zu verarbeiten. Außerdem sei auch die Datenlage zur globalen Ungleichheit heute ›besser‹ als noch in den 1980 Jahren, so dass nun ›bessere‹ Studien dazu möglich wären. Milanović betont, dass die moderne, angemessene Beschäftigung mit Ungleichheit die Ungleichheit zwischen den Staaten, die Ungleichheit innerhalb der Staaten und die globale Ungleichheit zu berücksichtigen hat. Besonders die globale Ungleichheit würde die Sozialwissenschaften vor neue, bislang unbeantwortete Fragen stellen, da mit der globalen Ungleichheit auch die Herausbildung globaler Eliten im Zusammenhang steht, die abseits der Ebene von Nationalstaaten agieren. Zum Beispiel: Was bedeutet das für die Demokratie, internationale Beziehungen, Korruption und Besteuerung? Die Sozialwissenschaften seien bislang noch zu stark auf Nationalstaaten fokussiert und würden diese globalen Klassen bzw. deren Agieren nicht angemessen berücksichtigen.

Kritische Würdigung

Das Thema »Ungleichheit« kann ein recht trockenes Thema sein, das schnell ins Abstrakte abdriftet, wenn der Fokus alleine auf statistischen Kennziffern, ökonomischen Grafiken oder Formeln liegt. Aber das ist nicht der Weg, den Milanović in seinem Buch einschlägt. »Visions of Inequality« ist geebnet durch Milanovićs Trias aus Narrativ, Theorie und Empirie. Das wiederum lässt aus seinem fundierten Buch natürlich keinen unterhaltsamen Thriller oder Fantasy-Roman werden. Aber es ist gut lesbar: Die Kapitel sind nicht überdimensioniert, können – trotz Querverbindungen – auch separat gelesen werden und die Inhalte (real existierende Ungleichheit, Theorie usw.) werden anregend arrangiert. Auch Milanović kommt nicht ohne Formeln, typisch ökonomische Grafiken, Statistiken und Tabellen aus, aber das alles hält sich in Grenzen und fügt sich gut in die präsentierten Inhalte ein.

Das Highlight von »Visions of Inequality« dürfte aber das siebente Kapitel zur Ökonomik während des Kalten Kriegs sein. Milanovićs Schilderungen können verblüffend wirken, aber auch deutlich zum Nachdenken anregen. Und das hat mehrere Gründe. Erstens werden Kapitalismus und Staatssozialismus relativ sachlich als soziokultureller Hintergrund der jeweiligen Vergleichsstaaten erörtert, sozusagen auf Augenhöhe, ohne Schaum vor dem Mund. Zweitens präsentiert Milanovićs keine pejorativen Stereotype über das Wirtschaften im real-existierenden Sozialismus: Wer Milanović aufmerksam folgt, wird feststellen, dass es offenbar ganz unterschiedliche Formen real-sozialistischer Wirtschaftspraktiken gab. Dass die Ungleichheit im Real-Sozialismus geringer ausfiel als in real-kapitalistischen Systemen, mag vielleicht nicht stark verwundern. Wer die Ausführungen zu Unternehmen in sozialistischen Marktwirtschaften, die durch die Belegschaft geführt wurden, liest, kann dann aber gut ins Grübeln darüber kommen, ob zur Verringerung von Einkommensungleichheit auch heute ein Blick in genau diese Richtung lohnenswert wäre. Ähnlich kann die Einschätzung von staatlichen Monopolen ausfallen, in denen Monopolgewinne nicht einzelnen Individuen, sondern der Gesellschaft zugutekommen. Überhaupt wird deutlich, dass die Reduzierung von Privateigentum auch die Ungleichheit reduzieren mag. Das ist bereits in der ›sozialistischen‹ Logik angelegt, da Privateigentum und Kapital mit Aneignung und Ausbeutung einhergehen und im Kapitalismus dort der Grundstein für die ›kapitalistische‹ Ungleichheit liegt.

Also »mehr Sozialismus wagen«? Das wäre wiederum ein Schnellschuss, der nicht wirklich ins Schwarze zu treffen scheint. Denn Milanović verdeutlicht auch die Ambivalenz der real-sozialistischen Systeme: zum Beispiel klingt die Existenz von Korruption ebenso an wie die autoritären Züge im Umgang mit Daten. Zudem merkte Milanović an anderer Stelle – in einem Interview bei Tilo Jung – an, dass Teile der Mitarbeitenden in einem demokratisch – durch die Belegschaft – geführten Unternehmen nicht zwangsläufig ein Interesse daran haben müssen, Gewinne zu investieren, sondern sich diese lieber auszahlen lassen. Das kann volkswirtschaftlich zum Problem werden. Dem ließe sich zwar entgegenhalten, dass Milanović die ›neoklassischen‹ Annahmen (am Eigennutz orientierte Menschen, Nutzenmaximierung usw.) einfach auf solche anderen (sozialistischen) Wirtschaftsformen überträgt. Möglicherweise wäre also auch ein Kulturwandel notwendig, mit dem ein anderes Verhalten einherginge. Gleichwohl, einfach vom Tisch wischen lassen sich Milanovićs Einwände nicht.

Drittens ist vor allem für zukünftige Forschungen der Hinweis wichtig, dass sich ›die kapitalistische Klasse‹ globalisiert und diese ›globale Elite‹ abseits von Nationalstaaten agiert. Das wäre auch politisch zu beachten, wenn es darum gehen soll, Ungleichheit zu reduzieren. Dazu stellt Milanović überzeugend dar, dass die innerstaatliche, die zwischenstaatliche und die globale Ebene von Ungleichheit und die damit verbundenen Wirkprozesse im Zusammenhang zu berücksichtigen sind. Allerdings stellt sich dann auf der Ebene der Ökonomik die Frage, wie das angemessen einzufangen ist. Ob eine rein mathematik-verliebte Ökonomik den institutionellen, kulturellen und rechtlichen Aspekten der Ungleichheit Rechnung tragen kann, lässt sich durchaus bezweifeln. Bei Milanović deutet sich dieser Punkt mehrfach an, wenn er auf die Bedeutung der Narrative hinweist. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob das und die damit verbundenen normativen Aspekte überhaupt einer formal-mathematisch und ökonometrisch ausgerichteten Ökonomik zugänglich sind. Müsste Ökonomik dann nicht methodologisch anders praktiziert werden? Müssten die heute populären mathematischen und ökonometrischen Bestandteile nicht zu Gunsten anderer Forschungsverfahren und Praxen zurückgestellt werden? Wäre Ökonomik dann nicht ganz anders zu praktizieren? Wenn das so ist, wie weit geht Milanovićs Sympathie gegenüber der Idee ›der‹ Ökonomik als Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaft? 

Erstaunlich deutlich ist Milanović mit seiner Kritik gegenüber dem Empirismus der modernen Ökonomik. Mit dieser Kritik ist er nicht alleine. Zu denken wäre etwa an Volker Caspari (2021), der in der FAZ kritisch fragte »Übertreiben die Volkswirte die Empirie?«; oder an den mit Augenzwinkern gemeinten kritischen Begriff der »Data Geek Economics« in »Der korrumpierte Mensch« von Jonathan Aldred (2020). Streng genommen stellt sich damit auch die Frage, welche Bedeutung eine Ökonomik noch haben kann, die sich praktisch theorielos auf Empirie und statistische Verfahren und Modelle konzentriert? Reicht es dann nicht aus, die entsprechenden ökonometrischen Modelle von Fachleuten der angewandten Mathematik, Statistik o.Ä. mit Daten füllen zu lassen? Wer braucht dann noch Fachleute ›der‹ Ökonomik?

Auch spart Milanović nicht mit Kritik an der Neoklassik und das vor allem in der Zuspitzung einer »Cold War Economics«, bezüglich der er verschiedene libertäre, marktfundamentalistische Institutionen wie die Mont-Pèlerin-Society und das Cato-Institut erwähnt. Normalerweise finden sich solche Hinweise in dieser Deutlichkeit im Bereich der Pluralen Ökonomik (heterodoxe Ökonomik). Damit verbindet sich aber auch einer der wenigen Kritikpunkte an Milanović. Es ist ausgesprochen schade, dass er bei seiner Kritik an der modernen, neoklassisch geprägten Ökonomik keine einschlägige Literatur aus der Szene der Pluralen Ökonomik nennt. Die entsprechende Literatur dürfte mittlerweile ganze Regalwände füllen. Es gibt auch verschiedene Studien, die sich mit diesem problematischen Zustand ›der‹ Ökonomik befassen, z.B. mit der Rolle der ökonomischen Fachjournals, Literaturverweise und Rankings 7 Kapeller 2010 und Dobusch/Kapeller 2009 , der Ausgrenzung/ Marginalisierung anderer Denkschulen 8 Heise/Thieme 2016 oder dem Marktfundamentalismus in ›der‹ Mainstreamökonomik 9 Ötsch 2019 . Gerade wenn Milanović am Ende die Dependenztheorie erwähnt, sei darauf aufmerksam gemacht, dass diese eben oft nur in den heterodoxen Randbereichen oder in anderen Disziplinen ihr Dasein fristet. Das ganze Thema der Normativität bleibt auch ein blinder Fleck, obwohl fundierte Kritik am Umgang mit Normativität in ›der‹ Ökonomik – sowohl methodologisch geprägt 10 etwa Lawson 2018 als auch aus ›der‹ Wirtschaftsethik 11 z.B. Ulrich 2016 – existiert. Denn wenn es um Narrative geht, auf die Milanović bewusst abstellt, dann dreht es sich letztlich um Erzählungen, die Werte vermitteln. Sollte Normativität dann nicht auch ein Thema sein? Dazu sei zumindest erwähnt, dass es durchaus auch sozialökonomische Konzepte gibt, die den Aspekt der Narrative aufgreifen könnten, etwa das Denken in Wirtschaftsstilen 12 Thieme 2018 .

Abschließend noch ein positiver Aspekt: Milanović präsentiert mit seinem Buch nicht einfach nur ökonomische Ideengeschichte, sondern führt den Lesenden gleichsam einen Anspruch an Forschung vor, der neben Theorie und Empirie auch ganz bewusst Narrative berücksichtigt. Damit geht Milanović über das in der modernen Ökonomik populäre positivistische, am – nach eigenen Aussagen – kritischen Rationalismus orientierte wissenschafts- und erkenntnistheoretisches (Selbst-) Verständnis als akademische Disziplin hinaus. Im Grunde präsentiert er ein sozialökonomisches Denken 13 siehe z.B. Mikl-Horke 2015a, 2015b , das Wirtschaft und Gesellschaft zusammendenkt und das, was Fachleute der Ökonomik erforschen, als raum-, zeit- und kulturbedingt begreift. Das ist erfrischend anders als das Bild von Ökonomik, das Studierende im Studium der Ökonomik kennenlernen oder das ein interessiertes Publikum von Fachleuten der etablierten (modernen) Ökonomik in den Medien vermittelt bekommt.

Fazit

Mit »Visions of Inequality« ist Branko Milanović ein gut lesbares und informatives Buch über die Geschichte der wirtschaftstheoretischen Bearbeitung von Ungleichheit gelungen. Sein Zugang über die Trias Narrative-Theorie-Empirie bietet einen ›neuen‹ – alternativen – Blick auf wirtschaftliche Phänomene und das, was Ökonomik als akademische Disziplin sein kann. Das Arrangement mit empirischen Aspekten der Lebensumstände jener Ökonomen, die er behandelt, lässt seine ökonomische Ideengeschichte der Ungleichheit besonders plastisch werden. Deshalb sei das Buch auch und vor allem Studierenden der VWL empfohlen. Besonders spannend ist aber sein finales Kapitel zur Ökonomik im Kalten Krieg. Dies wirft im positiven Sinne viele Fragen auf und regt zum Nachdenken an. Es wäre wünschenswert, wenn Milanović dies in einer zukünftigen Publikation vertieft. Bis dahin muss dafür »Visions of Inequality« als Lektüre genügen. 

Literatur

Aldred, Jonathan (2020): Der korrumpierte Mensch. Die ethischen Folgen wirtschaftlichen Denkens. Stuttgart: Klett-Cotta.
Caspari, Volker (2021): Übertreiben die Volkswirte die Empirie? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, https://​www.faz.net​/​aktuell/​wirtschaft/​mehr-​wirtschaft/​uebertreiben-​die-​volkswirte-​die-​empirie-​17272930.html [Zugriff: 04.06.2024].
Dobusch, Leonhard/Kapeller, Jakob (2009): “Why is Economics not an Evolutionary Science?” New Answers to Veblen’s Old Question. In: Journal of Economic Issues 43, 4, S. 867–898.
Heise, Arne/Thieme, Sebastian (2016): The Short Rise and Long Fall of Heterodox Economics in Germany After the 1970s: Explorations in a Scientific Field of Power and Struggle. In: Journal of Economic Issues 50, 4, S. 1105–1130.
Kapeller, Jakob (2010): Citation Metrics: Serious Drawbacks, Perverse Incentives, and Strategic Options for Heterodox Economics. In: The American Journal of Economics and Sociology 69, 5, S. 1376–1408.
Krämer, Hagen (2015): Make No Mistake, Thomas! Verteilungstheorie und Ungleichheitsdynamik bei Piketty. In: Bofinger, Peter/Horn, Gustav/Schmid, Kai D./van Treeck, Till (Hrsg.): Thomas Piketty und die Verteilungsfrage. Analysen, Bewertungen und wirtschaftspolitische Implikationen für Deutschland. SE Publishing, S. 37–71.
Lawson, Tony (2018): Beyond Deductivism. In: Fiorito, Luca/Scheall, Scott/Suprinyak, Carlos Eduardo (Hrsg.): Research in the History of Economic Thought and Methodology. Research in the History of Economic Thought and Methodology. Emerald Publishing Limited, S. 19–36.
Mikl-Horke, Gertraude (2015a): Traditionen, Problemstellungen und Konstitutionsprobleme. In: Hedtke, Reinhold (Hrsg.): Was ist und wozu Sozioökonomie? Wiesbaden: Springer VS, S. 95–123.
Mikl-Horke, Gertraude (2015b): Was für eine Ökonomie ist die Sozialökonomie/Sozioökonomie? In: Heise,
Arne/Deumelandt, Kathrin (Hrsg.): Sozialökonomie – ein Zukunftsprojekt. Marburg: Metropolis, S. 13–53.
Milanović, Branko (2023): Visions of Inequality. From French Revolution to the end of the Cold War. Cambridge/ Massachusetts, London/ England: Belknap Press of Harvard University Press.
Ötsch, Walter (2019): Mythos Markt. Mythos Neoklassik. Das Elend des Marktfundamentalismus. Kritische Studien zu Markt und Gesellschaft, Band 11. Marburg: Metropolis-Verlag.
Thieme, Sebastian (2018): Spiethoff’s Economic Styles: a Pluralistic Approach? In: Economic Thought 7, 1, S. 1–23.
Ulrich, Peter (2016): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Bern: Haupt Verlag. 5., durchgesehene Auflage.
Werlhof, Claudia von/Mies, Maria/Bennholdt-Thomsen, Veronika (Hrsg.) (1983): Frauen, die letzte Kolonie. Technologie und Politik Die Zukunft der Arbeit, Band 4. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag.