Ende der Globalisierung?

Der Neoliberalismus wankt, die geopolitische Lage eskaliert – doch kehren wir wirklich zum Nationalstaat zurück? In seinem neuen Buch analysiert der Politökonom Milan Babić die tektonischen Verschiebungen der Gegenwart und entwirft ein neues Deutungsmodell: die Geoökonomie. Was steckt hinter dieser neuen Ordnung – und was bedeutet sie für progressive Politik, fragt Julia Werthmann in ihrer Rezension.

Die Zukunft liegt in der vertieften globalen Vernetzung, ob wir es wollen oder nicht. Vor ein paar Jahren wäre diese Aussage unwidersprochen geblieben, heute klingt sie wie veraltet. Kriege und imperiale Gelüste entbrennen, Grenzen werden geschlossen und Zölle erlassen. Die Gegenwart setzt die Gewissheiten der neoliberalen Globalisierung aus, die seit den 1990ern galten. Die neoliberale Ordnung geht unter.  

Worin liegt die neue Zukunft? In der Vergangenheit, behaupten manche Kommentatoren. Wir seien Zeugen einer Rückkehr zum deglobalisierten Nationalstaat. Nach jahrzehntelangem Marktdiktat erstarke der Staat und mit ihm das Nationalgefühl, das wiederum geopolitische Konflikte provoziere.  Nicht wirklich, meint der Politische Ökonom Milan Babić in seinem neuen Buch »Geoökonomie. Anatomie der neuen Weltordnung«. Babić lehrt und forscht an der Universität Amsterdam und stellt sich die Frage: Was für eine Ordnung bildet sich derzeit heraus? Seine Antwort: Weder eine neoliberal globalisierte noch in eine vorneoliberal geopolitische – sondern eine geoökonomische. 

Worin sich Neoliberalismus und Geoökonomie laut Babić unterscheiden, veranschaulichen zwei Kanzler-Aussagen zur Aufgabe des Nationalstaates im globalen Gefüge. 1999 beantwortete Gerhard Schröder die Frage so: »Die Globalisierung bedeutet nicht das Ende der staatlichen Handlungsfähigkeit. Wichtig ist, daß wir unsere nationale Politik den Bedingungen der Globalisierung anpassen«. 2022 legte Olaf Scholz den Fokus bereits ganz anders: »Mehr wirtschaftliche Resilienz lautet das Gebot der Stunde in dieser multipolaren, krisenanfälligen Welt.« Was  hier zum Ausdruck kommt, ist Babić zufolge ein Wandel einerseits im Verhältnis zwischen Staat und Markt und andererseits in der  Wahrnehmung globaler Vernetzung. 

Die Versprechen der Globalisierung

Bevor Babić diesen Wandel in je eigenen Kapiteln zu Staat, Wirtschaft und Politik nachvollzieht, vergegenwärtigt er noch einmal das bereits Verblassende. Entgegen der weitverbreiteten Auffassung, die neoliberale Globalisierung habe den Staat den Marktgesetzen untergeordnet, argumentiert Babić: Der Staat hat den globalen Markt erschaffen. Seine Gesetze und Institutionen haben die (Finanz-)Wirtschaft dereguliert, flexibilisiert und transnationalisiert. Die Begründung politischer Entscheidungen sei dann auf die neuen Bedingungen zugeschnitten worden: »Weil globale Investoren ‚scheu‘ und alternative Investitionsziele stets verfügbar waren, sollte die heimische Wirtschaftspolitik in erster Linie die Wettbewerbsbedingungen des eigenen Landes verbessern. Standortvorteile mussten hergestellt und kontinuierlich gegen gesellschaftliche Ansprüche verteidigt werden.« 

Julia Werthmann

Julia Werthmann forscht und lehrt zum Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie an der Universität Wien. Als freie Autorin schreibt sie u.a. für ZEIT Online und den Freitag.

Der eigenen Bevölkerung sei die Globalisierung als »Chance« verkauft worden: Vernetzung sei friedliche Kooperation aller mit allen. Der ungehinderte Fluss von Kapital, Mensch und Wissen würde allgemeinen   Wohlstand bringen. Kulturelles Begehrenssymbol und geopolitischer Patron dieser Ordnung in den 1990ern und 2000ern waren unbestritten die USA. Nicht nur trieben sie die neoliberale Agenda in internationalen Institutionen wie der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds voran oder verteidigten diese notfalls militärisch, auch McDonalds und Coca-Cola konsolidierten ihre Macht. Oder wie Babić schreibt: »Die neoliberale Globalisierung lebte wesentlich von der Anziehungskraft des American Way of Life auf Milliarden Menschen überall auf der Erde«.

Selbstredend ließen sich von dieser Erzählung nicht alle überzeugen. Schließlich formierte sich bereits um die Jahrtausendwende die globalisierungskritische Bewegung. Sie mahnte an: Der globale Markt sei nicht egalitär; finanzstarke Unternehmen und Länder des Westens würden das globale Gefüge zu ihren Gunsten ausnutzen, auf Kosten des Globalen Südens und der Arbeiterinnen und Arbeiter im Globalen Norden.

Anfang der 2000er waren diese Globalisierungskritikerinnen und -kritiker noch in der Minderheit. Zu schön klang die fröhliche Erzählung globaler Aussöhnung. Doch im neuen Jahrtausend verlor die neoliberale Erzählung an Überzeugungskraft. Die BRICS-Staaten rückten ins Zentrum der globalen Ordnung – ohne jedoch deren neoliberalen Spielregeln zu akzeptieren. Sie kritisierten und unterliefen die internationalen Institutionen und Infrastrukturen, brachten etwa mit der von China initiierten Belt and Road Initiative (BRI) globale Vernetzungsinfrastrukturen jenseits der US-Einflusses hervor. Außerdem etablierte sich der aufstrebende Wirtschaftsgigant China mit seinem staatsgelenkten, protektionistischen Kapitalismus als Gegenmodell des US-dominierten Freie-Märkte-Modell. 2007 riss ein Börsensturz am Finanzmarkt, ausgelöst durch Hypothekenspekulationen, die gesamte vernetzte Weltwirtschaft in einen Abgrund. 

In der Zusammenschau zeigte sich immer deutlicher: Die neoliberale Globalisierung bringt nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer hervor. Die Konkurrenz um die verbliebenen Gewinne wurde zeitgleich durch ein stagnierendes Wachstum des globalen Kapitalismus verschärft.  

Eine Neubewertung globaler Vernetzung setzte ein, von der das genannte Scholz-Zitat Zeugnis gibt. Vernetzung wird heute als potenzielles Risiko verhandelt. Im Fokus stehen ihre Gefahren: Internationale Finanzmärkte zögen nationale Wirtschaften mit in den Ruin, Pandemien verbreiteten sich entlang globaler Lieferketten und die Ressourcenabhängigkeit von kriegsführenden Staaten beschneide politische Handlungsräume. 

Laut Babić schwenken Staaten in diesem Lichte auf eine Strategie selektiver Vernetzung um. Manche Verbindungen, etwa die europäische zum russischen Gas, werden gekappt, während andere – europäische, lateinamerikanische oder asiatische Bündnisse – vertieft werden.  Das ist die zentrale These von Babics Theorem der Geokönomie: Wir erleben keine deglobalisierte Abschottung, sondern strategische (Ent-)Kopplung nach machtpolitischem Kalkül. Weltweit versuchen Staaten, die eigene Position zu stärken und »politischen Spielraum zurückzugewinnen«. Durch »Regulierung, Wirtschaftsaußenpolitik oder auch staatliche Investitionen« streben sie nach der Kontrolle von Wertschöpfungsketten und Infrastrukturen. Babic belegt seine These mit dem Verweis auf vermehrte staatliche Investitionsprüfungen oder Ausfuhrkontrollen.

Babić zeigt das erhöhte Konfliktpotential der geoökonomischen Zeit auf. Er lenkt den Blick aber nicht nur auf deren Gefahren, sondern auch auf die Chancen: Konfliktualisierung erzeuge eine »Rückkehr der Politik«. Im Neoliberalismus seien wirtschaftspolitische Richtungsentscheidungen zu Notwendigkeiten depolitisiert worden. Machtgräben seien von einer dicken Schicht Globalisierungseuphorie übermalt worden. Wenn die geoökonomische Zeit nun solch einer idealistischen Erzählung entbehrt, dann sind ihre Machtverhältnisse einfacher erkennbar – und das erleichtere eine an Gerechtigkeit interessierte Kritik.

Klug reagieren gegenwärtig allerdings vor allem rechte Kräfte auf die neue geoökonomische Realität. Das nimmt auch Babić zur Kenntnis, erklärt jedoch nicht, wieso sie sich gegenüber den linkspopulistischen Alternativen der 2010er durchgesetzt haben. Seine Analyse weiterdenkend könnte man jedoch mutmaßen: Einerseits entspricht die geoökonomische Logik des Machtkampfes dem rechten Politikverständnis; andererseits zehren Rechte von dem Verunsicherungsgefühl, das wiedererstarke Konflikte evozieren. Eine vertraut klingende Linderung dafür haben sie parat: Das starke, exklusive Wir der Nation.

Babić Rekonstruktion verbietet jedoch voreilige Schlüsse: Zwar beherrschen Rechte das geoökonomische Vokabular besser und erstarken in seinen Gefilden. Allerdings: Sie haben diese Konfliktwelt nicht allein hervorgebracht. Die Krisenanfälligkeit und Machthierarchien der neoliberalen Globalisierung kombiniert mit einem stagnierenden Kapitalismus sind die Quelle dieser Entwicklung. Die Problemursachen liegen also tiefer. Genau das ist laut Babić auch ein Grund zur Zuversicht: Lösungen für die strukturellen Probleme der Gegenwart haben die Rechten nicht parat. Deshalb schätzt er die Überlebensfähigkeit dieses, so Babić, »falschen Populismus«, als niedrig ein. Allerdings ließe sich hier zurückfragen, ob politische Projekte zwangsläufig daran scheitern, dass sie keine Lösungen für die »echten« Probleme anbieten. Die Geschichte hält genug Beispiele dafür bereit, dass Politik nicht nur ein Kampf um die beste Lösung, sondern ebenfalls um die Beschreibung des Problems ist. Wer das Problem vor allem in einer angeblichen überwältigenden Migrationsflut sieht, der kommt gar nicht erst in den Zugzwang, wirtschaftliche Ungleichheiten, Krisenhaftigkeit und Entdemokratisierung zu bearbeiten.

Was tun?

Es bleibt also die Frage: Wie können sich progressive Kräfte, die eine Demokratisierung der nationalen wie globalen Verhältnisse anstreben, in den geoökonomischen Koordinaten bewegen? Babić Antwort dazu bleibt vage: Schwierig, denn sie sind mit einer Vielzahl an Krisen und einer hyperpolitischen Volatilität konfrontiert.  

Man könnte die Frage so beantworten: Anders als Rechte und Konservative können Progressive nicht freudig mitbauen an der widererstarkten Nation oder an den geoökonomischen Blöcken – egal ob diese ethnisch oder wirtschaftlich definiert werden. Sie können aber auch nicht wie Liberale einer verklärten (neoliberalen) Vergangenheit nachtrauern. Sie brauchen eine dritte Antwort auf die neue Zeit. Eine solche Antwort setzt zunächst voraus, eine Kontinuität zwischen der neoliberalen und der geoökonomischen Ordnung zu benennen: Der neoliberale Imperativ des Marktes funktioniert analog zu dem geoökonomischen Imperativ der Selbstverteidigung. Jeweils wird eine Notwendigkeit behauptet, der sich etwa der Wunsch nach einer gerechten Sozialpolitik oder einer demokratischeren Wirtschaftspolitik unterzuordnen haben. Diese bereits im Neoliberalismus vermissten politischen Aushandlungsspielräume, in denen das Ziel nicht bereits vordefiniert ist, gilt es zu erkämpfen. Überdies muss nach solidarischen Sicherheitsideen jenseits der exklusiven, wehrhaften Nation gesucht werden. 

Hilft uns Babić Buch dabei? Zunächst einmal schützt er vor dem verbreiteten Irrglauben, die Gegenwart ließe sich mit Begriffen der Vergangenheit beschreiben – und liefert mit der Geoökonomie ein neues Vokabular, um diese Gegenwart zu besser zu fassen. In diesem Sinne ist das Buch ein dringend benötigter Beitrag zur politischen Debatte. Doch während Babić analytisch brilliert, bleiben seine politisch-strategischen Überlegungen zur Frage, wie die geoökonomischen Verhältnisse demokratisiert werden könnten, blass. Positiv formuliert: Die Analyse regt zum Weiterdenken an. 

Ein Sprungbrett für weitere Überlegungen kann die folgende Erkenntnis bieten: Die Zukunft liegt weder in vertiefter globaler Vernetzung, noch muss sie zwangsläufig in einer Eskalation geoökonomischer Konflikte liegen. Zwar entspringt Zukunft immer den Gegebenheiten der Gegenwart, aber in welcher Weise politische Akteure diese Möglichkeiten nutzen oder verwerfen, ist offen. Keine Zukunft ist vorherbestimmt. Diese banale Erkenntnis einzufordern ist der Grundbaustein emanzipativer Politik – sei es gegenüber neoliberalen Marktimperativen oder geoökonomischer Wehrhaftigkeitsideen.