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Europa braucht eine europäische Industriepolitik

In den USA, in Europa und Deutschland feiert die Industriepolitik ein Comeback. Gibt es einen neuen Konsens im Westen? Janek Steitz und Philippa Sigl-Glöckner zeichnen in ihrem Beitrag die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte grob nach und stellen fest: Industriepolitik ist in Zeiten disruptiver Strukturwandel besonders wichtig. Die EU hat das erkannt – aber die jüngsten Ankündigungen haben einen Haken.

Industriepolitik feiert augenscheinlich ein Comeback. In den USA hat die Biden-Regierung in den letzten zwei Jahren mit vier Gesetzespaketen, darunter dem Inflation Reduction Act, eine industriepolitische Großoffensive gestartet. In Deutschland und Europa zeichnet sich ein ähnliches Bild ab: Bundeswirtschaftsminister Habeck rief im November auf dem jährlichen Industriekongress des BDI das „Jahr der Industriepolitik“ aus. Sein Ministerium arbeitet derweil an einer neuen Industriestrategie, die bis Mitte des Jahres veröffentlicht werden soll. Und auch EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen kündigte auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor zwei Wochen einen neuen Net-Zero Industrial Act als Teil des EU Green Deal Industrial Plan an. Gibt es einen neuen industriepolitischen Konsens in den westlichen Industrieländern?

Zunächst einen Schritt zurück. Was ist Industriepolitik überhaupt?

Eine allgemein feststehende Definition für Industriepolitik gibt es nicht. Es existieren enge und weite Auslegungen des Begriffs. Zudem hat sich das Verständnis, was Industriepolitik ist, über die Zeit geändert. 1 Ein guter Überblick über die Geschichte der Europäischen Industriepolitik findest sich z.B. bei Ambroziak, A. (2017), The New Industrial Policy of the European Unionhttps://link.springer.com/book/10.1007/978-3-319-39070-3 Klassische Argumente für Industriepolitik reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück, z.B. im Report on Manufactures des Ökonomen und ersten US-amerikanischen Finanzministers Alexander Hamilton, der sich für Industriesubventionen zur Sicherstellung von Autonomie und wirtschaftlichem Wohlstand aussprach. Doch Industriepolitik kann auch weiter definiert werden und muss – trotz der Namensgebung – nicht allein auf den Industriesektor abzielen. Havard-Ökonom Dani Rodrik subsumiert unter Industriepolitik „restucturing policies in favor of more dynamic activities generally, regardless of whether those are located within industry or manufacturing per se“. 2 Altenburg, T., & Assmann, C. (Eds.) (2017), Green Industrial Policy. Concept, Policies, Country Experiences. Geneva, Bonn: UN Environment; German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitk (DIE); Chapter 1: Altenburg, T., Rodrik, D. (2017), Green industrial policy: Accelerating structural change towards wealthy green economies, https://drodrik.scholar.harvard.edu/files/dani-rodrik/files/altenburg_rodrik_green_industrial_policy_webversion.pdfWeitere Ausführungen finden sich in: Rodrik, D. (2004), Industrial policy for the twenty-first century, https://drodrik.scholar.harvard.edu/files/dani-rodrik/files/industrial-policy-twenty-first-century.pdf. In der gängigen Literatur ist den allermeisten Definitionen gemein, dass Industriepolitik auf eine Reihe von Wirtschaftsaktivitäten abzielt, um ein besseres gesellschaftliches Ergebnis herzustellen. In Bezug auf die Richtung staatlicher Eingriffe lässt sich allgemein zwischen vertikaler und horizontaler Industriepolitik unterscheiden. Vertikal beschreibt dabei selektive Eingriffe in einzelnen Branchen bzw. Sektoren, z.B. durch Sektoren- oder unternehmensspezifische Subventionen oder Regularien. Horizontal subsumiert allgemeine Rahmenbedingungen, die sektorenübergreifend wirken. Hierzu zählen z.B. die Förderung von Forschung und Entwicklung, die Herstellung von fairem Wettbewerb über Wettbewerbspolitik oder die Bereitstellung leistungsfähiger Infrastrukturen.

Janek Steitz

Janek Steitz ist Ökonom und Direktor beim Makrofinanz-Thinktank Dezernat Zukunft, wo er die klima- und industriepolitische Arbeit leitet. Zuvor war er mehrere Jahre bei der Denkfabrik Agora Energiewende und in der Wirtschaftsberatung.

Funktioniert Industriepolitik?

Was ein besseres gesellschaftliches Ergebnis ist, darüber lässt sich freilich streiten. Traditionell wird im Kontext der Industriepolitik darunter oft die Zunahme wirtschaftlicher Wertschöpfung durch die Verschiebung von Produktionsfaktoren, Kapital und Arbeit, von Tätigkeiten mit niedriger zu solchen mit hoher Produktivität verstanden. Funktioniert Industriepolitik gemessen an diesem Ziel? Da sind sich Ökonom:innen uneinig.

Befürworter:innen begründen die Notwendigkeit von Industriepolitik vor allem mit Marktversagen, darunter positive externe Effekte im Kontext des unternehmerischen Entdeckungsprozesses, Koordinierungs-Externalitäten sowie Marktversagen, das aus Pfadabhängigkeiten resultiert. Diese Marktversagen werden auch von Gegnern anerkannt. 3 Siehe für eine Erklärung z.B. Rodrik (2004), Industrial policy for the twenty-first century, https://drodrik.scholar.harvard.edu/files/dani-rodrik/files/industrial-policy-twenty-first-century.pdf. Doch ob Staatsinterventionen, vor allem vertikale Eingriffe, deshalb zu besseren Ergebnissen führen, ist umstritten. Gegner von Industriepolitik lehnen gezielte Eingriffe vor allem deshalb ab, weil der Staat aus ihrer Sicht aufgrund von unzureichenden Informationen, der Empfänglichkeit für Lobbyaktivitäten von Unternehmen, auch rent seeking genannt, sowie Interessenkonflikten, die in der Public-Choice-Theorie 4 [2] Public-Choice-Theorie: Danach haben politisch Verantwortliche zunächst ihren individuellen Nutzen und erst danach das Gemeinwohl im Sinn. Der persönliche Nutzen eines Politikers ist z.B. sein Ansehen aus einem öffentlichen Amt. Daher wird er sein politisches Handeln dem Ziel einer Wiederwahl unterordnen und Interessengruppen bevorzugen, die ihm helfen können, das zu erreichen. Da nur gut organisierte Gruppen hilfreich sind, werden deren Interessen zuerst befriedigt. Aus Sicht der Public-Choice-Theorie werden so die unwirtschaftliche Verwendung und Verteilung öffentlicher Mittel begünstigt (z.B. durch Subventionen). Aus: Vgl. Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 6. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2016. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016, https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-der-wirtschaft/20289/public-choice-theorie/. begründet sind, ungeeignet ist, intervenierende Industriepolitik durchzuführen.

Die Gegenargumenten lassen den Schluss zu, dass der Erfolg von Industriepolitik in erster Linie eine Frage der konkreten Umsetzung und Governance ist. Das wird von Metastudien der empirischen Evidenz bestätigt: Industriepolitik ist nicht per se erfolgreich – es kommt auf das „wie“ und nationale Kontexte an. 5 Vgl. z.B. Criscuolo, C., et al. (2022), Are industrial policy instruments effective?: A review of the evidence in OECD countries, OECD Science, Technology and Industry Policy Papers, No. 128, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/57b3dae2-en; Pack, H., Saggi, K., (2006), Is There a Case for Industrial Policy? A Critical Survey, The World Bank Research Observer, Volume 21, Issue 2, Fall 2006, Pages 267–297, https://doi.org/10.1093/wbro/lkl001.  Eine grundsätzliche Schwierigkeit bei der Bewertung industriepolitischer Maßnahmen ist das Fehlen kontrafaktischer Szenarien. Generell hat sich jedoch die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Ansatz des „winners picking“ selten erfolgreich ist. Vertikale Eingriffe können aber gerechtfertigt sein, beispielsweise im Fall hoher sektoraler Eintrittsbarrieren, die Unternehmen eines Landes trotz komparativer Vorteile den Markteintritt erschweren. Eine weitere Erkenntnis ist auch, dass Industriepolitik eher wirksam ist, wenn sie ein Teil eines gesamtwirtschaftlichen Plans mit konkreten Zielen und sektorübergreifenden Missionen ist; und eher legitim ist, wenn diese Pläne integrativ, demokratisch beschlossen und rechenschaftspflichtig sind.

Warum das jüngste Comeback?

Was die Popularität von Industriepolitik im Westen betrifft, folgte auf einen steilen Anstieg zwischen 1960 und 1980 ein ebenso steiler Abstieg (siehe Abbildung 1). Yakov Feygin begründet den Abstieg damit, dass die Idee der Industriepolitik mit dem vermeintlichen Scheitern des keynesianischen Projekts in den 1970er Jahren verbunden wurde. Das Ende des keynesianischen Projekts legte wiederum den Grundstein für die Reagan-Thatcher-Revolution und die Konsolidierung neoliberaler wirtschaftspolitischer Ideen. Der wiedererstarkte laissez-faire-Ansatz für Wirtschaftspolitik im Westen wurde auch auf die Industriepolitik übertragen. Intervenierende Industriepolitik wich horizontaler Ordnungs- und Wettbewerbspolitik im Westen. In Europa manifestierte sich diese Phase – unter Zutun von Thatcher – unter anderem in der Verabschiedung des Single European Act, der den EU-Binnenmarkt vervollständigte, einschließlich neuer, begrenzender Regeln für staatliche Beihilfen (state aid). 6 Vgl. Tagliapietra, S., Veugelers, R. (2020), A Green Industrial Policy For Europe, https://www.bruegel.org/sites/default/files/wp_attachments/Bruegel_Blueprint_31_Complete_151220.pdf.

Abbildung 1: 7 https://books.google.com/ngrams/graph?content=industrial+policy&year_start=1900&year_end=2019&corpus=en-2019&smoothing=3

Dezernat Zukunft

Das Dezernat Zukunft ist ein überparteiliches Institut mit dem Ziel, Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik verständlich zu erklären, einzuordnen und neu zu denken. Bei dieser Arbeit ist es geleitet von seinen Kernwerten Demokratie, Menschenwürde und breit verteilter Wohlstand.

In den 1990ern und frühen 2000ern setzten sich Liberalisierungsprogramme weiter fort, doch nach der Globalen Finanzkrise 2008 änderte sich das Bild. Das lag zum einen an den offensichtlichen Marktversagen, die im Kontext der Krise zutage traten. Aus Sicht von Reda Cherif und Fuad Hasanov vom Internationalen Währungsfonds gibt es noch einen anderen Erklärungsansatz: Gesunkener Popularität im Westen zum Trotz spielte die Politik that shall not be named eine Schlüsselrolle für den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und der Tigerstaaten Südkorea, Hong Kong, Taiwan und Singapur und wurde damit auch für den Westen wieder attraktiver.

Doch guckt man auf die industriepolitischen Ankündigungen von Biden, von der Leyen und Habeck, fällt vor allem eins auf: Die Notwendigkeit von Industriepolitik wird neben der Sicherstellung von Wettbewerbsfähigkeit vor allem mit zwei anderen Argumenten begründet: Strategische Souveränität und grüne Transformation.

Disruptive Strukturwandel erfordern Industriepolitik 

Die Welt befindet sich einer Polykrise, einer Welt mit overlapping emergencies: Covid-19-Krise, Russischer Angriffskrieg und Gefahr nuklearer Eskalation, Systemwettbewerb zwischen China und den USA – und Klimakrise. Wie Lawrence Summers, ehemaliger US-Finanzminister, festgestellt hat:

This is the most complex, disparate and cross-cutting set of challenges that I can remember in the 40 years that I have been paying attention to such things.

In den USA und Europa ist es politischer Konsens, dass die neuen geopolitischen Rahmenbedingungen einen stärkeren Fokus auf die Herstellung strategischer Souveränität erfordern. Konkret heißt das, dass sich die Komposition der im Inland erzeugten und aus dem Ausland importierten Güter und Dienstleistungen zugunsten von im Inland erzeugten oder von befreundeten Partnern aus dem Ausland importierten Gütern und Dienstleistungen kurzfristig verschieben soll – kurz gesagt: mehr „reshoring“ und „friendshoring“. Neben Energie und Rohstoffen betrifft das beispielsweise auch technische Komponenten wie Computer-Chips sowie kritische Energiewende-Technologien wie Batterien und Solarpaneele. Es liegt auf der Hand, dass bei solch disruptiven Strukturwandelprozessen – vor allem wenn das Ganze nicht schnell genug geschehen kann – staatliche Unterstützung und industriepolitische Maßnahmen erforderlich sind. Zwar lässt sich über Maß und Komposition aus Reshoring-, Friendshoring– und Diversifikationsstrategien streiten, doch es ist offensichtlich, dass der aus Autonomiegründen motivierte Auf- und Ausbau heimischer Industrien trotz struktureller Nachteile staatliche Unterstützung erfordert. Diese Unterstützung muss nicht zwangsläufig in der Form von Subventionen kommen, sondern kann zum Beispiel auch die Form von Produktstandards bei Staatsbeschaffungen annehmen.

Das Argument für grüne Industriepolitik ist im Fall der grünen Transformation ähnlich eindeutig. Climate Change is a result of the greatest market failure the world has seen, hat Sir Nicholas Stern bereits 2008 festgestellt. Das Ziel der Klimaneutralität erfordert, dass der wirtschaftliche Kapitalstock in kürzester Zeit umfänglich restrukturiert werden muss: von fossil auf erneuerbar, entlang aller Wirtschaftssektoren. Die first-best Lösung wäre, Emissionen in Höhe ihrer externen Kosten zu bepreisen, um so kosteneffiziente Emissionsminderungen zu erzielen. Doch wie unser Forschungsdirektor Max Krahé in einem Essay auf Phenomenal World und dem Politik & Ökonomie Blog herausgearbeitet hat, sind Marktmechanismen allein nicht ausreichend, um die Transformation zu koordinieren. Die Bepreisung von Emissionen ist in Deutschland und Europa absehbar nicht ambitioniert genug. In den USA lässt sie sich erst gar nicht politisch umsetzen. Hinzukommen weitere Externalitäten, z.B. positive Wissens-Spillover sowie Technologieunsicherheiten und Koordinierungsprobleme entlang ganzer Wertschöpfungsketten, die zusätzliche Staatseingriffe und industriepolitische Maßnahmen nötig machen. 8 Vgl. auch Tagliapietra, S., Veugelers, R. (2020), A Green Industrial Policy For Europe, https://www.bruegel.org/sites/default/files/wp_attachments/Bruegel_Blueprint_31_Complete_151220.pdf.  Der amerikanische Inflation Reduction Act – auch wegen des politischen Scheiterns, Emissionen in den USA zu bepreisen – ist der Inbegriff eines industriepolitischen Transformationsansatzes, der zudem noch Ambitionen zur Stärkung strategischer Autonomie und Schaffung heimischer Jobs vereint. In einer Währungsunion wie der Eurozone bedürfen solche Maßnahmen allerdings zusätzlicher Koordination – was im Design der Währungsunion begründet ist und die Umsetzung wesentlich erschwert.

Eine wahrhaft europäische Industriepolitik

Für die Eurozone ist wirtschaftliche Konvergenz zwischen Mitgliedsstaaten von essenzieller Bedeutung. Im 1989 erschienen Delors-Bericht, der den Pfad zur Währungsunion vorzeichnete, wurde Konvergenz deshalb bereits ins Zentrum gestellt. Denn ökonomische Ungleichgewichte verstärken das Risiko von Instabilität in einer Währungsunion, insbesondere in Krisen, wie die Europäische Banken- und Schuldenkrise in den frühen 2010ern gezeigt hat. 9 Vgl. z.B. Lane, Philip R. (2012), The European Sovereign Debt Crisis. Journal of Economic Perspectives, 26 (3): 49-68, https://www.aeaweb.org/articles?id=10.1257/jep.26.3.49. Einseitige oder unkoordinierte nationale Industriepolitik, die zu weiterer Divergenz in der Union führt, ist deshalb eine erhebliche Gefahr für die Währungsunion.

Und damit zurück zur EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihrer Ankündigung eines EU Green Deal Industrial Plans. Von der Leyen verspricht einen neuen Net-Zero Industrial Act, der entlang industrieller Wertschöpfungsketten kritischer Energiewende-Technologien Regularien harmonisieren, Koordination erleichtern und Investitionen ermöglichen soll. Soweit so gut. Daneben soll der Rahmen für Important Projects of Common European Interest (IPCEI), einem Programm zur Förderung großer grenzüberschreitender Innovations- und Infrastrukturprojekte, vereinfacht und für alle Mitgliedsländer zugänglicher gemacht werden, was aus Sicht von Ökonom:innen des Thinktanks Bruegel lange überfällig ist. Zusätzlich sollen die Beihilferichtlinien für transformationsrelevante Bereiche gelockert und vereinfacht werden, was heißt, dass es für Mitgliedsstaaten einfacher werden soll, staatliche Beihilfen an Unternehmen auszuzahlen. Hier liegt der Hund begraben.

Philippa Sigl-Glöckner

Philippa Sigl-Glöckner ist Ökonomin und Gründerin des Think Tanks Dezernat Zukunft, der sich auf Geld-, Finanz-, und Wirtschaftspolitik fokussiert. Zuvor war sie u. a. im Bundesfinanzministerium, als Beraterin des liberianischen Finanzministers und bei der Weltbank tätig. Ihr aktueller Arbeitsschwerpunkt liegt auf der deutschen Fiskalpolitik, den europäische Fiskalregeln und der Finanzierung der Dekarbonisierung.

Bereits im Kontext der Covid-19-Krise wurden die Beihilferegeln im Rahmen des „temporary crisis frameworks“ gelockert. Einer Kommissionsanalyse zufolge wurden 53% der genehmigten staatlichen Beihilfen von Deutschland angemeldet, während Frankreich rund 24%, Italien 7% und die restlichen Länder 16% beisteuerten. Nun soll das „temporary crisis framework“ zum „temporary crisis and transition framework“ werden, d.h. für relevante Transformationsbereiche sollen nationale Beihilfen dauerhaft gelockert werden. Überprüfungen möglicher Verzerrungen des Wettbewerbs im Binnenmarkt durch die Kommission würden eingeschränkt. Wir würden nicht so weit gehen wie Wolfang Münchau von Eurointelligence, der in seinem Newsletter am 17. Januar schrieb „this is a story about a cure that is worse than the disease“. 

Die Kombination aus geopolitischen Krisen und Klimakrise rechtfertigt eine industriepolitische Offensive in Europa – diese ist sogar geboten. Wir sehen aber zwei Gefahren in der Lockerung der Beihilferegeln, die vor allem Ländern mit tiefen Taschen wie zum Beispiel Deutschland zugutekommen: Erstens, wenn Deutschland den eigenen Spielraum nutzt, um hier Wirtschaft anzusiedeln oder zu halten, die eigentlich an anderen Standorten in Europa bessere Voraussetzungen hätte, erhöht das letztlich (europaweit) die Kosten für alle. Das ist besonders problematisch, wenn es um Produkte geht, die Inputs für viele weitere Wirtschaftsprozesse sind, sprich Energie und energieintensive Grundstoffindustrien. Zweitens, ist Deutschland mit umfassender Beihilfepolitik sehr erfolgreich, kann das zu weiterer Divergenz in der Währungsunion führen. Die schon jetzt problematischen Unwuchten würden sich weiter verstärken. Was wäre besser: Eine wahrhaft europäische Industriepolitik. Das heißt: gleiche Rahmenbedingungen und Förderbedingungen für Industrien in allen Mitgliedsländern. Damit würde man den schädlichen Subventionswettbewerb zwischen Ländern reduzieren und das Scheinwerferlicht auf den Wettbewerb zwischen Standorten legen. Fehlallokationen würden verringert und das Potenzial des Kontinents maximiert. 

Gegen ein solches Vorgehen könnten aus deutscher Perspektive Sorge um den Verbleib von Wertschöpfung und Beschäftigung hier im Land sprechen. Wertschöpfung, die aber nur hier erhalten bleibt, weil sie subventioniert wird, hat einen zweifelhaften Mehrwert für die Volkswirtschaft. Vor allem dann, wenn dadurch verhindert wird, dass knappe Produktionsfaktoren wie Energie und Arbeit in produktiveren Bereichen der Wirtschaft eingesetzt werden. 10 Georg Zachmann und Valeria Cipollone von Bruegel zeigen beispielsweise, dass die Höhe der Energiekosten einen Einfluss darauf hat, in welchen Sektoren ein Land wettbewerbsfähig ist. Ihre Arbeit lässt den Schluss zu, dass es keine Evidenz dafür gibt, dass Energiepreise, die über dem globalen Durchschnitt liegen, langfristig die Produktivität der Exportsektoren untergraben. Sie zeigen außerdem, dass Länder mit hohen Energiepreisen dazu neigen, sich auf Sektoren zu spezialisieren, die eine höhere Beschäftigung pro Produktionswert haben als Länder mit niedrigen Energiepreisen.  Beschäftigungseffekte sind problematischer, gerade weil es sich im produzierenden Gewerbe zumeist um gut bezahlte Jobs handelt. Unseren ersten Einschätzungen nach wären die Beschäftigungseffekte in der Energie- und energieintensiven Grundstoffwirtschaft jedoch begrenzt, da sich der weit größere Anteil der  Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe in der Weiterverarbeitung von Grundstoffen und Erzeugung von Maschinen, Fahrzeugen und anderen Erzeugnissen findet. 11 Wie sich Energiekosten-Unterschiede zwischen Deutschland und dem Ausland auf Wertschöpfung und Arbeitsplätze in energieintensiven Industrien auswirken, schauen wir uns in einem laufenden Projekt genauer an.  Und genau um diese Arbeitsplätze zu erhalten – und zum Beispiel eine Abwanderung in die USA zu vermeiden – braucht es möglichst günstige Inputs. Diese lassen sich aber eher realisieren, wenn die produktiven Stärken des Kontinents ausgenutzt werden. Außerdem mutet die Diskussion manchmal fast etwas paradox an in Zeiten des Arbeitskräftemangels. Angesichts dieser Herausforderung könnte man auch zu dem Schluss kommen, dass es wichtig wäre, sorgsam mit der Ressource Arbeit umzugehen. Das bedeutet eine vorausschauende Politik zu betreiben, die sich darauf konzentriert, einen möglichst guten Übergang zu zukunftsfähigen und aus gesellschaftlicher Sicht essenziellen Wertschöpfungsketten zu gestalten, anstatt dauerhaft an Arbeitsplätzen festzuhalten, deren Fortbestand von Subventionen abhängig ist. 

Unseres aktuellen Verständnisses nach, sollte eine europäische Industriepolitik also im ureigenen deutschen Interesse sein. Idealerweise würde eine solche Industriepolitik über europäische Programme koordiniert und finanziert werden. Alternativ sollten Länder mit weniger Fiskalkraft im Kontext der industriepolitischen Offensive zusätzliche Gelder bereitgestellt werden. Zum Glück scheint die Kommission diese Gefahr bereits erkannt zu haben – von der Leyen kündigte in Davos auch einen neuen European Souvereignty Fund an, der im Rahmen der Prüfung des Mehrjährigen Finanzrahmens 2021-2027 noch dieses Jahr vorgestellt werden soll. Details oder Konkretisierung sind jedoch noch nicht bekannt. Aus unserer Sicht ist das ein vielversprechender Ansatz, auch wenn politische Mehrheiten dafür derzeit nicht wirklich in Sicht sind. Dazu – und warum gerade Deutschland mit seinen notorischen Handelsüberschüssen diesen Vorschlag befürworten sollte – bald mehr.