Finanz und Fake News
Joseph Vogl jüngstes Buch präsentiert in sechs Kapiteln (und einem Exkurs in die Literatur) eine kurze Theorie der Gegenwart, die seine Leserschaft davon überzeugen soll, dass wir es beim Thema Fake News und Fake Facts keineswegs nur mit einem Oberflächenphänomen zu tun haben, sondern mit einem veritablen Strukturwandel des Kapitalismus.
Als am 20. Januar 2021 ein Hubschrauber vom Vorgarten des Weißen Hauses abhob, um den abgewählten Präsidenten Donald J. Trump in den (vielleicht nur temporären) politischen Ruhestand zu fliegen, meinte man, ein globales Aufatmen vernehmen zu können. Für einen Moment zählte nicht, wer der Neue war und für welche politischen Überzeugungen Joseph Biden genau stand; was zählte, war, dass der Neue nicht Trump war, was zählte, war der Abflug.
Kurz zuvor fand sich der mutmaßliche Unternehmer und passionierte Golfspieler schon von seinem digitalen Zuhause verbannt – von Twitter. Die Geschichte eines Unternehmererben und TV-Show-Host, der allen Unwahrscheinlichkeiten zum Trotz plötzlich zur Prinzessin, nein, zum Oberbefehlshaber der mächtigsten Armee der Weltgemeinschaft aufstieg, wurde durch ihre öffentliche Inszenierung auf der Kurznachrichtenplattform zu einem Spektakel. @Realdonaldtrump machte Twitter zur politischen Bühne, hob die Performance als public president auf ein bis dato unbekanntes Niveau. Anstelle arkanpolitischer Hintergrundgespräche, Depeschen auf höchstoffiziellem Briefpapier oder abgenutzten Protokollen wie „erst Nachdenken, dann Sprechen“ wählte er eine ungefilterte, nicht selten in emotionalen GROßBUCHSTABEN daherkommende Direktansprache als Kommunikationsstil. Er wandte sich per Tweet sowohl freimütig an sein Volk und die Medien als auch an konkurrierende Mächte wie Verbündete covfefe.
Diese Dauerbeschallung mit Drohungen, Empörungen und Anklagen fesselte die Kommentator*innen der alten Medien, weil sich die Direktansprachen nicht mit liebgewonnenen Prozeduren der Inhaltsbewertung in Einklang bringen ließen. Für Begründungen, Argumente, Belege war in den Tweets kein Platz. Was @realdonaldtrump verkündete, war häufig sogar verfälschend und nicht selten frei erfunden – was weder er noch seine Anhänger für einen Nachteil hielten. Da der Präsident sowohl über eine enorme Reichweite (laut Wikipedia war @realdonaldtrump bei seiner Sperrung im Januar 2021 mit 88 Millionen Followern auf einem guten sechsten Platz im globalen Ranking, hinter dem Instagram-Model und Fußballspieler Christiano Ronaldo, den Musiker*innen Rihanna, Katy Perry und Justin Bieber und einem gewissen Barack Obama), als auch (anders etwa als Bieber und Rihanna) über die Codes für den Atomwaffenabschuss verfügte, avancierte seine tägliche Empörungs- und Lügenshow zum Emblem für Zeitdiagnosen: Sie (v)erklärten die Präsidentschaft Trumps zur Ära der Fake News, der alternativen Fakten, zur Epoche der Postwahrheit. Die Figur Trump lieferte die geradezu sinnbildliche Verkörperung eines öffentlichen Diskurses, der wilde Behauptungen, unbelegte Diskreditierungen und geraunte Verschwörungsmythen in Umlauf brachte. Die kreisenden Rotorblätter am 20. Januar 2021 schienen – für einen Moment wenigstens! – den Soundtrack zum Ende dieses Exzesses der Lüge zu liefern; man meinte, endlich dem Anbruch einer neuen Gegenwart beizuwohnen.
Aaron Sahr
Leben nach dem Tod des Wissens
Der Berliner Kultur- und Literaturwissenschaftler Joseph Vogl macht diesen Hoffnungen einen Strich durch die Rechnung. Er rekonstruiert die sozioökonomischen Mechanismen der strukturellen Diskreditierung des Wissens und der ihr korrespondierenden Adelung bloßen Behauptens, um sie zu nichts Geringerem als der Tektonik unserer Zeit zu erklären. Sein jüngstes Buch präsentiert in sechs Kapiteln (und einem Exkurs in die Literatur) eine kurze Theorie der Gegenwart, die seine Leserschaft davon überzeugen soll, dass wir es keineswegs nur mit einem Oberflächenphänomen ausgedachter Fakten zu tun haben, sondern mit einem veritablen Strukturwandel des Kapitalismus, zu dessen Symptomatik eine mediale Supernova wie Trump gehört, auch wenn es sich bei ihm allenfalls um ein randständiges, wiewohl nicht unwichtiges Symptom handelt.
Der diagnostische Begriff für die Rekonstruktion dieses Strukturwandels ist „Information“. Sie, genauer gesagt: „die Zirkulation von Information“ sei in der Gegenwart „zur paradigmatischen Form kapitalistischer Ökonomie geworden“ (S. 157). Mit dieser Behauptung ist freilich noch kein Blumentopf gewonnen, sind Diagnosen eines kognitiven, wissensbasierten, digitalen oder – geradeheraus – Informations- oder Überwachungskapitalismus doch seit Jahren en vogue, die allesamt – irgendwie – die (mutmaßliche) Dominanz von Informationen feststellen. Vogl bezeichnet mit Information jedoch weder bloße Daten noch Wissen. Vielmehr ist zwischen Wissen und Information trennscharf zu differenzieren: Informationen sind für ihn Tatsachenbehauptungen (propositionale Sinngehalte wie ‚ich bin amerikanischer Präsident‘, ‚das Buch Kapital und Ressentiment wurde von Joseph Vogl verfasst‘ oder ‚Merkel hat einen Rechtsbruch begangen, als sie die Grenzen öffnete‘), die als solche – aber auch nicht in beliebiger Aggregation – kein Wissen vermitteln. Epistemische Autorität kommt ihnen erst durch Prüfung und Lizensierung zu. Tatsachenbehauptungen unterliegen nämlich normalerweise dort, wo sie kommuniziert werden, also in soziale Interaktionen eingreifen, einem Rechtfertigungsdruck. Gelingt es, die Behauptung eines Sachverhalts durch Verweise auf Beobachtungen, argumentative Herleitungen oder sonstige gesellschaftliche Zertifizierungsprozesse so zu belegen, dass sie als wahr gilt, das heißt der behauptete Sachverhalt als Tatsache akzeptiert wird, entsteht Wissen. Wissen ist „dem ungewissen Ausgang von Prüfungsverfahren verpflichtet“, während Informationen für Vogl dementsprechend „Wissen minus Nachweis und Rechtfertigung“ (S. 59) übermitteln.
Spricht Vogl über die Zirkulation von Informationen als paradigmatischen (Verwertungs-)Form kapitalistischer Ökonomie, so deshalb, weil ihn die Entkopplung von Information und Rechtfertigungs- respektive Begründungsansprüchen interessiert. Wie kann etwas Interaktion steuern, das sich gegen die Verfahren immunisiert, die gewöhnlich dessen soziale Geltung überprüfen. Diese Entkopplung führt er auf einen Strukturwandel zurück, bei dem die Leitbranchen eines postindustriellen Kapitalismus – die Finanzwirtschaft und die Digitalökonomie – ihre Wert(ab)schöpfungsprozesse auf rekursive Feedback-Loops reiner Informationen aufgebaut haben. Was sich damit ereignet, ist Vogl zufolge kein rein ökonomischer, sondern auch ein gesellschaftstheoretisch und politisch höchst relevanter Vorgang; denn mit diesem Wandel ist der Aufstieg des Ordnungsregimes Markt zu einer „gegenüber anderen Instanzen und Institutionen der Wissensproduktion“ privilegierten „universale[n] Bewertungsagentur“ verknüpft (S. 119). Heißt: Die Generierung von Wissen durch aufwendige Prüfungen zirkulierender Informationen wird durch die Marktkonkurrenz ungeprüfter Tatsachenbehauptungen ersetzt. Solche „Meinungsmärkte“ konnten kraft der Wucht der Digitalisierung auch die öffentliche Sphäre erobern, gefährden damit allerdings den politischen Zusammenhalt heterogen zusammengesetzter Gesellschaften, weil sie die Bildung von Ressentiments befördern. Vogls Analyse baut also eine Brücke zwischen Kapital (Wertschöpfung in der Finanz- und Digitalindustrie) und Ressentiment (Gefährdung der Demokratie), indem sie auf Genealogien eines medialen Unterbaus verweist, durch den nun sowohl Kapitalakkumulation als auch öffentliche Kommunikation als Zirkulation reiner Informationen auf Meinungsmärkten funktioniert.
Meinungsmärkte
Dass sich Joseph Vogl mit Finanzmärkten auskennt, ist zum Beispiel eine leicht begründbare, inner- und außerakademisch bereits kritisch geprüfte und damit gut etablierte Information; man weiß das also. Vogl hat 2010 mit Das Gespenst des Kapitals ein vielzitiertes Werk über den Aufstieg der Finanzbranche zum Leitstern kapitalistischer Wertschöpfung vor- und 2015 mit Souveränitätseffekte eine Studie der Ko-Konstitution von finanzieller und politischer Macht im Zuge der Entstehung und Entwicklung moderner Staatlichkeit nachgelegt. Zuvor hatte er sich, nicht zuletzt unter historischer Perspektive, in einer Poetik des ökonomischen Menschen mit der kulturellen Konstruktion ökonomischer Agenten auseinandergesetzt, also bereits mit der Frage, welchen Spezifizierungen sich das Wissen verdankt, von dem in der Wissenschaft der Ökonomie die Rede ist. 1 Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Zürich/Berlin 2010; ders., Der Souveränitätseffekt, Zürich/Berlin 2015; ders., Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002.
Im ersten Teil seines jüngsten Buches stellt uns der Autor (wie in Gespenst und Souveränitätseffekte) den Aufstieg der Finanzwirtschaft zur Leitbranche des Gegenwartskapitalismus seit den 1970er-Jahren – die Finanzialisierung – als sozioökonomischen Strukturwandel vor. Die Finanzialisierung der Ökonomie mit ihren eindeutigen Effekten (Ungleichheit, Instabilität, Wachstumsverlust) ist dabei, so Vogl, nicht auf eine Vermarktlichung (Deregulierung) der Finanzbranche zurückzuführen, sondern auf die Etablierung einer „finanzökonomischen global governance“ (S. 21), die abseits demokratischer Hoheit der Gewinnsteigerung weniger Kapitaleigentümer dient. Ein Stützpfeiler dieser Ordnung sind die (demokratie-)unabhängigen Zentralbanken. Sie sichern als „Regierungsenklaven“ (S. 15), die aufgrund ihrer besonderen Verfassung gegen demokratische Störfeuer abgesichert sind, die Finanzmarktoperationen und deren Ergebnisse ab. Für Vogl bildet dieses Finanzregime eine „Machtform eigener Sorte“ (S. 22).
Ebenediese eigentümliche Sorte von Macht hat nun auch ‚das nächste große Ding‘ hervorgebracht, das heißt digitale Plattformen wie Facebook, Twitter, Google, Amazon und Co. Mit dieser These rekapituliert Vogl vor allem die inzwischen einschlägigen Arbeiten des Berliner Soziologen Philipp Staab. In seiner 2019 erschienenen Studie hatte Staab die These einer Kontinuität zwischen finanzialisiertem und digitalem Kapitalismus zugespitzt, um die Digitalökonomie als „Finanzkapitalismus Online“ zu charakterisieren. 2 Philipp Staab, Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit, Berlin 2019, S. 74. Die Digitalbranche sei, so Staabs Punkt, nicht nur durch das sprudelnde Finanzkapital groß geworden, umgekehrt habe sich dieses Kapital erst dank der Netzwerktechnologien wirklich entfalten können. Insbesondere operieren beide Branchen aber mit dem gleichen Geschäftsmodell, nämlich der – nun wieder Vogl – Kapitalisierung von Informationen durch Marktmechanismen.
Vogl erinnert daran, dass auf den Finanzmärkten Wetten auf die Wetten anderer abgeschlossen werden. Das Faktum einer solchen, geradezu strukturell verankerten Disposition zur Selbstbezüglichkeit gehört spätestens seit Keynes’ Vergleich der Finanzen mit einem Schönheitswettbewerb zum ökonomischen und finanzsoziologischen Grundwissen (S. 54). Indem Vogl auf zentrale Passagen aus Gespenst des Kapitalszurückgreift, macht er seine Leserschaft mit den Ergebnissen der jüngeren performanztheoretischen Finanzsoziologie bekannt; diese Forschungen haben gezeigt, wie der Aufstieg der Finanzbranche seit den späten 1970er-Jahren nicht zuletzt dadurch befördert wurde, dass sich einheitliche Formeln zur Prognose von Preisentwicklungen für Derivate etablieren konnten, die dann, gerade weil sie überall Einsatz fanden, zur Entstehung genau jener Kursentwicklungen beigetragen haben, die sie selbst prognostizierten. Investitionsentscheidungen werden so nicht im Hinblick auf vielfältige, abgewogene und systematisch evaluierte Informationen über die Unternehmen oder Wertpapiere getroffen, sondern aufgrund von Prognosen künftiger Preisentwicklung für die Klasse von Investitionen, denen sie zugeordnet werden. Damit entstand ein durch Geschäftspraktiken und institutionelle wie organisatorische Arrangements eingefädelter Feedback-Loop für Informationen. Finanzmärkte verwandeln sich im Resultat zu, mit Vogls Terminologie gesprochen, „Meinungsmärkte[n]“ (S. 56).
Die Form der durch Informationszirkulation vitalisierten Meinungsmärkte kopiert die digitalen Plattformunternehmen. Auch ihr Geschäftsmodell ist die Produktion, Distribution und Verwertung reiner Informationen: Die Kommunikationsplattformen wollen von ihren Nutzer*innen werberelevante Daten, die aggregiert werden und in der Aufarbeitung zu sogenannter Big Data Korrelationen beobachtbar machen. Die sind ihrerseits attraktiv für Werbekundschaft, können also verkauft werden. Auch dieses Geschäftsmodell, das ohne die Auswertung von Big Data undenkbar wäre, legt nach Vogls Urteil die Axt an den Baum des Wissens. Die bloße, in der Regel automatisierte Korrelation von Datenpunkten ist zweifelsohne eine offenbar rentable Bewirtschaftung reiner Informationen, doch fußt sie auf dem Verzicht elaborierter Begründungsverfahren (S. 136) – produziert werden „schlicht Evidenzen, die den Titel von ‚Tatsachen‘ beanspruchen wollen“ (S. 137). Um ihre Zielsetzung zu erreichen, versorgen die Plattformen ihre User mit gefälligen Neuigkeiten, die sie zum Verbleib im Netzwerk und zur Preisgabe weiterer Datenpunkte motivieren. Im news feed von Facebook würden unter dem Vorwand von Neutralität Informationen angeboten, die weder auf Seriosität noch auf Wahrhaftigkeit geprüft seien, sondern Selektionskriterien wie Neuheit und Passung für die jeweiligen Interessenprofile der User gehorchen. Folglich kommt es in der algorithmisch formatierten Öffentlichkeit zur ständigen Wiedervorlage der bereits eingespielten Informationsmuster, die sich gleichsam durch ihren Markterfolg, nämlich die Nachfrage der Plattformnutzer, selbst zu validieren scheinen. 3 Das Geschäftsmodell der digitalen Plattformunternehmen beruht aber nicht nur auf einer Kommodifizierung von Informationen, sondern, so Vogl, analog zur Hochfinanz auch auf „einer Aneignung von Infrastrukturen“ und „der Kapitalisierung von Regierungstechnologien und Kontrollmechanismen“ (S. 117). Die gemeinhin als Konkurrenten gesehenen Sphären der Herrschaft des Privateigentums (dominium) und der Herrschaft des Staates (imperium) fallen dabei ineinander; die Plattformen erscheinen dem Autor so, freilich äußerst zugespitzt, als „para-staatliche“ private Autoritäten – eine „Art Staatswerdung von Informationsmaschinen“ (ebd.).
Das Ganze zieht Konsequenzen für die Demokratie nach sich, die schließlich für ihre politischen Willensbildungsprozesse der Öffentlichkeit bedarf, das heißt einer kommunikativen Arena, in der Relevanzen geordnet, kollektive Erfahrungen verarbeitet und Problemlösungen verhandelt werden können, kurz: Selbstthematisierung von Gesellschaft stattfindet. Diese öffentliche Sphäre ist in die Plattformen Facebook und Co abgewandert, 4 So würden, wie Vogl etwas vage festhält, „eine Mehrheit von Leuten weltweit zumindest zeitweise Nachrichten“ über den news feed auf Facebook beziehen (S. 129). (S. 141) womit sie zu einem Projekt wird, das gegenwärtig unternehmerisch betrieben wird. Dadurch findet sich Öffentlichkeit jenen Geschäftsmodellen ausgesetzt, die Vogl als die „Kapitalisierung freier Meinungsäußerung“ (S. 141) kennzeichnet. Und weil mediale Wahrnehmung und Kommunikation für das animal symbolicum immer Weltkonstruktion bedeutet, wurden „die Bewertungslogik von Finanz- und Informationsmärkten“ so zu „einem Paradigma allgemeiner Weltdarstellung“ (S. 142).
Dabei sichern sich die Plattformen durch das Rechtskonstrukt eines „Internet-Exzeptionalismus“ (S. 123, S. 141) ab. Es gestattet ihnen die Schutzbehauptung, soziale Medien wie Facebook seien lediglich Orte des freien Austauschs von Informationen, also keineswegs Verlage oder Publikationsorgane, sondern neutrale Marktplätze, obwohl die dort stattfindende Selektion von Themen und Relevanzen unübersehbar ist. Von Neutralität kann keine Rede sein. Geschützt durch die Presse- und Meinungsfreiheit in ihrem Heimatland USA konnten sich die Plattformen als neutrale Informationsintermediäre erfolgreich in Szene setzen. Abgewehrt wurde die Erwartung, sie müssten für die auf den Plattformen vertriebenen Inhalt eine verlegerische Haftung übernehmen. Tatsächlich hat die außerordentliche informationelle Selektionsmacht der Kommunikationsplattformen sie rasch zu genuin öffentlichen (und damit politischen) Arenen werden lassen, deren Status als rein private Unternehmungen in den Hintergrund getreten ist (S. 123). Zudem haben selbst vereinbarte Kontrollen – wie etwa das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz –das dominium privater Eigentumsrechte nicht angetastet. Vielmehr übertragen die „Verknüpfungen zwischen Eigentumsrechten und Redefreiheit“ (S. 120) vormalige Aufgaben des imperiums, also etwa eine gemeinschaftliche Regelsetzung und -überwachung, an die Plattformen, womit sie ihrerseits darüber befinden können, welche Inhalte ihrer Nutzer*innen regelkonform sind und welche nicht (S. 125) – eine zu Prozessen in der Hochfinanz parallele Übernahme von Regierungstechniken, wie Vogl findet.
Die digitalisierte Öffentlichkeit ist – diesen Vorwurf müssen sich die sozialen Medien nicht erst seit Vogl gefallen lassen – durch Feedback-Loops von Informationen stark in sich fragmentiert. Solche ‚Blasen‘ oder ‚Echokammern‘ verstärken Ressentiments. An dieser Beobachtung verdeutlicht Vogl die „politischen Implikationen der Netzwerktechnologien“ (S. 174) und zeigt, wie sie sich des Schutzes der freien Rede bedienen, um ihre gesellschaftliche Bedeutung zu kaschieren. Ressentiment geladene Subjekte bilden ihre Identität in Abgrenzung zu anderen, kultivieren ihre Ohnmacht, verstetigen ihre Bereitschaft, sich gekränkt zu fühlen und pflegen einen Konkretismus, der das Unmittelbare schätzt und die Ursachen des eigenen Unbehagens (konkreten) Schuldigen und nicht (abstrakten) Verhältnissen zuschreibt (S. 161 f.). Dadurch wird differenzierte Kritik an den Verhältnissen blockiert und der Hass auf ‚die da Oben‘ und ‚die da drüben‘ animiert. Weil es komplexe Kausalitäten geringschätzt, sich auf Ungleichheiten einschießt, für die stets andere haftbar gemacht werden, muss das Ressentiment Vogl zufolge als „stabilisierende[r] und strukturelle[r] Basisaffekt des Kapitalismus“ (S. 171) identifiziert werden – es ist der Affekt, der notorisch für funktionale Ablenkung sorgt (S. 166, S. 168).
Das titelgebende Ressentiment ist bei Vogl freilich weniger ein „Seelenzustand“ denn vielmehr eine „Kommunikationsweise“ (S. 162), die durch die Plattformöffentlichkeiten und deren marktförmige Bewertung von Meinungen ebenso initiiert wie unterstützt wird. Schließlich ist das Ressentiment geradezu besessen von Praktiken des Vergleichens, der Viktimisierung und Selbstviktimisierung, nicht zuletzt der Schuldzuweisung an andere. Die Echokammern und Feedback-Loops digitaler Öffentlichkeit katalysieren solche Vergleichsbewertungen und die schnelle Identifikation von Opfern wie Schuldigen. Außerdem verspricht die Internetkommunikation exakt jene politische ‚Unmittelbarkeit‘, Direktheit, Adressierbarkeit, für die sich das Ressentiment begeistert. Dieses Arrangement zwischen einem Modus des Kommunizierens und seiner medientechnologischen Unterfütterung bringt Vogl auf den Begriff des „strukturellen Populismus“ (S. 174). Offenbar ergänzen sich gewisse „Kommunikationsstrategien“ und deren organisatorische Basis – die Plattformen – derart effektiv, dass es zu einer Verstetigung sich wechselseitig bestätigender Meinungscluster („partikularen Kollektiven“) kommt, 5 Soziologiekundige Leser*innen werden sich an Befunde des Leibniz-Preisträgers Andreas Reckwitz erinnern. die gleichzeitig ihre Polarisierung anheizen (S. 176). So formieren sich, siehe die Tweets von @realdonaldtrump, mediale Biotope, in denen sich die populistische Fiktion einer Unmittelbarkeit des souveränen „Volkswillen“ mit geradezu unheimlicher Attraktivität aufladen kann. Wie unbedeutend, mühsamen und beklagenswert langsam nehmen sich dagegen alle Prozeduren demokratischer Willensbildung in heterogenen und komplexen Gesellschaften aus? 6 „Plattformen und soziale Medien versprechen nicht weniger als eine Immediatisierung politischer Partizipationen und Aktionen.“ (S. 176)
Dort, wo sich das intensive Verlangen nach einer solchen Direktheit und Unmittelbarkeit notorisch frustriert findet, etwa weil ein Joseph Biden trotz des Sturms auf das Capitol und zigfacher Tweeterei über Wahlbetrug und die Machenschaften dunkler Mächte dennoch als 46. Präsident inauguriert wird, wächst die Kluft zwischen Erwartung und Erfahrung, in der das Ressentiment gedeiht. Insofern bilden die Echokammern und Meinungsblasen, wie sie sich in und dank der Plattformkommunikation formieren können, „Strukturelemente zur Förderung von Ressentimentbereitschaft“ (S. 172), das heißt eines affektiven Potenzials, das nach der Einschätzung von Vogl insbesondere von rechts zu mobilisieren ist (S. 171 f).
Notwendige Defragmentierung
Das Buch beeindruckt vor allem durch seinen Horizont. Es ist Kapital und Ressentiment hoch anzurechnen, dass es die Themen der Finanzialisierung, des digitalen Kapitalismus und der – verkürzt gesagt – politischen Dimension der Fake News verbindet. Damit ist es auch als eine ungemein wichtige Kritik sozialwissenschaftlicher Binnendifferenzierungen zu lesen, die sich – ganz wie die Kommunikationsblasen in den Sozialen Medien – in kleinere Expert*innenzirkel aufspalten, sodass am Ende Finanzforscherinnen über Finanzen, Digitalisierungsforscher über Digitalisierung und Politikwissenschaftlerinnen über Willensbildungsprozesse sprechen, jeweils unter sich. Dadurch verstellt sich die Soziologie leider allzu häufig den Blick auf das Ganze, obwohl gerade Soziolog*innen wissen (müssten), dass alles mit allem zusammenhängt. Offenbar braucht es gelegentlich einen Anstoß von außen, in diesem Fall der Kultur- und Literaturwissenschaft, damit Strukturmomente kapitalistischer Gesellschaften wieder in ihrem Zusammenspiel, das heißt ihrer Totalität erfasst werden. Allein dank dieses Impulses ist die Lektüre des Buches bereits ein Gewinn.
Der von Joseph Vogl gewählte Zugriff vermeidet zudem, wie der Autor selbst betont, die Kurzsichtigkeit rein kommunikationsfunktionalistischer Analysen von Digitalisierungsprozessen (S. 179). Er stellt – ebenso gewagt wie anregend – ganz auf die Performanz bestimmter Kapitalverwertungsstrukturen ab, das heißt auf ihre welterzeugende Kraft und Wirkung. Gerade unter dieser Hinsicht werden Familienähnlichkeiten zwischen finanziellen und digitalen Wertschöpfungsprozesse in hoher Eindringlichkeit sichtbar. Damit bezieht Vogl auch gegen kulturtheoretische wie -soziologische Stilisierungen Position, die in der zunehmender Partikularisierung sozialer und politischer Kommunikation den Zeitgeist einer Epoche durchgreifender Singularisierung ausmachen. Indem seine Analyse solche Modalitäten von Kommunikation und Selbstdarstellung als Effekte bestimmter Wertschöpfungs- und Kapitalbildungsprojekte dechiffriert, erinnert Vogl mit guten Gründen daran, dass die Entkernung von Wissen zur bloßen Information und die Erzeugung sozial polarisierender Feedback-Loops materiellen Interessen folgt, dass mit ihr, anders gesagt, Geld verdient und ein finanzkapitalistisches Regime geformt wird (S. 180). Vogl präsentiert eine materialistische Kulturwissenschaft, die, unübersehbar an der rezipierten und verarbeiteten Literatur, mit der Wirtschaftssoziologie und politischen Ökonomie im Gespräch ist – von diesen Disziplinen, wollen sie state of the art bleiben, also auch gehört werden sollte.
Kapital und Ressentiment interveniert damit auch in eine öffentliche Debatte, die sich ökonomische Machtfragen als Rangelei zwischen dem Herrschaftsbereich des Privateigentums (dominium) und dem Herrschaftsbereich gesellschaftlicher Ansprüche auf dieses Privateigentum und dessen Renditen (imperium) vorstellt. Dadurch erscheinen wirtschaftliche Entscheidungsbefugnisse und Vorteilsnahmen als ein Nullsummenspiel, bei dem die Zügel des Kapitalismus – je nach historischer Stimmungslage – entweder stärker von der einen (privaten) oder der anderen (öffentlichen) Hand gehalten und geführt werden. Tatsächlich aber, so kann man bei Vogl lernen, lassen sich kapitalistische Machtfragen nicht auf einer Geraden zwischen distinkten Sphären verorten. Indem Finanzunternehmen die für ökonomische Prozesse notwendige Handlungsgrundlage schaffen, indem sie schlicht Geld – Finanzierung – zur Verfügung stellen, haben sie sich immer schon in einer systemischen Sonderrolle befunden, waren Anbieter einer Infrastruktur, ohne die nichts geht – und nicht einfach nur ein Teil des wirtschaftlichen dominium. In einer globalisierten und finanzialisierten Welt bedeuteten wachsender Selbstgestaltungsraum für die Finanz dementsprechend auch die Fähigkeit der Mitgestaltung des imperium, nicht nur Freiheit ‚der Märkte‘, also privater Entscheidungen über den Einsatz von privatem Eigentum. Ebenso ist die durch Vermischung mit imperialen Befugnissen gesteigerte ‚Freiheit‘ der Digitalplattformen eben keineswegs sinnvoll als bloßer Schutz des dominium zu verstehen, sondern dadurch, dass sie die kommunikativen Infrastrukturen gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und Selbstvergewisserung bereitstellen, eben immer auch als Gestaltung des imperium. Machtfragen von Wirtschaft und Gesellschaft lassen sich nicht zwei konkurrierenden Feldern zuordnen, vielmehr distinguieren sich dominium und imperium allenfalls in historischen Momenten, in Vogls Sprache: als Effekte; der pointierte Hinweis darauf, inwiefern Gemeinwesen der Gegenwart durch die Freiheit des Kapitals, seine Akkumulationsweisen selbst zu gestalten, eben stets mitgestaltet werden, ist deswegen für eine Theorie der Gegenwart in der Tat entscheidend.
Rückfragen
Gerade weil Vogls Buch einen way to go vorzeichnet, indem es den vorbehaltlos richtigen Anspruch umsetzt, die kausalen Interaktionen zwischen verschiedenen Feldern mit je eigener Komplexität zu erfassen, um Machtverhältnisse der Gegenwart zu beleuchten, sollten wir bei der Lizensierung von Vogls informativer Geschichte als Wissen besonders sorgfältig sein. Ich will hier ganz idiosynkratisch zwei Anmerkungen machen, die allesamt Versuche darstellen, die verbleibenden Fragezeichen im Kopf des inspirierten Lesers wenig eloquent zu artikulieren.
Die erste Anmerkung mag unnötig nörgelig wirken, ist aber ob meines Leseeindrucks notwendig. Das Buch glänzt zweifelsfrei durch die literarischen Fertigkeiten eines Autors, der pointiert formuliert, über große synthetisierende Kraft verfügt, sich allerdings gelegentlich in Formulierungsschleifen zu verlieren scheint. So wird bei einer Darstellung auf eindrucksvoll schmaler Grundfläche, der Umfang liegt unter 200 Druckseiten, die Frage gestattet sein, ob solche Ausflüge nicht vermeidbar gewesen wären. Beispielsweise ruft Vogl kenntnisreich die völlig richtige, freilich geläufige Beobachtung in Erinnerung, dass sich Kommunikationsnetzwerke wie Facebook und Co. als neutrale Arenen freien Informationsaustausches vorstellen, obwohl sie natürlich alles andere als neutral sind, nämlich die Verbreitung von Informationen ausschließlich in unternehmerischem Interesse selektieren (S. 117–131). Dieser Befund liefert dem Autor einen Anlass, um die „ontologische Verwurzelung“ des Kapitalismus zu thematisieren, der sich anschicke, „die Struktur elementarer Seinsbeziehungen zu prägen“ (S. 132). Was damit gemeint sein soll, hat sich dem Rezensenten leider nicht erschlossen – und mithin auch der mutmaßlich sachdienliche Hinweis nicht, „Martin Heideggers anhaltende Klage“ habe bereits „mit dem ‚Sieg‘ von Informationsbegriffen in der Kybernetik auch die Herrschaft eines vorgreifenden Weltentwurfs, eine Einweisung in die ‚Einförmigkeit‘, die Neutralisierung und Nivellierung des Ereignisses sowie eine jüngste, rechnende Erfassung der Welt als Bild identifiziert“ (S. 132 f.). Das Zitat exemplifiziert eine ganze Reihe zweifelsohne geistreicher Schleifen, angesichts derer ein überforderter Rezensent allerdings schlicht nicht mehr zu entscheiden wusste, ob er vertiefende Exkurse oder zuspitzende Pointierungen liest, einfach weil es an Einordnungshilfen mangelt. 7 Dieser Heidegger-Fingerzeig führt etwa zu dem Befund einer nunmehr auf Informationen fußenden kapitalistischen Wertschöpfung, für die „die Darstellung von Informationen ununterscheidbar von deren Bewirtschaftung geworden ist“ (S. 133). Das fühlt sich irgendwie richtig an, wäre aber nur dann wirklich einzuordnen, wenn klar werden würde, wie eine Bewirtschaftung von Informationen aussähe, die von ihrer Darstellung klar zu unterscheiden wäre. Und: warum wäre das wichtig, was wäre anders (oder sogar gewonnen), wenn die Darstellung von der Bewirtschaftung geschieden wäre? Solche Ausflüge warten auch mit Um- und Neuformulierungen auf, bei denen nicht immer einsichtig ist, ob es sich um Repetitionen in didaktischer Absicht, Nuancierungen oder tatsächlich um neue Thesen handelt. Mitunter entsteht der Eindruck, der Autor misstraue seinen eigenen Hypothesen und Begriffsprägungen, weshalb er auf sie zurückkommt, um sie ein weiteres Mal zu traktieren. Schwierig ist im Kontext solcher Retraktationen manchmal, Vogls eigene Thesen von bloß referierten Positionen zu unterscheiden. Fast beiläufig wird etwa auf die starke Behauptung verwiesen, im „postindustriellen Kapitalismus“ hätten einige Programmiersprachen den Status von Universalsprachen eingenommen, womit sie „die Ordnung der Dinge“ bestimmten (ebd.). Würde Vogl diese These nur referieren, so verstehe ich nicht, was ihn dazu veranlasst; würde er ihr beipflichten, müsste sie einem unkundigen Soziologen wie dem, der diese Besprechung aufsetzt, erläutert werden. Was allein soll die These besagen, Programmiersprachen bestimmten die „Ordnung der Dinge“? Dieser Ansicht offenbar verwandt formuliert ein anderer, rekapitulierender Passus „im Zeichen des gegenwärtigen Informationskapitalismus“ würden „Seins- und Weltverhältnisse aus der Perspektive ihrer Bewirtschaftung kodiert und dargestellt“ (S. 157) – inwiefern genau, vor allem aber: für wen existieren und was sind denn „Seinsverhältnisse“ überhaupt (oder ein „Realitätskontinuum“ (S. 135)?) Ein mit dem Forschungsstand zur Performativität ökonomischer Ideen oder der Herausbildung digitaler Ökosysteme bereits vertraute Leser würde sich wünschen, deren Darstellung wäre an der ein oder anderen Stelle gerafft worden, um den Querverweise in philosophische und kulturtheoretische Anmerkungen etwas mehr Entfaltungsraum zu sichern – zumal Vogls bisherige Arbeiten den Verdacht nähren, dass diese Punkte allesamt erhellend und einleuchtend sein könnten, würde der Autor seine Leser*in klug genug machen, sie in Gänze zu verstehen.
Zweitens würde ich gerne etwas länger darüber nachdenken, ob sich die richtigen und wichtigen Einsichten über die kapitalistischen Machtverhältnisse der Gegenwart jenseits allzu plumper Unterscheidungen von öffentlicher und privater Sphäre wirklich überzeugend auf die systematische Diskreditierung von Wissen durch Finanz- und Digitalökonomie zurückführen lassen. Vogls These, so wie ich sie verstehe, lautet, dass auf Finanz- wie Digitalmärkten, aber auch in Arenen öffentlichen Willensbildung nicht zufällig „das Meinungshafte, die Zirkulation von Standpunkten und Ansichten, […] zum Maßstab aller Äußerungen auf den proprietären Informationsmärkten geworden“ sei. Gerade „diese Befreiung von Haftungs- und Begründungsregeln aller Art“ [sic!] habe ein „neues und ungezwungenes Verhältnis zu Fakten oder Tatsachen hergestellt“ (S. 178). Soziologisch läge es unter Umständen näher, diese scheinbare Entsagung von „Haftung- und Begründungsregeln aller Art“ als Konkurrenz von Wissensordnungen zu deuten.
Das grassierende Misstrauen gegenüber Informationen vormals hegemonialer Leitmedien und wissenschaftlicher oder politischer Autoritäten, wie es sich etwa in den Reihen der sogenannten Querdenker und Telegram-Kultisten manifestiert, mag uns als generelle Zurückweisung von Prüfverfahren, das heißt als eine Diskreditierung von Wissen zugunsten frei flottierender digitaler Information erscheinen; soziologisch müsste es, stellt man die eigene Sprecher*innenposition in Rechnung, aber eher als Infragestellung bestimmterzugunsten alternativer Prüf- und Lizensierungsverfahren gelesen werden.
Wer die epistemischen Ideale der Aufklärung hochhalten möchte, dem steht selbstverständlich frei, normativ zwischen ‚gutem‘, das heißt durch wissenschaftliche oder journalistische Prüfung ausgezeichnetem, Wissen und ‚schlechten‘, etwa durch die eigenen kommunikativen Echokammern abseits bildungsbürgerlicher Zertifizierungsstellen erworbenen, Informationen zu unterscheiden. Allerdings führt Vogls eigener Wissensbegriff genau genommen gar keinen privilegierten Bezug zur Realität mit; er sagt schließlich, Wissen seien Informationen, die ein Prüfverfahren durchlaufen haben. Aber auch der Telegram-Kultist, der sich bei YouTube darüber informiert, dass die Abwahl Donald Trumps auf einem Wahlbetrug beruht, würde seine Information ja gerade deshalb für verifiziert und lizensiert – also: für Wissen – halten, das er den systemtreuen ‚Schlafschafen‘ voraushat. 8 Nun mag es sicher richtig sein, dass das Geschäftsmodell der Plattform eher den Austausch solcher Meinungen als die Prozessierung etablierter, szientistischer Lizensierungsverfahren begünstigt; aber das macht die Telegram-Chatgruppe eben nur zu einer anderen Wissensordnung, die sich in diesem medialen Milieu entfalten kann. Genauso ist die Identifikation von Mustern innerhalb großer Datenbestände selbst dann, wenn sie den Plattformunternehmen ausschließlich zur Akquise neuer Werbekunden, also zur Verbesserung ihrer Renditen dient, ein Typ von Informationsbeschaffung, der selbstverständlich Lizenzierungsprozesse durchläuft. Warum soll die algorithmische Auswertung nicht die Lizensierung von Informationen zu Wissen bewerkstelligen, jedenfalls für den Kontext der Befriedigung von Werbe- und Profitinteressen? Die Vogl’schen Kriterien der Rechtfertigung durch Prüfverfahren können schließlich nur in Bezug auf bestimmte Kontexte funktionieren, in denen die Prüfverfahren anerkannt sind.
Auch der Umstand, dass die auf den Finanzmärkten „zirkulierenden Informationen“ nur noch selbstreferenziell „begründbar sind“, bedeutet für Vogl, dass sie keinen Anspruch mehr auf „gerechtfertigte[s] Wissen“ über den „‚realen‘, ‚wahren‘ oder ‚fundamentalen‘ Wert der Dinge“ erheben können. Es sind allenfalls Meinungen, die Meinungen „spiegeln“ (S. 53). Demgegenüber wäre doch festzuhalten, dass ein Preis, der zunächst aufgrund einer algorithmischen Formel projiziert und dann tatsächlich durch die Marktentwicklung eingeholt wurde, einer Information entstammt, die unter der gegeben Definition beanspruchen darf, Wissen gewesen zu sein. Gerade der Erfolg dieser Verfahren kann als ein Prüfprozess verstanden werden. Dementgegen zu beanspruchen, durch sorgsame Prüfung einen ‚realen‘ oder ‚fundamentalen‘ Wert einer finanziellen Investitionen ‚entdeckt‘ zu haben, wäre nur die Einleitung eines anderen, wohlgemerkt ziemlich seltsamen Lizensierungsverfahrens für ‚bloße‘ Informationen. Der Umstand, dass auf Finanzmärkten keine, den Standards der griechischen Philosophie genügenden Erkenntnisurteile (mehr) praktiziert werden (vgl. S. 54–58), kann nicht überzeugend als Verlust eines epistemologischen Zugangs zur Welt (zugunsten eines doxologischen) markiert werden, weil prinzipiell keine ‚Erkenntnis‘ von Finanzwerten möglich ist; sie beziehen sich schließlich auf die Zukunft. Ob sie nun auf dem Abwägen von Fundamentaldaten beruhen oder nicht, ist erkenntnistheoretisch einerlei, stellt man den praktischen Kontext in Rechnung, in dem das ‚Urteil‘ gefällt wird. 9 Der Wert der Vogl’schen Analyse ist der Nachweis der Performativität des ubiquitären Einsatzes der Preisformeln – aber nicht notwendig der Nachweis einer Diskreditierung von Wissen zugunsten ‚bloßer‘ Informationen.
Obwohl es sicherlich in mancher Hinsicht einleuchtet, Finanzmärkte, digitale Plattformen und deren Dasein als öffentliche Arenen so zu beschreiben, dass sie allesamt als Produktions- und Verarbeitungsanstalten für Informationen erscheinen, so hat man es doch mit ganz unterschiedlichen Praktiken zu tun, bei denen Information, Rechtfertigung und Wissen je anderes bedeutet. Dass die Feedback-Schleifen der Finanzindustrie – die durch den Einsatz derselben Bepreisungsformeln eine Erwartungswelt erzeugt haben, die auf den Märkten dann auch eingeholt werden musste – sowohl die Finanzialisierung als anschließend auch die Finanzkrise von 2008 kausal bedingt haben, ist empirisch gut abgesichert. Ob die Tatsache, dass der Google-Algorithmus diejenigen Informationen (Websites) begünstigt, die am Markt erfolgreich (heißt: am häufigsten verlinkt sind), zum selben Phänomenkomplex gehört (S. 127 f.), ist eine interessante Frage, von sich aus aber kein zwingender Befund. Sie müssten freilich gewissermaßen verwandt sein, um die Genealogie der Geschäftsmodelle zu rechtfertigen, die Vogl von Staab übernimmt und medientheoretisch ausbaut. Auch den Sprung von hier, das heißt dem Geschäftsmodell der Digitalnetzwerke, zur Rekursivität öffentlicher Kommunikation muss man nicht unbedingt mitvollziehen. Sicherlich ist der news feed bei Facebook- nicht neutral und informationsmarktförmig aufgebaut, doch tangiert dieser Umstand die Entscheidung nicht, woher ich meine Informationen beziehe und welchem Input ein User im Netz folgt, heißt: wie das Zirkulieren von Informationen bei Facebook tatsächlich mit politischer Praxis verkoppelt ist.
Ordnet man die bei Vogl thematisierten Phänomene als konkurrierende Wissensordnungen ein, erweisen sich die praktischen Kontexte, in denen Informationen und Wissen jeweils zirkulieren respektive diskreditiert werden sollen, mit einem Mal doch als arg unterschiedlich. Selbstverständlich lässt sich gegen jeden Vergleich ins Feld führen, dass er sich fragwürdigen Abstraktionen oder Generalisierungen verdankt. Häufig führen diese Bedenken zu ziemlich fruchtlosen Einwänden. Allerdings nagt die Belichtung der sichtbaren Unterschiede auch hier an der Überzeugungskraft des Arguments. Während es bei einer Facebook-Diskussion über die Frage, ob Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl 2020 betrogen wurde, einen Bezug zu Tatsachen gibt, der durch Prüfverfahren ermittelt werden kann, ist das beim Verkauf von Werbeplätzen oder Finanzwerten schlicht nicht der Fall. Wäre epistemologisches Urteilen, also die geregelte Überprüfung behaupteter Sachverhalte, gar nicht überall möglich, kann sie auch nicht überall und auf ähnliche Weise diskreditiert werden. Dass wir es in den genannten Fällen jeweils mit derselben Bewegung zu tun haben, das heißt mit einer Entmachtung von Wissen zugunsten der selbstreferenziellen Zirkulation von Informationen, könnte deshalb eher eine suggestive Metapher als eine präzise Wahrnehmung sein.
Fazit
Mein Gesprächsbedarf wäre missverstanden, wollte man aus ihm einen Einwand gegen den Versuch herauslesen, Gegenwartsphänomene im Hinblick auf ihre strukturelle Verbundenheit zu erklären und sie nicht künstlich – weil es den Funktionsimperativen sozialwissenschaftlicher Binnenorganisation zuträglich ist – zu parzellieren, also in der Konsequenz zu exotisieren. Selbstverständlich sind lange oder auch kurze Theorien der Gegenwart unabdingbar, weshalb ich Kapital und Ressentiment mit Gewinn studiert habe. Derartige Zusammenhänge in einem großen Bild sichtbar werden zu lassen, ist freilich enorm anspruchsvoll, kognitiv und in der Darstellung also wohl nur durch einen Grad an Abstraktion zu erreichen, der pingelige Nachfragen der Leserschaft geradezu herausfordert. Die Provokation ist umso größer als Vogls Analyse in der Konsequenz zu einem Plädoyer führt, das dem Meinungshaften die Stirn bietet, indem es penible Prüfverfahren fordert, damit Information von der Chance profitiert, als Wissen lizensiert zu werden. Man würde Vogls Buch in Wahrheit durch ein Lob nur geringschätzen, das es ob seiner Formulierungskunst und analytischen Ambition preist anstatt es im Medium kritischer Nachfragen auf die Lizensierung vorzubereiten.
Der Erkenntniswert von Vogls Analyse derzeitiger Machtlagen im Hinblick auf die Organisation kapitalistischer Akkumulation bleibt von den Rückfragen unberührt: Finanz- und Digitalindustrie haben sich nicht einfach als Nischen von gesellschaftlichen Einflüssen befreiter Märkte etabliert, weil Staaten ihre Souveränitätsansprüche zurückgefahren haben; vielmehr haben sich private Unternehmen, bewaffnet mit den Epistemen neoliberaler Ideologie, selbst als Gestalter des Gemeinwesens betätigt. Diese Souveränitätsanmaßung sollte spätestens dann den demos zu einer Rückeroberung des imperium motivieren, wenn ihm durch die Lektüre von Kapital und Ressentiment klar wird, inwiefern er selbst dadurch sabotiert wird.
Im buchstäblich letzten Absatz des Buches kulminieren Vogls kenntnisreiche, originelle und äußerst anregenden Argumente in einer Art von Apokalyptik. Mit endzeitlichem Zungenschlag formuliert der Autor angesichts der ungebrochenen Vorherrschaft der Ressentimentmaschinen die Vermutung, wir lebten im zeithistorischen Intervall einer „Vorkriegszeit“ (S. 182), weil Facebook und Twitter sozusagen als Kinder von Goldman Sachs das social fabric zerstören. Eine derart kühne Ellipse hätte ein paar erläuternde Worte mehr verdient, zumal Vogl, wie im zweiten Kapitel seines Buches bezeugt, einen ausgeprägten Sinn für die Performativität von Ideen und Zeitdiagnostik besitzt. Zuzugestehen ist ihm jedoch allemal, dass uns der Abflug des Helikopters aus dem Garten des Weißen Hauses bestenfalls ein Spektakel an der Oberfläche der Verhältnisse geboten hat – worauf es ohne Frage ankommt, wäre eine Einsicht in die solche Ereignisse dirigierenden Strukturen. Und ebenjene scheinen Vogls apokalyptischem Schlussakkord nun in die Hände zu spielen: Als eine seiner ersten außenpolitischen Initiativen hat der neue Präsident schon Ende Februar die Bombardierung von Zielen in Syrien angeordnet und damit die Hoffnungen auf einen messianischen Neuanfang gleich mitzerstört – davon habe ich jedenfalls auf Twitter gelesen.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Soziopolis.