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Fluktuation statt Stagnation: Wollstonecrafts Forderungen an Eigentum

Die Pandemie hat einen ökonomischen Widerspruch offengelegt: Sowohl die Nachfrage nach den eigenen vier Wänden als auch die Hindernisse an diese zu gelangen sind gestiegen. Die Auseinandersetzung mit Mary Wollstonecraft zeigt die unveränderte Notwendigkeit Eigentum, Sicherheit und gesellschaftliche Partizipation zusammen zu denken und aus feministischer Perspektive zu betrachten.

Laut einer Umfrage des Verbandes der Privaten Bausparkassen erhöhte sich durch die Umstände der Pandemie die Nachfrage nach Privateigentum an einem eigenem Zuhause sowie nach Modernisierungsmaßnahmen des schon erworbenen eigenen Heimes. Dem eigenen Zuhause wird durch äußere Maßnahmen ein essentieller Ort der Sicherheit zugeschrieben, eine Art räumlicher Rückzug vor möglicher Ansteckung.

Neben einem Land mit hohem Interesse an einem eigenen Heim ist Deutschland allerdings auch ein Land mit einem sehr ungleich verteiltem Privatvermögen. Die Hans-Böckler-Stiftung hat dazu im Jahr 2017 eine großflächige Untersuchung durchgeführt und festgestellt: „Insgesamt besitzen die wohlhabendsten zehn Prozent der Haushalte zusammen etwa 60 Prozent des Gesamtvermögens, netto, also abzüglich Schulden. Die unteren 20 Prozent besitzen gar kein Vermögen.“ Die Annahme, dass eine ungerechte Verteilung von Eigentum bedeutet, dass auch die Chance auf Sicherheit eines Eigenheims deutlich geringer ist, scheint plausibel. Noch immer sind es oftmals wenige Familien, die den Löwenanteil des Grundbesitzes innerhalb weitervererben. Eine Art eingeschränkte Fluktuation innerhalb eines sich selbst erhaltenden Systems.

Sobald man dann zusätzlich die Verteilung von Eigentum zwischen Männern und Frauen einbezieht, wird schnell deutlich: auch hier klafft eine große Lücke zwischen, in diesem Fall, beiden Geschlechtern. Eine Studie von Oxfam aus dem Jahr 2019 stellte fest: „Weltweit besitzen sie [Frauen] nur die Hälfte des Vermögens, über das Männer verfügen“. Es gibt momentan keine einzige Frau unter den 10 reichsten Menschen. Um diese andauernde Differenz zu verstehen, lohnt sich ein historischer Blick.

Sina Menke

Sina ist Redakteurin für Feministische Ökonomie bei P&Ö. Sie promoviert in frühneuzeitlicher Geschichte an der Universität Marburg und ist Mitglied bei den New Voices on Women in the History of Philosophy und der DGphil AG Frauen in der Geschichte der Philosophie. Sie interessiert sich für feministisches Denken, Philosophiegeschichte und utopische Strukturen.

Wollstonecraft und Eigentum

Im Aufkommen der Industriellen Revolution und den Einflüssen der Französischen Revolution beschäftigen sich diverse Autor:innen mit Fragen nach Eigentum, Klasse und Geschlecht. Eine dieser Autor:innen ist Mary Wollstonecraft, Moralphilosophin und politische Denkerin des 18. Jahrhunderts. Wollstonecraft schreibt, neben etlichen philosophischen Eigenwerken, signifikante Kritiken über Werke von Jean-Jacques Rousseau, Edmund Burke und Madame de Staël.

Für Mary Wollstonecraft war die Tatsache, dass wenigen Familien viel Eigentum gehört, bereits 1790, wenn auch in Bezug auf monarchische (Groß)familien, suspekt. In ihrem Brief an Edmund Burke, besser bekannt als A Vindication of the Rights of Men, schreibt sie, dass nur das Eigentum des reichen Mannes sicher sei. Der common man hingegen könne auf eine solche Sicherheit nur hoffen. Er, der im Schweiße seines Angesichts arbeitete, habe kein Garant auf Schutz vor Unterdrückung und Recht auf Dauerhaftigkeit seines Besitzes, denn er könne sein Land häufig nur pachten: „The strong man may enter – when was the castle of the poor sacred?“. 1 Vindication S. 13

Dass Wollstonecraft sich mit Fragen des Eigentums beschäftigt, kann auf verschiedene Gründe zurückgeführt werden. Biografische Zeugnisse ihres Lebens weisen darauf hin, dass ihr Vater das großzügige Erbe ihres Großvaters schlecht verwaltet hat. Wollstonecrafts mühevoll aufgebaute Schule stürzte sie, anstatt Ort des Lernens und der Sicherheit zu sein, in den finanziellen Ruin. Sie hat somit einiges an Misswirtschaft und darauffolgende finanzielle Schwierigkeiten mitbekommen. Neben persönlichem Interesse motivierte sie aber auch der Blick auf einen Widerspruch der Geschichte Englands: Der Reichtum und daraus folgend auch das Eigentum ihres Geburtslandes fußt auf der Ausbeutung von Sklaven. Die Ärmsten also sichern den Besitz der Reichsten. Diesen (scheinbaren) Widerspruch muss man bedenken, wenn man sich mit Wollstonecrafts Forderungen nach Eigentum für alle beschäftigt.

Sicherung von gesellschaftlicher Partizipation

Die reine Fokussierung auf Eigentum trägt für Wollstonecraft eine Mitschuld am moralischen Verfall der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Sie kritisiert, dass Menschen sich mehr dem Streben nach Vernunft widmen sollen anstatt dem Erwerb von Eigentum. Allerdings betont sie gleichzeitig, dass erst Eigentum eine sinnvolle Partizipation am common good ermöglicht. Es wäre falsch zu behaupten, “that a man fights for his country, his hearth, or his altars, when he has neither liberty nor property.” 2 Vindication S. 14 Somit erfüllt Eigentum bei ihr nicht eine individuelle, egoistische Funktion, sondern dient auch dem Land an sich.

Frauen und Eigentum

Wollstonecraft schreibt aber nicht nur A Vindication of the Rights of Men, sie verfasst wenige Jahre später ein weiters Werk, welches sich speziell mit der Rolle von Frauen in der Gesellschaft beschäftigt: The Wrongs of Woman. Und hier verdichtet sich ihr Argument, dass Eigentum für alle verfügbar sein sollte. In ihrem fiktiven Werk beschreibt Wollstonecraft, dass sich sowohl Männer als auch Frauen niemals genötigt fühlen sollten, aus finanziellen Gründen zu heiraten. Damit dieses Dilemma gelöst werden kann, müssen Frauen also die gleichen Entscheidungsmöglichkeiten wie Männern zustehen. Denn Eigentum bedeutet Grundsicherheit und ermöglicht eine aktivere Partizipation an der Gesellschaft.

Und gerade dieser wird durch geschlechterspezifische, sozio-kulturelle Entwicklungen des 18. Jahrhunderts erschwert: Menschen, so Wollstonecraft, dürfen niemals property sein. 3 Vindication S. 26 Damit nimmt sie eine essentielle Unterscheidung zwischen Menschen als Eigentum und Eigentum im Sinne von Grundbesitz oder Wohnraum vor. Genau in dieses Dilemma gerieten allerdings viele Frauen zu Wollstonecrafts Lebzeiten, denn während durch die industrielle Revolution die Betonung des Individuums und der individuellen Bedürfnisse wuchs, wurde von Frauen gleichzeitig in weiten Teilen Europas „manifest obsolete, aristocratic standards of behavior“ gefordert. Sie wurden also, polemisch formuliert, nahezu als Besitz verstanden, der sich angemessen zu verhalten habe.

Mary Wollstonecraft

Wollstonecraft wurde 1759 in London geboren. Sie starb 1797 ebenfalls in London. Wollstonecraft war Moralphilosophin, politische Denkerin und Wegbereiterin der romantischen Bewegung. Ihre Tochter, Mary Shelley, ist Autorin des Science-Fiction Romanes Frankenstein.

Und heute?

Was lässt sich anhand der momentanen Krisensituation aus Wollstonecrafts Überlegungen ziehen? Selbstverständlich muss das Ziel der feministischen Auseinandersetzung mit Eigentum nicht bloß lauten: Frauen müssen reicher werden. Aber sie müssen immerhin dieselben Chancen auf Eigentum und die damit einhergehenden Entscheidungsmöglichkeiten und Sicherheiten haben, um dieselben Chancen der Partizipation zu erlangen.

Aber wie kann die Spanne zwischen Männern und Frauen in Bezug auf Besitz und Eigentum verringert werden? Die Lebenswelten von Frauen, gerade ärmeren Frauen, müssen stärker in ökonomische Diskussionen einbezogen werden. Bollinger schreibt in DIE ZEIT: „Ein Lohn reicht heute nicht mehr für die ganze Familie. Frauen wollen und dürfen heute nicht nur einer Erwerbsarbeit nachgehen – sie müssen es auch.“ Und obgleich sie ebenfalls Erwerbsarbeit leisten müssen, ernten sie im Schnitt deutlich weniger Früchte dieser Arbeit als Männer. Im Umkehrschluss heißt dies: Irgendwo muss zwischen Lohn und Erwerb von Eigentum ein Bruch entstehen. Ein Hinweis auf diesen Bruch kann die Verteilung von Sorgearbeit sein, die oft als Doppelbelastung für, vor allem, Frauen benannt wird. Wichtig ist dabei allerdings, sich nicht nur mit finanziell sowieso schon gut gestellten Frauen zu beschäftigen, sondern auch Frauen in prekären Situationen mit einzubeziehen. So kann auch eine finanziell gleichgestellte Familie eine migrantische Haushaltshilfe unterbezahlen. Denn tatsächlich sind es gerade Migrant:innen, die einen Großteil der Sorgearbeit in Deutschland leisten.

Dieser oftmals „nicht-marktvermittelte[…] Teil der Wirtschaft und Gesellschaft“ ist es, welcher dringend aus feministischer Perspektive mitgedacht werden muss. Nur so kann die Idee einer gerechten Bezahlung und den daraus folgend gleichberechtigten Chancen auf Eigentum und gesellschaftliche Partizipation am common good in die Tat umgesetzt werden.