Inken Schmidt-Voges: „Das Postulat von Gleichheit in all ihren Facetten“

Was können wir heutzutage noch von Beobachtungen über Frauen und Ökonomie in der Frühen Neuzeit lernen? „Vieles“, sagt Historikerin Inken Schmidt-Voges im Gespräch mit unserer Redakteurin Sina Menke, denn es „ist […] allemal lohnenswert, nicht nur bis ins 19. Jahrhundert oder zu den Revolutionen in Amerika und Frankreich zu schauen.“

Das allgemein bekannte Wort Ökonomie setzt sich zusammen aus den altgriechischen Wörtern oĩkos „Haus“ und nómos „Gesetz“. Welche Relevanz haben die beiden Begriffe, gerade in Kombination, in Ihrer Forschung als Historikerin?

Diese Einstiegsfrage zielt ja gleich ins Zentrum eines großen Komplexes, den ich mal kurz zu umreißen versuche. In meinen Forschungen beschäftige ich mich mit den sozialen, politischen und kulturellen Transformationsprozessen in Europa zwischen 1450 und 1850. In der Renaissance erlebte die wiederentdeckte antike Literatur eine Hochkonjunktur, bot sie doch ganz neue Deutungsmuster, um die immensen sozialen, politischen und ökonomischen Dynamiken zu erklären und zu begründen; Sinnstiftung, die viele Gelehrte in den überkommenen mittelalterlichen Traditionen nicht mehr sahen. Und hier spielt die „oikonomia“ eine zentrale Rolle.

In der Zusammensetzung beschrieb sie im Verständnis des 15. und 16. Jahrhundert die „Ordnung des Hauses“ – also jenes Gefüges von Personen verschiedenen Alters, Geschlechts und rechtlichen Status‘, die als gemeinsam lebten, wohnten und wirtschafteten, um ihren Lebensunterhalt arbeitsteilig zu sichern. Ökonomie bezog sich also auf die Gesamtheit der alltäglichen Lebensorganisation im Kontext des Haushalts (nicht zwangsläufig deckungsgleich mit Familie!), die uns heute geläufige Bedeutung als übergeordnetes, marktorientiertes Wirtschaftsgeschehen bildete sich erst seit dem 18. Jahrhundert allmählich heraus.

Mich interessieren hierbei insbesondere, wie sich seit dem 15. Jahrhundert mithilfe der Anleihen aus der antiken Literatur ein ganz spezifisch frühneuzeitliches Verständnis von ökonomischer, also „häuslicher“ Ordnung entwickelte. Denn es stand in engem Zusammenhang mit einem neuen Politikverständnis, das auf patriarchale Begründungszusammenhänge aufbaute und erste Grundlagen für Staatsbildungsprozesse bildete. Auch der oikonomia war von Anfang an eine spezifische, wenn auch widersprüchliche Geschlechterordnung eingeschrieben. Und die Entstehung, Spielarten, Deutungskämpfe und Folgen dieser widersprüchlichen Geschlechterordnung sind aufschlussreich zu untersuchen im Hinblick auf ihre Auswirkungen für die massive Geschlechterungleichheit, wie sie sich seit dem 19. Jhd. in Recht, Verfassung, Politik, Ökonomie, Kultur und Gesellschaft manifestierten.

Inken Schmidt-Voges

Inken vertritt an der Philipps-Universität Marburg das Fachgebiet der Geschichte der Frühen Neuzeit. Sie forscht und lehrt unter anderem mit einem regionalen Schwerpunkt auf Europa zu Geschlechtergeschichte, Haus, Haushalt und Familie, politischer Kultur und Kommunikation sowie Friedens- und Konfliktforschung in der Zeit zwischen 1450-1850. Inken leitet das DFG Projekt "Mediale Konstruktionen von Frieden in Europa 1710-1721" sowie ein SFB-Teilprojekt "Die Sicherheit des Hauses und die (Un)Sicherheit der Geschlechter".

Was können Geschlechtergeschichte und Wirtschaftsgeschichte voneinander lernen?

Sie lernen und inspirieren sich bereits seit langem auf sehr fruchtbare Weise. Bezogen auf unser Thema vor allem in der Sichtbarmachung und Kontextualisierung der Arbeit von Frauen in der Frühen Neuzeit – eben nicht nur „im Haus“, sondern als Zunfthandwerkerinnen, Unternehmerinnen, Risikokapitalgeberinnen, Mägde, Kauffrauen auf Messereisen, Kleinkrämerinnen und Kreditgeberinnen; und wie sich dies durch die ökonomischen Umbrüche im 18. Jhd. und vor allem die Industrialisierung veränderte und zu sehr ungleichen Einkommens- und Erwerbsmöglichkeiten führte – mit allen Konsequenzen im sozialen, ökonomischen und Bildungsbereich für die Möglichkeiten, den „pursuit of happiness“ und ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Vielleicht können wir uns dem langen Zeitraum zwischen 1450 und 1850 nähern, mit der Frage nach sozialer Ordnung. Wie hängen die Bereiche Frauen und Ökonomie zusammen?

Ein frühneuzeitlicher Haushalt – also die Ökonomie bzw. oikonomia – wurde in der Regel von einem Ehepaar geleitet und die verschiedenen Tätigkeitsbereiche waren geschlechterbezogen verteilt. In diesem auf Komplementarität angelegten Konzept waren also Männer und Frauen gleichermaßen wichtig für das Funktionieren eines Haushaltes und trugen die Verantwortung für eine standesgemäße Versorgung der ihnen anvertrauten Personen – die ‚Nahrung‘ im zeitgenössischen Sprachgebrauch. Das betraf natürlich in erster Linie das Verhältnis zwischen Ehemann und Ehefrau bzw. Hausvater und Hausmutter, aber auch beim Gesinde oder älteren Kindern.

Was haben Frauen in der Frühen Neuzeit an Forderungen gestellt? Insbesondere bezüglich sozialer Gleichstellung?

Von „Gleichstellung“ in der Frühen Neuzeit zu sprechen, bedeutet sich klarzumachen, dass wir es mit einer Gesellschaft rechtlicher und sozialer Ungleichheit zu tun haben. Menschen standen in einer klaren hierarchischen Ordnung zueinander, die durch unterschiedliche, miteinander verflochtene Differenzkategorien konstituiert wurden – Stand, Alter, Konfession, Herkunft und natürlich Geschlecht neben anderen. Gleichwohl gab es Gleichheitsvorstellungen, innerhalb einer Gemeinde und vor allem natürlich im religiösen Sinn: „Vor Gott sind alle Menschen gleich“ oder bezogen auf die Geschlechterordnung: „Mann und Frau sind in Christo ein Fleisch“. Jeder konnte also erwarten, entsprechend der mit seinem „Stand“ verbundenen Ehre behandelt zu werden.

Für Frauen bedeutete dies, dass sie – insbesondere als Ehefrauen – Anerkennung für ihre geleistete Arbeit zu erhalten, den Respekt und Gehorsam der ihr Untergebenen und genauso den Respekt und eine partnerschaftliche Führung des Haushalt von ihren rechtlich übergeordneten Ehemännern. Dies konnten und durften frühneuzeitliche Ehefrauen erwarten und sie klagten dies auch aktiv ein im Falle unbotmäßiger, willkürlicher oder gar gewaltsamer Ehemänner. Die umfangreichen Akten der kirchlichen Sittengerichte zeigen dies genauso wie städtische oder gemeindliche Niedergerichte – nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern in überall in Europa.

Um ein wenig vom historischen Blick auf den aktuellen zu kommen: Inwiefern kann eine Beschäftigung mit der Geschlechtergeschichte in der Frühen Neuzeit aufschlussreich sein für aktuelle feministisch-ökonomische Betrachtungen? Inwiefern nicht?

Zentrale Fragestellungen der Gegenwart sind ja geschlechterbasierte Ungleichheiten in der Bezahlung von Arbeit (gender pay gap) und in der Wahrnehmung von unbezahlter Arbeit, insbesondere im Haushalt, bei der Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen (gender care gap). Das dahinterstehende Familienmodell (oft als „klassisch“ bezeichnet) mit der Vorstellung des breadwinning male (paid work) und homemaking female (unpaid work) basiert in seinem Kern letztlich auf Vorstellungen einer arbeitsteiligen Geschlechterordnung ständischer, also frühneuzeitlicher Gesellschaften. Will man also die Ursachen der Persistenzen solcher für die heutigen Gesellschaften mit ihrem Postulat von Gleichheit in all ihren Facetten erforschen, muss man nach den Funktionslogiken und Interessen in der Frühen Neuzeit fragen, aus denen heraus sich diese Ordnungsvorstellungen entwickelten – und man muss fragen, welche Machtstrukturen dahinterstanden und stehen, dass sie die massiven gesellschaftlichen Veränderungen durch Revolutionen und Industrialisierung überstanden – mit Verschiebungen und anderen Akzentsetzungen – aber in der Zementierung von primordial gedachter Ungleichheit ungemein wirksam.

Sicherlich gibt es eine Fülle von feministisch-ökonomischen Problemstellungen und Herausforderungen, die nicht unbedingt in historischer Perspektive betrachtet werden müssen; tut man es aber, ist es allemal lohnenswert, nicht nur bis ins 19. Jahrhundert oder zu den Revolutionen in Amerika und Frankreich zu schauen; gerade in Bezug auf Wissenskulturen, Verargumentierungen, Traditionsbildung und die Konstruktion vermeintlich „natürlicher“ Differenzen lassen sich viele Dinge doch erst wirklich erklären, wenn man weiter zurückschaut!

Bezüglich der „Machtstrukturen“, die „dahinterstanden und stehen“ stellt sich die Frage: welche Strukturen überdauern oder überdauerten denn die Zeit bis heute? Warum diese Persistenzen?

Die in der Frühen Neuzeit verankerte Patria potestas wurde in den Rechtskodifikationen des 18. und 19. Jhd. nicht nur zementiert, sondern ausgebaut; nicht nur durften Frauen nicht an der politischen Öffentlichkeit durch Wahlrecht teilhaben, auch ihre Eigentums- und Erbrechte waren erheblich stärker vom (Ehe-)Mann abhängig als in der Rechtsvielfalt der Frühen Neuzeit. Verschärft hat sich die Abhängigkeit vom Mann auch in der Einführung eines lohnbasierten Sozialversicherungssystems, das die in der häuslichen Sphären des „Privaten“ geleistete unbezahlte Arbeit schlicht nicht einschloss und so die soziale Absicherung über den Mann lief – was im Falle von Scheidung eine immense Armutsfalle darstellte.

Vielen Dank für das Gespräch!