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Free to choose?

Erschöpft sich Freiheit in Konsumentscheidungen? In seinem Beitrag argumentiert Maurice Weller, dass Freiheit über individuelle Wahlfreiheit hinausgeht. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie einfach übergangen werden kann. Vielmehr besteht die Herausforderung darin, individuelle Interessen mit kollektiven zu vermitteln.

Was ist Freiheit und wie hängt sie mit Ökonomie zusammen? Der amerikanische Ökonom Milton Friedman hatte darauf eine klare Antwort, die er im Titel einer von ihm produzierten Fernsehserie prägnant auf den Punkt brachte: »Free to choose«. 1 https://youtu.be/dngqR9gcDDw?feature=shared  Demnach besteht Freiheit in der eigenen Wahl. Je mehr Wahlmöglichkeiten man hat, desto freier ist man. In diesem »negativen« Sinne steht Freiheit also für das Fehlen von Einschränkungen dieser Wahlfreiheit. Der Kapitalismus ist daher das beste System, weil er Menschen diese Freiheit ermöglicht. Im Kontext des Kalten Krieges war das allzu klar: Die Menschen im Westen hatten mehr Angebote im Supermarkt, aus denen sie wählen konnten und mehr Reisemöglichkeiten. Also waren sie freier. Freiheit und Wohlstand fördern sich gegenseitig.

Kollektive Freiheit

Tatsächlich ist diese Vorstellung von Freiheit als Marktfreiheit ein recht neues Phänomen. 2 Eric MacGilvray, The Invention of Market Freedom (Cambridge; New York: Cambridge University Press, 2011), https://doi.org/10.1017/CBO9780511842351.  In der philosophischen Tradition ist dieser Freiheitsbegriff deshalb alles andere als selbstverständlich. Der Ökonom Friedrich August von Hayek, der Milton Friedman maßgeblich inspiriert hat, empörte sich in seinem Buch »The Road to Serfdom« darüber, dass gerade die deutsche Philosophie einen ihm völlig fremden Begriff von »kollektiver« Freiheit entwickelt hat. 3 Friedrich A. von Hayek, The Road to Serfdom, Routledge Classics (London: Routledge, 2006), 153–54. Die Wahlfreiheit ist diesem Begriff nach bloß die der Willkür und mit der Willkür des Fürsten verbunden. Der Fürst kann wählen, was er will und muss sich vor niemandem verantworten: Er kann seine Bedürfnisse endlos befriedigen, Kriege beginnen und Untertanen enteignen ohne Konsequenzen. Für ihn gelten daher keine Regeln. Jean-Jacques Rousseau hielt einen bürgerlichen Freiheitsbegriff kollektiver Selbstgesetzgebung dagegen: Freiheit bedeutet, dass es Regeln gibt, die für alle verbindlich sind. Frei ist, wer Gesetzen folgt, die er sich mit anderen zusammen vernünftig auferlegt, an deren Formulierung er selbst beteiligt war. Übermäßiger materieller Wohlstand war für Rousseau dieser Freiheit eher hinderlich. 

Maurice Weller

Maurice Weller studiert Philosophie und Medienwissenschaft in Basel. Er ist auf Twitter/»X« unter @Weller_Maurice zu finden.

Kant und Hegel haben sich an diesem republikanischen Freiheitsbegriff orientiert und ihn philosophisch weiterentwickelt. Einige Argumente dieser Entwicklung lassen sich folgendermassen skizzieren: Zum einen stellt sich die Frage, inwieweit meine Neigungen legitime Handlungsgründe sind: Bin ich tatsächlich frei, wenn ich meinen beliebigen Neigungen folge, ohne dass ich in der Lage bin, dieses Handeln vernünftig zu rechtfertigen oder werde ich dadurch nicht zu deren Sklave? Kann ich wirklich wissen, dass diese Neigungen und Bedürfnisse meine eigenen sind und mir nicht von anderen eingeredet werden? Was ich will, wähle und wer ich bin, ist nie etwas Stabiles oder von der Gesellschaft komplett Unabhängiges, sondern etwas Plastisches, das sich auch umgestalten lässt. Identität ist daher kein stabil vorgefertigtes tautologisches »Ich bin ich« bzw. »A=A«. Im Beharren auf meine Bedürfnisse kann ich deswegen genauso wenig ein tautologisches »Freiheit ist Freiheit« behaupten.

Zum anderen hat mein Handeln immer gesellschaftliche Voraussetzungen: Wenn ich in einer freien Gesellschaft einfach das mache, was auch immer ich will ohne Rücksicht auf andere, untergrabe ich dann dadurch nicht die Bedingungen dieser Gesellschaft und damit auch mein Handeln selbst? Hegel äußerte sich deswegen abfällig über die Vorstellung, Freiheit bestehe darin, das zu tun, was man will. 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse: mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen / Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 16. Auflage, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 607 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2019), 66 §14. Genauso stellte er sich aber auch gegen das Projekt, im Sinne der vollkommenen »Passpolizei« jeden Aspekt des Lebens politisch zu regeln. 5 Hegel, 25.  Der Einzelne hat ein Recht auf Besonderheit, Selbstentfaltung, die Befriedigung seiner Bedürfnisse und eine Sphäre des Privaten und der Willkür, aber nur solange diese sich mit den Interessen der Allgemeinheit verträgt. 

Die Anziehungskraft der Willkür

Was Vertreter der Wahlfreiheit dabei stört ist, dass sie darin einen bevormundenden Paternalismus wittern. Der Staat und seine Intellektuellen wollen den Bürgern erklären, worin ihre Freiheit besteht, obwohl das doch jeder für sich selbst am besten weiß. Der mündige Einzelne kennt sich selbst, seine Bedürfnisse und seine Situation und ist deswegen am besten in der Lage Entscheidungen für sich zu treffen. Demokratische Verfahren versprechen zwar auch Freiheit, sind aber in der Praxis oft träge und geben einem nicht das Gefühl, wirklich etwas zu verändern. Der Markt soll responsiver, schneller, verlässlicher und effizienter sein als die Demokratie, um Bedürfnisse zu ermitteln und zu befriedigen. In der Konsumgesellschaft des freien Marktes kehrt die feudale Freiheit des Fürsten deshalb als Willkür zurück: Der Kunde ist König, denn er kann frei wählen. Das heißt aber auch: Er ist kein Bürger. Entsprechend sollte es nicht überraschen, wenn bestimmte Ultralibertäre und Marktliberale sich die Monarchie als Regierungsform zurückwünschen. 6 Quinn Slobodian, Crack-up capitalism: market radicals and the dream of a world without democracy, First edition (New York: Metropolitan Books, 2023).

Solange man sich an die Gesetze hält und dem Staat nicht zur Last fällt, indem man keine Sozialhilfe bezieht und brav seine Steuern zahlt, leistet man genug. Die Pflicht der Allgemeinheit gegenüber liegt auf rein rechtlicher und ökonomischer Ebene und nicht im Gebiet der Ethik oder Lebensführung. Darin liegt ein individualistisches Versprechen: Alle republikanischen Institutionen gesellschaftlicher Disziplinierung, welche Ansprüche an das Individuum stellen, verlieren ihre Kraft und Legitimität: Kirchen, Schulen, Nachbarschaften, Parteien, Gewerkschaften, Arbeitsplätze, das Militär, je nachdem sogar die Familie: allen ihren Vorschriften kann man sich entziehen, solange man die entsprechenden finanziellen Mittel hat. Was für einen Unterschied das macht, kann man sich heute schwer vorstellen, wird aber klarer, wenn man bedenkt, welche rigiden Ansprüche in Bezug auf Verhalten, Auftreten und Sexualität früher gegolten haben und wie stark Verstöße gegen diese Normen sanktioniert wurden.

Ökonomische Bedürfnisse

Eine von Rousseau inspirierte Kritik wirft dem Kapitalismus vor, den Menschen Dinge zu verkaufen, die sie eigentlich gar nicht benötigen, also neue falsche Bedürfnisse zu generieren. Aber es ist gar nicht so einfach, zwischen »echten« und »künstlichen« Bedürfnissen zu unterscheiden. Bedürfnisse haben immer auch eine soziale Dimension: Ich selbst denke vielleicht, dass ich kein Smartphone brauche, aber wenn alle um mich herum eines habe, dann muss ich mir auch eines zulegen, um Teilhabe und Anerkennung zu finden. Wie Hegel festgestellt hat, ist es nicht der Luxus der Reichen, sondern das Streben nach Gleichheit und Anerkennung, welches in der bürgerlichen Gesellschaft immer wieder neue Bedürfnisse hervorruft. 7 Hegel, Werke. 7, 349–50 §193.  Es liegt ein großer Reiz darin, durch die Versprechen der Konsumgesellschaft in sich neue Bedürfnisse zu entdecken und sich dann für oder gegen deren Befriedigung zu entscheiden. So kann man herausfinden, was einem wirklich wichtig ist. Die Philosophin Lea Ypi illustriert das, wenn sie in ihren Memoiren über das Aufwachsen im kommunistischen Albanien schreibt, dass dort im westlichen Fernsehen die Werbespots das große Highlight waren. 8 Lea Ypi, Free: Coming of Age at the End of History (London: Allen Lane, 2021), 18.

Anton Jäger und Daniel Zamora Vargas haben in ihrer Geschichte des bedingungslosen Grundeinkommens darauf hingewiesen, dass die Popularität eines Grundeinkommens, das einst sogar von Milton Friedman befürwortet wurde,  mit dem Scheitern einer kollektiv-demokratischen Wertung und Gestaltung von Bedürfnissen einhergeht. 9 Anton Jäger und Daniel Zamora, Welfare for markets: a global history of basic income, The life of ideas (Chicago ; London: The University of Chicago Press, 2023), 43–50.  Um einem vernünftigen kollektivem Freiheitsbegriff zu entsprechen, müssten Gesellschaften wieder stärker demokratisch und kulturell Gewichtungen von Bedürfnissen im allgemeinen Interesse vornehmen. Dabei sollten sie die Bedürfnisse eines vernünftigen guten Lebens, welches der Gemeinschaft dient unter Berücksichtigung von Fairness und Nachhaltigkeit priorisieren. Das heißt Gesellschaften müssen sich darauf einigen, worin ein gutes Leben besteht, um dieses dann zu fördern. Ist Armut für ein gutes Leben etwa abträglich? Inwiefern ist eine gewisse Gleichheit erforderlich, um sich in der Gesellschaft frei zu entfalten?

Derartige Gewichtungen müssen nicht unbedingt immer auf strikte Auflagen und Verbote angewiesen sein, sondern können auch durch Vergesellschaftung, Preiskontrollen, staatliche Investitionen, Steuern und Subventionen vollzogen werden. Der Einsatz dieser Werkzeuge ist nicht nur eine Frage ökonomischer Effizienz. Sie sollten als Mittel freiheitlich-demokratischer Gestaltung betrachtet werden, anstatt als bedauerliche Eingriffe in eine ansonsten vorziehbare Marktfreiheit. Wo ein Einbruch an Legitimität durch Wohlstandsverlust droht, kann eine solche demokratische Gestaltung soziale Stabilität fördern. 

Wider die Eitelkeit des Besonderen

Gerade von liberaler Seite wird dagegen, insbesondere gegenüber grünen Parteien, nicht immer zu Unrecht der Vorwurf eines überkommenen Paternalismus erhoben. Entgegen Maßnahmen im Interesse der Allgemeinheit wird auf das Recht der eigenen Besonderheit gepocht. Dieses Recht zu beanspruchen ist legitim und wichtig. Hegel betonte jedoch, dass das Bestehen auf Besonderheit schnell in Eitelkeit verfallen kann. Wenn die eigene Besonderheit als Willkür zum Prinzip gemacht und über das Allgemeine gestellt wird, wird sie zum Bösen. 10 Hegel, Werke. 7, 260–61 §139.  Im Zuge der Coronakrise wurde deutlich, dass viele Menschen sich gegen jegliche Ansprüche der Allgemeinheit lieber zur Wehr setzen und eitel auf ihrer Willkür beharren. Es ist ein Denken, das sich nur als frei weiß, insofern es sich eitel als Besonderes vom Allgemeinen abgrenzt und dadurch ins Unrecht fällt. 11 Hegel, 15. Die Soziolog:innen Oliver Nachtwey und Caroline Amlinger haben dieses Phänomen treffend als die verdinglichte Freiheit eines libertären Autoritarismus beschrieben. 12 Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus, Erste Auflage, Originalausgabe (Berlin: Suhrkamp, 2022).

Wer gegen diesen Libertarismus argumentiert, darf nicht als heuchlerischer moralistischer Spielverderber auftreten, sondern muss dessen emanzipatorischen Elemente anerkennen. Das biedere Nörgeln der Gegner, ob real oder eingebildet, heizt den Spaß an der Transgression an. Die Ausweitung des Rechts auf Besonderheit, welche in den vergangenen Jahrzehnten vonstattengegangen ist und weiter fortschreitet, ist legitim und unhintergehbar. Die Herausforderung besteht jedoch darin, die Errungenschaften dieser Entwicklung im Sinne eines anspruchsvollen Begriffs kollektiver Freiheit mit dem Allgemeinen zu vermitteln.