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Fritz Bartel: „Westliche Demokratien konnten politische Versprechen besser brechen.“

Der US-Historiker Fritz Bartel hat mit seinem Buch »The Triumph of Broken Promises« eine neue Geschichte vom Ende des Kalten Krieges vorgelegt. Mit Otmar Tibes hat er darüber gesprochen, warum der Westen sein Versprechen vom Wohlstand für alle in den 1980er Jahren brechen konnte, der Osten aber nicht.

Herr Bartel, in Ihrem aktuellen Buch thematisieren Sie zwei historische Ereignisse des späten 20. Jahrhunderts: das friedliche Ende des Kalten Krieges und den globalen Aufstieg des neoliberalen Kapitalismus. Beide Ereignisse, so argumentieren Sie, dürfen nicht getrennt voneinander verstanden werden, sondern müssen vielmehr zusammen gedacht werden?

Richtig. Zu beiden Ereignissen haben Historiker aufschlussreiche Arbeiten verfasst, aber sie haben sie nicht als zusammenhängende Entwicklungen einer gemeinsamen Geschichte verstanden. Historiker des Neoliberalismus – den ich als eine politische Ideologie verstehe, die für freien Waren- und Kapitalverkehr sowie höhere gesellschaftliche Ungleichheit und einen beschränkten Sozialstaat steht – haben seine intellektuelle Geschichte lange nachgezeichnet. Sie haben sich jedoch nicht genug damit beschäftigt, wie sich der Aufstieg des Neoliberalismus auf den Kalten Krieg ausgewirkt hat. Andererseits haben Historiker, die sich mit dem Kalten Krieg auseinandergesetzt haben, der Rolle der politischen Ökonomie zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. 

Um das Ende des Kalten Krieges zu verstehen, muss man also die globale politische Ökonomie berücksichtigen? 

Mein Ziel mit dem Buch ist es, die bedeutende Rolle der weltweiten politischen Ökonomie aufzuzeigen. Dabei konzentriere ich mich auf drei Faktoren, die im späten 20. Jahrhundert eine große Rolle in der globalen politischen Ökonomie gespielt haben: Energie, Finanzen und ökonomische Disziplin. Alle drei Faktoren traten im Gefolge der Ölkrise von 1973 in den Vordergrund, und ihre miteinander verflochtene Geschichte trug maßgeblich zum Aufstieg des neoliberalen Kapitalismus bei. Der Aufstieg des neoliberalen Kapitalismus hat wiederum maßgeblich zum Ende des Kalten Krieges beigetragen.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der Kalte Krieg in den ersten Jahrzehnten – neben dem militärischen und atomaren Wettrüsten – mit einem Wettrennen um politische Versprechen begann?

Ja, nach den ökonomischen Schocks der Weltwirtschaftskrise, die den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hatten, war es nach 1945 zu einer Grundprämisse der Politik geworden, dass Regierungen für die ökonomische Sicherheit und das Wohlergehen ihrer Bürgerinnen und Bürger sorgen. Kapitalistische und kommunistische Staaten traten deshalb in einen Wettbewerb miteinander, wer der eigenen Bevölkerung den besseren Lebensstandard anbieten konnte. Dieses gemeinsame politische Terrain im Kalten Krieg nenne ich den »Wettbewerb politischer Versprechen«.

Als Beispiel nennen Sie die historische »Küchendebatte« zwischen Richard Nixon und Nikita Chruschtschow.

Das ist der berühmteste historische Moment, der für den Wettbewerb politischer Versprechen steht. In Moskau kam es 1959 zwischen dem sowjetischen Staatschef Nikita Chruschtschow und Richard Nixon, der damals noch US-Vizepräsident war, zu einer ungewöhnlichen »Küchendebatte«. Bei ihrem Rundgang durch eine amerikanische Ausstellungshalle, in der die materiellen Vorteile der kapitalistischen Lebensweise präsentiert wurden, begannen die beiden Regierungschefs über die Vorzüge ihrer jeweiligen Systeme zu diskutieren. Vor laufender Kamera pries Nixon das kapitalistische System an, das jedem Stahlarbeiter ein Einfamilienhaus mit Geschirrspüler und Farbfernseher bieten könne. Chruschtschow wiederum brüstete sich damit, dass die Arbeiter im Kommunismus Anspruch auf eine Wohnung hätten und erklärte, dass die Sowjetunion das amerikanische Wirtschaftswachstum in einigen Jahren übertreffen und dann einen noch besseren Lebensstandard haben wird als die USA. In seinen ersten Jahrzehnten war der Kalte Krieg also ein Wettbewerb von politischen Versprechen, die durch ein beispielloses Wirtschaftswachstum untermauert wurden.

Fritz Bartel

Fritz Bartel ist Assistenzprofessor an der Bush School of Government and Public Service der Texas A&M University. 2022 erschien sein Buch »The Triumph of Broken Promises« bei Harvard University Press. Als Dissertation wurde das Buch 2018 von der Society for Historians of American Foreign Relations (SHAFR) mit dem Dissertationspreis ausgezeichnet.

Das starke Wirtschaftswachstum war also die materielle Grundlage für diesen Wettlauf politischer Versprechen?

Richtig. Beide Systeme stützten ihre Macht und Legitimität auf industriellem Wachstum. Tatsächlich erlebte die Weltwirtschaft in den drei Nachkriegsjahrzehnten auch eine historische Wachstumsphase. Historiker sprechen vom »goldenen Zeitalter des Kapitalismus«. Das Wachstum im kommunistischen Osten stand jenem des kapitalistischen Westens aber in nichts nach. Natürlich waren beide Blöcke ökonomisch nicht auf gleicher Höhe. Der Westen war zu Beginn der Nachkriegszeit wesentlich reicher und blieb das auch bis zum Ende des Kalten Krieges. Allerdings konnten die Sowjets in den ersten Jahrzehnten des Kalten Krieges glaubhaft vertreten, mit dem Wirtschaftswachstum aus dem Westen mitzuhalten und es sogar noch zu übertreffen. 1961 versprach Nikita Chruschtschow deshalb, dass die Sowjetunion im Jahr 1980 den Kommunismus erreichen werde. Auf dem Weg dorthin würde die Kommunistische Partei das Land durch eine staatlich gelenkte Industrialisierung modernisieren und seinen Bürgern sichere Arbeitsplätze, Wohnraum, eine hochwertige Bildung sowie längere Ferien und kürzere Arbeitszeiten bieten. Annehmlichkeiten wie diese waren das Futter für die politische Legitimität der Nachkriegszeit. 

Sie haben die zentrale Rolle der Energie- und Finanzwirtschaft erwähnt. Ironischerweise kam diesen in den wachstumsstarken Jahrzehnten aber keine bedeutend Rolle zu? 

Energiemärkte spielten vor 1973 keine Rolle, da Öl und Gas in der kapitalistischen Welt billig und übermäßig vorhanden waren. In der Sowjetunion war Energie bis Anfang der 1970er Jahre nicht im Überfluss vorhanden, aber eben auch nicht teuer. Deswegen spielte Energie auch in der sozialistischen Welt keine bedeutende Rolle. Das änderte sich mit der Ölkrise plötzlich. Schlagartig wurde den Regierungen bewusst, wie abhängig sie von diesem Rohstoff waren. Was die Finanzmärkte anbelangt, so blieben die westlichen Währungen bis zum Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems im Jahr 1971 an feste Wechselkurse gebunden. Darüber hinaus blieb auch die Kapitalmobilität aufgrund diverser Regulierungen weltweit beschränkt. Die globalen Finanzmärkte, die in den 1970er und 1980er Jahren eine so wichtige Rolle spielen sollten – die so genannten Euromärkte – existierten erst in den 1950er Jahren und blieben danach auch relativ unbedeutend. Der Ostblock nahm am Bretton-Woods-System wiederum nicht teil, die sowjetischen Mitgliedsstaaten hatten ohnehin auch eine viel stärkere Kontrolle über Handel und Finanzen als ihre westlichen Konkurrenten.

1973, als die erste Ölkrise ausbrach, hatte sich das Wirtschaftswachstum im Westen aber auch im Osten bereits verlangsamt. 

Richtig. Entgegen zuversichtlichen Prognosen in der kapitalistischen und kommunistischen Welt stagnierte das Wirtschaftswachstum in beiden Systemen erheblich. Die Ursachen für die Stagnation waren vielfältig. Das starke Wirtschaftswachstum, das mit dem Wiederaufbau nach dem Krieg einherging, war erschöpft, sodass die Produktivität auf eine Weise zurückging, von der sich viele Länder bis heute nicht erholt haben. Gewöhnlich konzentrieren Historiker sich auf die Stagnation im Ostblock, allerdings stagnierte das Wachstum im Westen genauso stark. Viele befürchteten deshalb in den 1970er Jahren, dass der kommunistische Osten den Westen überholen könnte. Erst in den 1980er Jahren, nachdem die Inflation zurückgegangen war und sich das Wachstum in den kapitalistischen Staaten leicht erholt hatte, kehrte der westliche Glaube an die natürliche Überlegenheit des Kapitalismus zurück.

Weil das energieintensive Wachstum in den frühen 1970er Jahren stagnierte, gerieten Regierungen zunehmend unter Druck. Dann kam noch eine Stagflation hinzu.

Die Ölkrise im Jahr 1973 war ein Schock. Seit der Great Depression hatte der kapitalistische Westen keine so schlimme Rezession mehr erlebt. 1975 stieg die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten auf einen Höchststand von 8,9 Prozent. Unter den Bedingungen, die seit 1945 geherrscht hatten, hätte ein solcher Abschwung das Problem der Inflation eigentlich im Keim erstickt. Doch der in die Höhe schießende Ölpreis erzeugte eine Verbraucherpreisinflation. So kam es zur Stagflation, was umso schockierender war, weil viele Ökonomen eine solche Situation gar nicht vorgesehen hatten. Nach der Phillips-Kurve standen Inflation und Arbeitslosigkeit in einem antagonistischen Verhältnis zueinander – je mehr das eine anstieg, desto mehr sank das andere. Die Ölpreiskrise hatte also eine Situation geschaffen, die die Phillips-Kurve für unmöglich erklärt hatte – hohe Arbeitslosigkeit und Inflation zur gleichen Zeit.

Die Stagflation stellte also die ganze politische Ökonomie der Nachkriegszeit auf den Kopf?

Absolut. Die schrecklichen Erfahrungen der Great Depression sowie der Abstieg Europas in den Faschismus, brachten Regierungen nach 1945 dazu, sich die Interessen der Arbeiterklasse zu eigen zu machen. Das Ergebnis dieser Interessenverschmelzung war das Ziel der Vollbeschäftigung: zur Aufgabe der Regierungen gehörte es dafür zu sorgen, dass jeder, der einen Arbeitsplatz wollte, auch einen bekam. Die Stagflation stellte dieses Ziel jedoch infrage. Wenn es eine grundlegende Aufgabe der Regierung war, etwas zum Schutz der Interessen der Arbeiterklasse zu tun, war nach 1973 nicht mehr klar, was das sein sollte. Die Stagflation schien zu sagen, dass die Regierungen und die von ihnen unterstützten Gewerkschaften bereits zu viel getan hatten. 

Im Westen begann man dem Wohlfahrtsstaat die Schuld zu geben. Sie zitieren die amerikanische Business Week, die im Oktober 1974 schrieb, dass die Stagflation durch »die weltweite Verpflichtung zu Vollbeschäftigung und maximaler Produktion« verursacht wurde.

Diese Ansicht wurde aber nicht nur von Wortführern aus der Wirtschaft vertreten. Selbst diejenigen, die mit den Interessen der Arbeitnehmer und des Wohlfahrtsstaates sympathisierten, wie der keynesianische Wirtschaftswissenschaftler Paul Samuelson, stimmten darin überein, dass die Regierungen zu viel getan hatten. Und genau das machte die Bekämpfung der Krise so schwierig. Die Legitimität der westlichen Regierungen hing von der Wiederherstellung des Wirtschaftswachstums ab, andererseits erforderte die Inflationsbekämpfung, dass man gegen die Interessen der Arbeiterklasse handelte. Das war ein Dilemma. Es bedeutete nämlich, dass jemand verlieren musste. Die Regierungen konnten kein Wachstum erzeugen ohne die Inflation zu bekämpfen.

Im gesamten Westen bestand die erste Reaktion trotzdem darin, die Arbeitnehmer vor der sich wandelnden Weltwirtschaft zu schützen.

Richtig. Zunächst wurden die Versprechen aus der Nachkriegszeit aufrechterhalten, obwohl ihre ökonomische Grundlage gerade zerbröckelte. Man befürchtete, dass sonst der soziale Frieden in Gefahr geraten könnte. Überall im Westen sorgten Regierungen und die von ihnen unterstützten Gewerkschaften dafür, dass der Lebensstandard der Arbeiterklasse geschützt wurde. In den Vereinigten Staaten lagen die Lohnerhöhungen für das Jahr 1974 über der Inflationsrate. In Westdeutschland brachte der historisch erste Streik im öffentlichen Dienst den Arbeitnehmern insgesamt eine Reallohnerhöhung von 3,4 Prozent. In Großbritannien führte eine schwierige Parlamentswahl im Februar 1974 zu einer schwachen Labour-Regierung, die den Industriearbeitern des Landes sofort eine Nominallohnerhöhung von 29 Prozent gewährte. In Italien, wo alle Gehälter durch ein System namens scala mobile an die Inflation gekoppelt waren, erhielten die Arbeitnehmer 1975 sogar eine 10-prozentige Reallohnerhöhung. Und in Japan, wo die Inflation 1974 erstaunliche 24 Prozent betrug, konnten die Arbeitnehmer den Anstieg mit einer 32-prozentigen Lohnerhöhung problemlos auffangen. 

Das Wachstum sank aber weiter. Hätten die Regierungen besser nicht auf die Gewerkschaften gehört?

Es war ein echtes Dilemma. Als monetäres Problem war die Inflation leicht zu verstehen – das Preisniveau stieg, weil es mehr Geld als Waren in einer Volkswirtschaft gab. Als soziales Problem war die Inflation aber ein Zeichen für einen ungelösten Verteilungskonflikt in der kapitalistischen Gesellschaft. Die Arbeitnehmer waren der Meinung, dass sie einen größeren Anteil bekommen sollten, und forderten daher Lohnerhöhungen. Das Kapital, das seine Gewinne nicht weiter schrumpfen sehen wollte, reagierte darauf mit Preiserhöhungen, und der Prozess setzte sich ohne Lösung fort, bis es immer mehr Geld als Waren gab. Man kann hieran sehen, dass Inflation mehr als nur ein monetäres Problem ist, sie ist auch ein soziales Problem. Denn sie tritt in Gesellschaften auf, in welchen konkurrierende soziale Gruppen miteinander um einen größeren Teil des Kuchens kämpfen müssen. In einer Stagflation kämpfen sie aber um mehr, als der Markt ihnen liefern kann.

Sie schreiben, dass die Staaten in diesem Moment anfingen nach alternativen Wachstumsquellen zu suchen. Sie wollten den schwierigen Übergang zu einer Welt mit hohen Energiepreisen abmildern. Dafür nutzten sie die Euromärkte. 

Weil man die alten politischen Versprechen aus der Nachkriegspolitik nicht einfach über Bord werfen konnte, mussten neue Quellen zu ihrer Finanzierung gefunden werden. Die Ölkrise führte dazu, dass etwa 2 Prozent des weltweiten Reichtums in die ölproduzierenden Länder flossen, und wenn das Leben im Westen so weitergehen sollte wie bisher, musste ein Weg gefunden werden, diese Mittel wieder in die westlichen Volkswirtschaften zurückfließen zu lassen. Die Euromärkte – die Vorläufer der unregulierten Finanzmärkte von heute – stellten eine Möglichkeit dafür dar, weil die ölproduzierenden Länder ihre ganzen Petrodollars irgendwo deponieren mussten. Mit dem Export von Rohöl verdienten die OPEC-Staaten mehr Geld, als sie effizient in ihre Wirtschaft investieren konnten. Deshalb legten sie den Großteil ihrer Einnahmen auf den internationalen Finanzmärkten an, anstatt ihr Geld in eigene Währung umzutauschen. So floss ihr Geld aber zurück in den Westen und ein Recyclingprozess begann. Die Euromärkte wuchsen nach der Ölkrise enorm an. Und die westlichen Kreditgeber begannen immer mehr Geld zu verleihen. Zumeist an ölverbrauchende Staaten, die immer dringender Öl brauchten. Das waren vor allem die Ostblockstaaten. 

Blicken wir einmal in den Osten. Vor der Ölpreiskrise entdeckten die Sowjets auf ihrem Territorium eines der weltweit größten Ölfelder. Bald sollte dieser Fund auch die Kassen des Kremls füllen. Warum konnte die Sowjetunion keinen Vorteil aus den Öl- und Erdgasexporten auf dem Weltmarkt ziehen?

Tatsächlich bedeutete dieser Fund erstmal einen großen Gewinn für die Sowjetunion. Gleichzeitig hatte die Sowjetunion sich aber auch verpflichtet die Ostblockstaaten mit Energie zu versorgen – und zwar zu fixen Preisen. Als sich der Ölpreis auf dem Weltmarkt dann vervierfachte, wurde diese Verpflichtung zu einer großen ökonomischen Bürde für die Sowjetunion. Über Nacht waren die Energielieferungen nämlich zu Subventionsleistungen geworden. Über die 1970er Jahre hatte die Sowjetunion deshalb versucht, die Ostblockstaaten immer mehr von den Energiesubventionen zu entwöhnen. Während dieser Zeit begannen die Regierungen im Ostblock sich den westlichen Finanzmärkten zuzuwenden. Sie wollten vermeiden, im eigenen Land Sparmaßnahmen umzusetzen. Solche Maßnahmen hätten unweigerlich höhere Verbraucherpreise zur Folge gehabt. Davor schreckten die Regierungen aber zurück, weil höhere Preise auch eine Verringerung des damaligen Lebensstandards bedeutet hätte. Im Grunde schreckten die Regierungen also davor zurück, alte politische Versprechen zu brechen.

Weil die Staaten des Ostblocks – Polen, Ungarn, die DDR – keine politischen Versprechen brechen wollten, zugleich aber auf Energie angewiesen waren, begannen sie sich von westlichen Kreditgebern abhängig zu machen?

Auch im Ostblock zwangen die steigenden Energiekosten die Regierungen in ein Dilemma: entweder sie begannen ihre Bevölkerungen ökonomisch zu disziplinieren, oder sie begannen Schulden im Westen anzuhäufen. Noch in den späten 1970er war es möglich, sich in dringenden Fällen an Moskau zu wenden, wenn man mehr Energie benötigte. Als der Energieüberschuss oder die Fähigkeit der Sowjetunion erschöpft war, die zusätzlichen Kosten ihrer Satellitenstaaten zu decken, blieb den Regierungen im Ostblock aber keine andere Wahl, als sich an westliche Kreditgeber zu wenden. Diese waren in den 1970er Jahren auch ganz erpicht darauf, den Ostblockstaaten Geld zu geben. Dabei war es völlig egal, dass es sich um kommunistische Staaten handelte. Es ging einzig und allein um das Geschäft. In diesem Moment begannen nicht-staatliche Akteure eine wichtige Rolle im Kalten Krieg zu spielen. Man könnte auch sagen, dass in diesem Moment die nebulöse, aber entscheidende Meinung des »Marktes« wichtig wurde. Immerhin konnte sie jetzt das Schicksal ganzer Nationen beeinflussen. Das wiederum veränderte auch den geopolitischen Konflikt. Die Sowjetunion und ihre westlichen Gegner lieferten sich einen leisen Kampf um die Kontrolle in Osteuropa – über die Energie- und Finanzmärkte. Die Sowjets, indem sie ihren Satelliten günstiges Erdöl- und Erdgas lieferten, und der Westen, indem er den Staaten des Ostblocks immer mehr Zugang zu westlichen Finanzmärkten gewährte. 

Der sowjetische Machteinfluss ging dann in den 1980er Jahren zurück, weil die Sowjetunion weniger Energie lieferte, der Einfluss des Westens nahm jedoch zu, weil er den Ostblockstaaten immer mehr Zugang zu Krediten gewährte.

Anfang der 1980er Jahre kam die sowjetische Führung zu dem Schluss, dass es zu teuer geworden war, die Ostblockstaaten mit günstigeren Energie- und Rohstofflieferungen zu subventionieren. Das leitete einen enormen Wandel ein. Seit der Ölkrise 1973 versuchte die Sowjetunion die Ostblockstaaten vor dem ökonomischen Druck steigender Weltmarktpreise abzuschirmen. Damit wollte die kommunistische Führung vermeiden, dass ökonomische Disziplin in den Ostblockstaaten umgesetzt werden musste. Nun war die Sowjetunion aber nicht mehr in der Lage dazu, was die Ostblockstaaten umso abhängiger von westlichen Krediten machte. Die Abhängigkeit von westlichen Krediten erhöhte die Staatschulden in den Ostblockstaaten jedoch massiv. Insgesamt schuldete der Ostblock westlichen Kreditgebern 90 Milliarden US-Dollar als die Berliner Mauer fiel. Er war so gut wie pleite. Man könnte auch sagen, dass er in eine Schuldenfalle der kapitalistischen Welt getappt war.

Und so begann sich das Kräfteverhältnis im Kalten Krieg zu verschieben? 

Zwischen 1979 und 1985 veränderte sich das Kräfteverhältnis erheblich. Ich habe diese Phase in meinem Buch »kapitalistische Perestroika« genannt. Das ist kein sarkastischer Begriff, da »Perestroika« in der Sowjetunion ursprünglich benutzt wurde, um Umstrukturierungen in westlichen Staaten zu beschreiben. Die »kapitalistische Perestroika« begann 1979, als die Vereinigten Staaten begannen ökonomische Disziplin im eigenen Land durchzusetzen. Der Vorsitzende der Federal Reserve, Paul Volcker, hob 1979 schockartig die Zinsen an und löste damit den berüchtigten Volcker-Schock aus. 1981, kurz nachdem Reagan die Präsidentschaftswahl gewann, hob er die Zinsen noch ein zweites Mal an. Damit löste er eine der schlimmsten Rezessionen in der Geschichte der USA aus. Als die Arbeitslosigkeit in den USA massiv anstieg, ließ Reagan das aber geschehen. Anders als nach 1973 griff die US-Regierung nicht ein, um die Arbeiter vor den negativen Folgen der Rezession zu schützen. Vielmehr schien Reagan die negativen Effekte sogar noch zu verstärken. Er setzte Steuersenkungen durch und ging gegen die Gewerkschaften vor. Somit wurden die politischen Versprechen aus der Nachkriegszeit – etwa das Ziel der Vollbeschäftigung – endgültig gebrochen. Zugleich stellte Reagan auch das Vertrauen des internationalen Kapitals in die USA wieder her. Nicht nur setzte er ökonomische Disziplin durch, er deregulierte auch die Finanzmärkte. Das zeigte, dass die USA die Interessen des Kapitals gegenüber den Arbeitnehmerinteressen schützen würden. Im Gegenzug belohnte das Kapital Reagan mit einer Flut von Kapitalzuflüssen.

Das stellte die herausragende Stellung der Vereinigten Staaten im internationalen System wieder her? 

Richtig. Und genau in diesem Moment kippte der Wettlauf um politische Versprechen in einen Wettlauf, die alten politischen Versprechen zu brechen. Als westliche Kreditgeber in den 1980er Jahren das Vertrauen in die Ostblockstaaten verloren, hatten die Regierungen im Ostblock keine andere Wahl mehr, als ökonomische Disziplin durchzusetzen. In Polen begann die Regierung 1980 damit Sparmaßnahmen umzusetzen, was unweigerlich zu Preiserhöhungen führte. Gegen diese Politik formierte sich Widerstand in der Bevölkerung – ganz wie von der kommunistischen Führung befürchtet. Aus der Streikwelle im Sommer 1980 ging die unabhängige Gewerkschaft Solidarność hervor. Diese ließ die Kommunistische Partei in Polen zerschlagen und rief sogar das Kriegsrecht dafür aus. Danach wurde der Kommunistischen Partei immer klarer, dass sie mit ihrer Politik den sozialen Frieden destabilisierte. In den späten 1980er Jahren versuchte sie deshalb ihre »neoliberale« Politik zu legitimieren, indem sie die Bevölkerung an dem politischen Entscheidungsprozess beteiligte. So begannen die Verhandlungsgespräche am Runden Tisch. 

In den 1980er Jahren versuchten Regierungen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, den Waren- und Kapitalverkehr zu liberalisieren, die Rolle des Staates bei der Herstellung sozialer Gerechtigkeit zu beschränken und ihren Bürgerinnen und Bürgern mehr Eigenverantwortung abzuverlangen. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, so könnte man also sagen, näherte man sich dem Neoliberalismus an?

Die verblüffende Ähnlichkeit zwischen den Aufgaben des Neoliberalismus und der sowjetischen Erneuerung – der Perestroika – ist für uns heute eine eher kontraintuitive Feststellung. Tatsächlich ist diese Feststellung aber schon eine historische. 1987 berichtete Michail Gorbatschow seinen Genossen im Politbüro von einem Treffen mit Margarete Thatcher. »Auch sie führen eine Perestroika durch«, erklärte er ihnen dort. Sie »handeln hart … auf kapitalistische Weise«, fuhr er fort. Und schließlich sagte er, »auch wir können nicht mehr davor zurückweichen«. Auch Mieczysław Rakowski in Polen oder Károly Grósz in Ungarn waren sich bewusst, dass ihre Herausforderungen sich nicht wesentlich von jenen in den westlichen Industriestaaten unterschieden. Und sogar Margarete Thatcher begann Parallelen zu sehen. Bei einem Treffen mit Gorbatschow im Jahr 1989 sagte sie dem Generalsekretär, dass sie die Größe seiner Herausforderungen nachempfinden könne, da sie in ihrem Land eine »eigene Perestroika« eingeleitet habe. Als Historiker war es erstaunlich für mich zu sehen, dass die politische Führung in Ost und West erkannte, dass sie gemeinsame politische Herausforderungen hatten und auch gemeinsame politische Ziele: nämlich die Durchsetzung ökonomischer Disziplin in der Hoffnung, dadurch das Wirtschaftswachstum im eigenen Land wieder anzukurbeln. 

Ökonomische Disziplin durchzusetzen war immer und überall ein schwieriger politischer Akt, schreiben Sie. Warum gelang es den westlichen Demokratien besser, als den autoritären Staaten im Osten?

Zunächst einmal waren die westlichen Demokratien anpassungsfähiger. Thatcher und Reagan wichen radikal von den politischen Grundprämissen der Nachkriegszeit ab. Auch wenn viele Menschen damit nicht einverstanden waren, akzeptierten sie diese Politik letztendlich doch. In einem Zwei- oder Mehrparteiensystem kann die Ideologie einer Regierung wechseln. Es kommt eben darauf an, welche Partei man an die Regierung wählt. Im Autoritarismus der staatssozialistischen Länder gab es die Möglichkeit einer ideologischen Anpassung nicht. Auch Gorbatschow versuchte, die Staatsideologie der Sowjetunion im Rahmen der Perestroika zu ändern, das führte in der sozialistischen Welt aber zu Instabilität und schließlich zum Zusammenbruch. Anders als den Regierungen im Westen, stand den sowjetischen Regierungen auch der Neoliberalismus nicht zur Verfügung. Der Kommunismus ergab einfach keinen Sinn, wenn man freie Märkte und ökonomische Disziplin damit rechtfertigen wollte. Wenn Parlamentswahlen den westlichen Regierungen also die politischen Institutionen gab, so lieferte der Neoliberalismus ihnen dafür die Ideologie. Mit dem harschen Individualismus und der Kritik an allen Formen staatlicher Intervention bot er den perfekten ideologischen Rahmen, um den Bruch alter politischer Versprechen zu rechtfertigen.

Kommen wir zum Schluss. Nach Ihrer Darstellung steht das Ende des Kalten Krieges nicht für die natürliche Überlegenheit des Kapitalismus, sondern für einen Triumph gebrochener Versprechen. Es war, so könnte man sagen, das Ergebnis einer Entwicklung, die mit politischen Herausforderungen nach den wirtschaftlichen Krisen in den 1970er Jahren begann? 

Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs war es nach den 1970er Jahren zur größten politischen Herausforderung geworden, ökonomische Disziplin durchzusetzen. Letztendlich gelang den kapitalistischen Staaten diese Herausforderung – dank der Demokratie und der neoliberalen Ideologie. In der Sowjetunion gelang das nicht. Als die kommunistische Führung in Polen versuchte, ihre Macht zu legitimieren, wurde ihr schnell klar, dass dieser Prozess – etwa bei den Verhandlungen am Runden Tisch – zu ihrer Entmachtung führen würde. Die polnische Führung entschied sich jedoch, dieses Ergebnis nicht gewaltsam zu verhindern. Ihr war klar, dass die politische Herausforderung ökonomische Disziplin durchzusetzen, weiterhin bestehen bleiben würde, egal wer an der Regierung war. Auch Moskau war bereit einen Machtverlust der Kommunistischen Partei zu akzeptieren – nicht nur in Polen, sondern auch in Ungarn oder der DDR. Die Kosten, um sie an der Macht zu halten, waren einfach zu hoch geworden. Ohnehin hätte man nur Zeit gewonnen, wie ich glaube. Schließlich waren die Ostblockstaaten am Rande des Staatsbankrotts. Damit war das sowjetische Imperium am Ende. Nicht aufgrund einer natürlichen Überlegenheit des Kapitalismus, sondern aufgrund der allgemeinen Abhängigkeit von Öl und der Unfähigkeit diese Abhängigkeit zu überwinden – etwa durch eine Transformation in eine weniger energieintensive Ökonomie. Letztendlich bewahrte der Zusammenbruch der Sowjetunion die Menschen aber nicht vor einer ökonomischen Disziplinierung. Im Gegenteil, die Demokratie machte den Weg für neoliberale Reformen in den ehemaligen Ostblockstaaten erst frei. Deshalb habe ich das Ende des Kalten Krieges einen Triumph gebrochener Versprechen genannt. 

Vielen Dank für das Gespräch!