
Für einen Neuen Politischen Realismus
Wir leben in einer Krise. Diesseits und jenseits des Atlantiks formieren sich die Gegner der Republik, bilden neue Allianzen und verkünden neue Ideologien. In dieser Situation brauchen wir mehr als Status-quo-Verteidigungen, defensive Ängstlichkeit und alte Labels. Wir brauchen einen Neuen Politischen Realismus: in der Analyse und in der Utopie. Darum geht es bei unserem neuen Projekt.
Der 20. Januar 2025 war grundstürzend. Seit diesem Tag seiner Amtseinführung als neuer und alter amerikanischer Präsident gehen Donald Trump und sein Team aus Desperados Stunde für Stunde ans Werk, die Weltordnung der letzten 80 Jahre aus den Angeln zu heben.
Die Zeit des globalen Friedens ist vorbei: Die Vertreter der Trump-Regierung treten auf der internationalen Bühne wie Mafia-Mobster auf – es wird erpresst und gedroht, Verbündeten und alten Systemgegner ohne Unterschied, mit Militäraktionen, Annektion, Wirtschaftskrieg. Um die transatlantische Wertegemeinschaft schert die neue US-Regierung sich nicht mehr; die demokratisch-republikanischen Europäer verachtet sie. Neue Freunde will sie finden: in den Autokraten und Diktatoren, die vor allem Donald Trump offen bewundert.
Nicht weniger brachial geht es innerhalb des US-amerikanischen Regierungsapparats zu. Trump hat nicht bloß, wie es bei einem Regierungswechsel in den USA bislang üblich war, loyale Parteigänger auf wichtige Posten gesetzt. Er hat außerdem dafür gesorgt, dass seine Ernennungen das etablierte politische System möglichst tiefgreifend erschüttern:
Die Chefin der Geheimdienste betreibt offen prorussische Politik, der neue Direktor des FBI kündigt politische Säuberungen seiner Behörde an, der Verteidigungsminister ist ein christlicher Extremist und mutmaßlicher Vergewaltiger in Personalunion, der länger bei FOX-News als beim Militär beschäftigt war. Mit Elon Musks DOGE-Abteilung hat die Trump-Regierung zudem eine Art Neben-Exekutive etabliert, die eigentlich vom Kongress gehaltene Kompetenzen für sich beansprucht.
Die Reaktion Europas auf die zu gleichen Teilen erratisch, aggressiv und inkompetent um sich schlagende Trump-Regierung fällt bislang erstaunlich ignorant aus. Medien und Politik gehen mit dem Trump-Zirkus um, wie in der ersten Amtszeit: Man begutachtet mit Grusel bis Ekel die blondiert-unterspritzten Skurrilitäten dieses neuen politischen Personals, behandelt die Beteiligten aber ansonsten wie legitime Amtsinhaber, von denen man erwartet, dass sie auf der Arbeitsebene jenseits der Bühne schon vernünftig sein werden.
Tag für Tag wird dieser geruhsame Vertrauensvorschuss mehr zur unverantwortlichen Leichtfertigkeit. Die USA sind auf dem Weg in eine autoritäre Regierungsform: Die offene Erpressung von Kongressmitgliedern und ihre de facto Entmachtung durch Musk und DOGE entspricht einem Exekutiv-Coup. Der Supreme Court ist mehrheitlich pro-Trump eingestellt. Damit sind alle drei Gewalten in Trumps Hand. Und es scheint: Dieser Coup war vorbereitet. Der heutige Vize-Präsidenten Vance formulierte in einem rechten Podcast von 2021 eine Blaupause für die gegenwärtigen Geschehnisse: Erst stiftet man Chaos und entlässt alle, die nicht loyal zum neuen System stehen; damit gibt man dem Supreme Court, den man kontrolliert, die Gelegenheit, die eigenen Durchgriffe zu legitimieren – so skizziert es Vance hier. Die USA der Gegenwart sind für ihn kein Rechtsstaat mehr und auch keine Republik. Er vergleicht sie mit der späten römischen Republik, die nur noch durch einen Caesar gerettet werden konnte.
Wir untersuchen die Krise der Republik
Ist Trump also ein amerikanischer Caesar? Schon die Frage scheint absurd – noch vor einem Jahr waren die USA ein republikanisch-demokratischer Bundesstaat, dessen Entwurf Vorbild für nahezu alle modernen europäischen Staaten wurde. Wie konnte es so weit kommen? Sind Donald Trump oder J. D. Vance, wie die immer noch virulente Einordnung vor allem deutscher Medien lautet, »rechtsextrem«, gar »Faschisten«? Oder handelt es sich einfach um die US-amerikanische Version extrem libertärer Politik, wie in Argentinien unter Javier Milei? Oder sind Trump & Co. einfach nur liberale Geschäftsmänner, die eben verstanden haben, dass Klappern zum Geschäft gehört?
In unserer neuen Rubrik »Krise der Republik« gehen wir diesen und anderen Fragen in unterschiedliche Richtungen und aus unterschiedlichen Perspektiven nach:
Wir untersuchen die Ideologien und politischen Konzepte, die hinter den Vorgängen in den USA stehen. Dabei geraten vor allem die Netzwerke und Einflüsterer in den Fokus, die der neuen Trump-Administration zur Macht verholfen und ihnen ihre Narrative gegeben haben: der Tech-Milliardär Peter Thiel, der den politischen Aufstieg von J. D. Vance mit beispiellosen Summen unterstützt hat, der Blogger Curtis Yarvin, dessen neoreaktionäre Ideen Thiel und Vance gleichermaßen als ihre Einflüsse zitiert haben, oder der postliberale Vordenker Patrick Deneen.
Wir sehen uns die geschichtstheologischen und geschichtsphilosophischen Narrative genauer an, die in »postliberalen« Foren neue Entwürfe einer alten Gesellschaftsordnung für die Zukunft diskutieren. Wir fragen uns auch, ob christliche und libertäre Reaktionäre tatsächlich in jeder Hinsicht so gut zusammenpassen. Die gerade erst anlaufende politische Revolution in den USA vereint unterschiedliche Strömungen, vermittelt aber nicht ihre Widersprüche untereinander. Die MAGA-Wars zwischen der populistischen und der progressiven MAGA-Front – plakativ repräsentiert von Steve Bannon und Elon Musk – offenbaren tiefe Risse in der ideologischen Struktur der neuen autoritären Bewegungen.
Neben solchen Tiefenbohrungen zum ideologischen Hintergrund der Geschehnisse in den USA werden wir uns auch noch einmal die Grundlagen unseres modernen Staatswesens vor Augen führen: Die »Säulen der Republik«. Muss heute die Demokratie verteidigt werden oder doch nicht eher der Republikanismus? Wann bedeutet mehr Freiheit tatsächlich weniger Freiheit und um wessen Freiheiten handelt es sich? Ergänzen sich Verfassung und Markt oder stehen sie im Widerspruch zueinander?
Für einen Neuen Politischen Realismus
Mit der Erinnerung an das, was eigentlich »politische Bildung« heißt, wollen wir noch einmal unterstreichen, dass die aktuellen Ereignisse in den USA und auch in Europa eine grundsätzliche Systemfrage stellen: Verteidigen wir weiterhin die republikanische Demokratie als am wenigsten schlechte Option? Oder entscheiden wir uns für autoritäre Staatsformen, für eine autoritäre Demokratie, einen autoritären Liberalismus, eine autoritäre Oligarchie?
Die ideologischen Bewegungen hinter Trump & Co. zeigen eines ganz deutlich: Sie sind in der Lage, mächtige Narrative zu schaffen, die sich zunehmend als politische Alternativen durchsetzen können. In diesem Sinne möchten wir in unserer Rubrik »Quintessenz« selbst Narrative schaffen, die den großspurigen Behauptungen alternativer Fakten und Geschichtsschreibung informierte Perspektiven und neue Ideen für eine wahrhaft freiheitliche Politik entgegensetzen. Wir sehen klar die Schwäche der linken, liberalen und konservativen Politik und ihre Unfähigkeit, gegenüber den neuen mächtigen populistischen Erzählungen eine eigene Stimme zu finden.
Diese Unfähigkeit hat auch damit zu tun, dass die Kategorien »rechts« und »links« sich als Beschreibungskategorien entwertet haben – sie wurden allzu ausgiebig in den letzten Jahren benutzt, um Feinde zu markieren oder aus dem Diskurs auszuschließen. Man hat sich darauf ausgeruht, das ›Ende der Geschichte‹ zu verkörpern, aufgehört, für ein substantiell besseres Leben zu streiten und sich, trotz zunehmender Krisentendenzen, mit Mängelverwaltung und Status-quo-Verteidigung begnügt. In unseren Texten bringt sich eine andere Haltung zum Ausdruck: die Haltung eines Neuen Politischen Realismus. Die politische Utopie, die das Ende der Geschichte fordert, provoziert einen Gegner, der ihr Einhalt gebietet.