
Die Spätphase der amerikanischen Republik
Die Trump-Regierung rechtfertigt ihren Exekutiv-Coup mit allerhand historischen Analogien. Oliver Weber nimmt die Rom-Rezeption von Trumps Stichwortgebern in den Blick. Sie verrät einen grundlegenden Wandel im US-amerikanischen Selbstverständnis.
Wer durch Washington D.C. fährt, erblickt überall gebaute Erinnerungen daran, dass die amerikanische Republik ein historisches Experiment darstellt. Im Herzen der Stadt berät und beschließt der Kongress in einer klassizistischen Rotunde, die man Kapitol getauft hat – benannt nach einem der sieben Hügel Roms. Im Ostflügel sitzt der amerikanische Senat, das die Bundesstaaten vertretende Oberhaus, unter dem Namenspatronat des wichtigsten römischen Regierungsorgans. Auf seinem Siegel – »E pluribus unum« – ist jenes Bündel hölzerner Ruten zu sehen, die die Amtsdiener den römischen Konsuln vorantrugen, um ihre Amtsgewalt zu symbolisieren. Verweise und Anspielungen auf die römische Republik sind der US-amerikanischen Staatlichkeit überall eingeschrieben – an Monumenten, Symbolen, im Verfassungstext. Sie alle erinnern an eine Frage von historischem Rang: Kann ein freies Volk sich dauerhaft selbst regieren?
Die amerikanischen Gründerväter sahen in dieser Frage einen Auftrag: Die Vereinigten Staaten sollten den Beweis antreten, dass nicht Tyrannei und Knechtschaft die politische Bestimmung des Menschengeschlechts darstellen, sondern dass sich vielmehr mit Vernunft und Erfahrung eine große Republik gründen lässt, die dem Ehrgeiz, der Kriegssucht und dem Machthunger der ›Massen‹ einerseits und ›großer Einzelner‹ andererseits dauerhaft widerstehen kann. Ein zweites, besseres Rom also. Die Anhänger der Despotie, heißt es etwa bei Alexander Hamilton im 9. Artikel der Federalist Papers, hätten aus dem »Schwanken zwischen den Extremen Tyrannei und Anarchie«, das für viele griechische und italienische Republiken typisch war, den Schluss gezogen, »freies Regieren sei überhaupt unvereinbar mit jeder gesellschaftlichen Ordnung«. Doch »Amerika, das ist meine feste Überzeugung, wird das tragfähige und solide Fundament anderer, nicht weniger prächtiger Gebäude sein: die dauerhaften Monumente ihres Irrtums«.
Für lange Zeit waren die USA der lebende Beweis für Hamiltons Überzeugung. Heute aber, ein Jahr vor der bereits angesetzten 250-Jahr-Feier der amerikanischen Republik, muss die Gründungsfrage der Vereinigten Staaten wieder als offen betrachtet werden. Die zweite Präsidentschaft Donald Trumps ist dabei, die gesamte Exekutive mit Loyalisten zu besetzen; sie regiert mit einer Unzahl von Dekreten und verunglimpft widerspenstige Richter; der Kongress, eigentlich das die Präsidentenmacht ausgleichende Organ, übt sich in freiwilligem Machtverzicht. Unterdessen denkt der Präsident laut darüber nach, eine verfassungsmäßig ausgeschlossene dritte Amtszeit anzustreben. »He who saves his Country does not violate any Law«, so lautet das apokryphe Napoleon-Zitat, das als eine der vielen ungeheuerlichen Regierungsmaximen von oben direkt an das Volk ausgegeben wird.
Mit Rom die Krise denken
Nun beziehen sich auch die intellektuellen Wortführer der Trump-Präsidentschaft auf das römische Vorbild. Die alte amerikanische Rechte hatte immer schon ein Faible für entsprechende Referenzen: Das Claremont-Institute etwa hat seine Podcast-Serie nach dem legendären römischen Adligen Lucius Quinctius Cincinnatus benannt, der, vom Senat aufgefordert, die Stadt vor den aus dem Norden einfallenden Stämmen abzuwehren, das Amt des Diktators übernahm, den Feind abwehrte und ohne zu zögern die Macht wieder an das Volk zurückgab. Ein Vorbild in Sachen Bürgertugend und Tatkräftigkeit also, auch wenn im Angesicht der Gefahr vorübergehend auf die normalen Machtgleichgewichte im Institutionengefüge der Stadt verzichtet werden musste.

Oliver Weber
Es handelt sich hier um ein – auch bei den Gründervätern beliebtes – Vorbild aus der Frühzeit der Republik. Die Vertreter der MAGA-Bewegung, aber auch die sogenannten »Postliberalen«, beziehen sich demgegenüber mit Vorliebe auf das Römische Reich kurz vor seinem Untergang. Man vergleicht die Lage der Vereinigten Staaten mit jener des spätantiken Rom – meist in der Absicht, wie hier etwa Steve Bannon, den Niedergang männlicher Tugenden, Masseneinwanderung, Unglaube oder Machtverlust auf der Weltbühne anzuklagen. Die Motive von Untergang und Erneuerung stehen damit im Mittelpunkt der Rom-Rezeption. Die Gründerväter dagegen stellten primär auf die Langlebigkeit und Stabilität der römischen Republik ab.
Bemerkenswert ist jedoch, dass in den vergangenen Jahren immer wieder historische Vergleiche evoziert wurden, die in der Spätphase der römischen Republik angesiedelt sind. Nicht die heroische Gründung und Verteidigung der Stadt, nicht der Niedergang des weltweiten Imperiums, sondern die sich häufenden Verfassungskrisen und Bürgerkriegsepisoden im letzten Jahrhundert vor Christus werden ins Zentrum der historischen Betrachtung gerückt. Da wäre etwa Elon Musk, der den römischen Diktator Sulla zum persönlichen Helden erklärt hat. Der begabte Feldherr marschierte, was in der Geschichte der römischen Republik bis zu diesem Zeitpunkt undenkbar gewesen war, zweimal mit seinen Legionen in Rom ein, und ließ sich, ebenfalls eine Undenkbarkeit, ohne Amtszeitbegrenzung zum Diktator mit dem Auftrag der Regelung innerer Staatsangelegenheiten ernennen. Andeutungsvoll heißt es bei Musk, an der massenhaften Verfolgung und Ermordung der politischen Gegner Sullas hätte kein Weg vorbeigeführt. Und schließlich, ganz direkt: »Womöglich brauchen wir einfach einen modernen Sulla«.
Ein amerikanische Cäsar
Könnte man Sulla noch für einen Spleen Musks halten, so hat die Idee eines ‚roten Cäsars‘ in der Welt der amerikanischen Rechten deutlich größeren Zulauf. In seinem Buch »America at the Point of no Return« diskutiert etwa Michael Anton, der auch in der jetzigen Trump-Regierung einen hochrangigen Posten einnimmt, explizit die Möglichkeit einer cäsaristischen Figur, die Amerika vor dem Untergang bewahrt. Anton gehörte zu den frühsten Trump-Unterstützern innerhalb des radikalen intellektuellen Konservativismus. In einem lesenswerten Essay verglich er die Präsidentschaftswahl 2016 mit dem United-Airlines-Flug 93, der am 11. September 2001 von al-Qaida-Terroristen entführt wurde, aber aufgrund einer Passagierrevolte auf einem Feld abstürzte, statt in ein Gebäude zu fliegen. Amerika, so die Idee Antons, steuere sowieso auf eine Katstrophe zu – selbst wenn jemand Unfähiges das Cockpit übernehmen müsse, sei das immer noch besser, als weiter Kurs zu halten. Ein amerikanischer Cäsar könnte eine solche Figur sein. Eine Ein-Mann-Regierung also, so heißt es in seinem neuen Buch, angesiedelt »genau in der Mitte zwischen Monarchie und Tyrannei«, die – »legitimiert durch Notwendigkeit« – die Verantwortung für eine Ordnung übernimmt, die nicht mehr funktioniert.
Anton hält sowohl die Vorteile als auch die Wahrscheinlichkeit des Siegs eines ‚roten Cäsars‘ für gering. Zu klein sei die Macht der Konservativen, sich gegen alle Staatsorgane gleichzeitig durchzusetzen – und zu wenig vertrauenswürdig, wer auch immer in die Rolle des Diktators schlüpfen würde. Optimistischer ist da ein anderer bekannt gewordener MAGA-Einflüsterer dagegen, Curtis Yarvin. Er hat aus der Hoffnung auf einen neuen Cäsar ein eigenes Theorieprogramm geschaffen: »Es gibt historische Perioden, in denen wir den Übergang von der Demokratie zur Monarchie sehen, in denen die letzten Kräfte der Demokratie erkennen, dass es für die Masse des Volkes, um zu bekommen, was sie will, der beste Weg ist, sich hinter einer einzigen Person zu vereinen.« Gaius Julius Caesar ist für Yarvin eine solche Figur. Caesar beendete die ewigen Streitereien zwischen Senat und Popularpartei und setzte ein persönliches Regiment an deren Stelle.
Für die Gründerväter war die cäsarische Option geradezu ein Alptraum. Ihre gesamten Verfassungserörterungen sind von dem Versuch durchzogen, den Aufstieg eines amerikanischen Caesars zu verhindern. Gerade das Präsidentenamt als vom Volk mandatierte, eigenständige Gewalt stand in Gefahr, ein Einfallstor für Demagogie zu sein und die Republik dorthin zurückzuführen, woraus man sich mit der Abspaltung von England gerade befreit hatte. »Die Geschichte lehrt uns«, heißt es im 1. Artikel der Federalist Papers, »dass der größte Teil der Menschen, die der Freiheit von Republiken ein Ende bereitet haben, ihre Laufbahn damit begannen, opportunistisch um die Gunst des Volkes zu werben. Als Demagogen fingen sie an, als Tyrannen endeten sie«. Wahlmänner, eine starke Legislative und Judikative sowie das System der Bundesstaaten sollte sich dem in den Weg stellen.
Dass Forderungen nach einem Cäsar in den USA laut ausgesprochen werden und Widerhall finden, zeigt insofern einen bemerkenswerten Wandel in der amerikanischen Selbstbetrachtung. Wie es dazu kommen konnte, versteht man am ehesten, wenn man dem jetzigen Vizepräsidenten J. D. Vance zuhört. Denn einen Caesar zu vermeiden, ergibt nur solange Sinn, wie man noch glaubt, in einer Republik zu leben. Genau das bestreitet Vance aber. Im Sommer 2021 gab er in einem Podcast zu Protokoll: »Wir haben keine echte konstitutionelle Republik mehr«. Was es in Amerika stattdessen gebe, sei ein »administrative state«, womit eine eigenmächtige, quasi-regierende Bundesverwaltung gemeint ist. Auch hier ist der Rom-Bezug explizit: »Wir sind in einer spätrepublikanischen Phase, in der das Volk kaum noch Macht und die Oligarchie stattdessen alle Gewalt an sich gerissen hat. Es wird eine Menge sehr grundlegender Veränderungen brauchen, um dem Volk wieder an die Macht zu bringen«. Donald Trump symbolisiert für Vance eine solche Veränderung. Und insofern gilt: Wenn die Gegenseite die Gewaltenteilung und die Verfassung längst ausgehöhlt hat, dann sind auch alle präsidialen Rechtsbrüche nichts weiter als Gegenmaßnahmen.
Krise ohne Alternative
Bei all dem fällt auf – auch das ein Unterschied zu den Gründervätern –, wie wenig systematisch die Romvergleiche angelegt sind und auf welch dürftiger Grundlage die historischen Urteile gefällt werden. Meist sind sie nicht viel mehr als ein Mittel, die dem Zweck dienen, den politischen Gegner zu diskreditieren. Und dennoch sind sie äußerst lehrreich: Denn bei allen Unterschieden – ob man einen Cincinnatus, einen Sulla, einen Caesar, einen Augustus oder sonst einen Retter für das späte Imperium sucht – immer geht es darum, Dekadenz aufzuhalten, indem man sich gegen äußere, aber vor allem innere Feinde wehrt. Der Gegner wird dabei für so mächtig und die zur Verfügung stehende historische Zeit für so knapp erklärt, dass energisches Handeln unaufschiebbar erscheint. War für die Gründerväter die römische Republik Vorbild einer stabilen freistaatlichen Verfassung und zugleich mahnendes Beispiel cäsaristischen Gefahren, verdeutlicht die Romidentifikation den MAGA-Intellektuellen vor allem die Bereitschaft zum Verfassungsbruch, um einen – in ihren Augen – längst schwelenden Bürgerkrieg zu beenden.
Nun könnten Vergleiche zur römischen Republik durchaus erkenntnisbringend sein: Die Vereinigten Staaten befinden sich schon seit einigen Jahrzehnten in einer Periode, die interessante Parallelen zur Spätphase der römischen Republik aufweist. Nicht nur, dass hier wie dort eine Weltmacht, nach dem Untergang ihres mächtigsten Konkurrenten, ihre Kräfte nach innen richtete – auch die heutige Selbstblockade des Verfassungssystems unter dem Doppeldruck zweier verfeindeter Parteien erinnert an römische Zustände. Gleichzeitig schwelt im Hintergrund eine soziale Krise – dort Bauern, die zu Proletariern werden, weil sie ihr Land verloren haben, hier ganze Landstriche, deren Industrien verschwunden sind, während das Finanzkapital sich an den Küsten sammelt –, für die aber weder die Popularpartei noch die Senatspartei wirklich Abhilfe wissen, ohne dabei noch mehr Verfassungskrisen hervorzubringen.
»Krise ohne Alternative« hat der Althistoriker Christian Meier diesen Zwischenzustand bezeichnet, bei dem zwar die Dysfunktionalitäten zunahmen, aber keine reformerische Kraft hervorbrach. Es fand eine Unzahl von Störungen statt, die die Lebensfähigkeit der Republik schmälerten, aber bis zum Ende der vielen Bürgerkriege gab es niemanden, der diesen Zustand beheben konnte. Es kam zu einer »sehr eigenartigen Diskrepanz zwischen Kontroversität (dem relativ geringen Umfang des Strittigen) und Mutabilität (dem großen Umfang des Sich-Wandelnden)« – alle Parteien spürten die Krise, aber sie bekamen sie nicht in den Griff, ja noch nicht mal in den Blick; jeder sah in der energischen Durchsetzung seiner persönlichen Sache die Rettung und erkannte in der Verkommenheit der anderen die Ursache aller Probleme.
Unter dieses Verdikt von Meier dürften auch die MAGA-Intellektuellen fallen. Man kämpft hier gegen eine wahrgenommene Dekadenz an, die mal religiös, mal geschlechtlich, mal ökonomisch, mal familiär, mal sozial, mal kulturell, mal moralisch, mal ethnisch beschrieben wird, wähnt sich als Cincinnatus, Sulla, Caesar oder Augustus, kämpft gegen den ›deep state‹, den Liberalismus, die Demokraten, China, die Globalisten, das Finanzkapital, den Sozialstaat, gegen das Böse, gegen den Islam und gegen den Atheismus, mobilisiert die alten Migranten gegen die neuen Migranten, wettert gegen den Kommunismus ebenso wie gegen den Kapitalismus, verflucht die Moderne und will sie doch retten, kämpft im Namen der Verfassung gegen die Verfassung und hält Reden für den Westen in Washington, aber Reden gegen den Westen in München. Man weiß nicht, was genau, warum genau schiefläuft, man weiß nur, dass etwas schiefläuft und wer die Schuld dafür trägt. An diesen Paradoxien ging auch das römische Vorbild zugrunde. Nicht ausgeschlossen, dass die Vereinigten Staaten längst denselben Weg eingeschlagen haben.