Gegenprogramm zu Milei und Musk  

Heizungsgesetz, ineffektive Energiepreisbremse und verpasste Investitionen: Tom Krebs erklärt in »Fehldiagnose«, warum die Wirtschaftspolitik der Ampelregierung scheitern musste. Seine Abrechnung mit der marktliberalen Ökonomie und ihrem Einfluss auf die Politik ist für all jene interessant, die auf grünes Wachstum setzen.

Hannah Arendt wusste, dass man die Zukunft nicht vorhersagen kann. Aber sie glaubte auch: Wer mit einem scharfen Blick auf die Gegenwart schaut, der kann sehen, was sich in ihr als Blaupause abzeichnet. Diese Fähigkeit beweist der Makroökonom Tom Krebs in seinem neuen Buch »Fehldiagnose«. Dieses erschien bereits einen Monat vor dem offiziellen Bruch der Ampelkoalition und beschäftigt sich mit den Ursachen des politischen Fiaskos, in dem die »Fortschrittskoalition« endete. Ihr Scheitern versteht Krebs als das Resultat einer Politik, die zu sehr auf jene einflussreichen Ökonomen gehört hat, die effiziente Märkte als Schlüssel für nahezu jedes wirtschaftliche Problem sehen. 

Den Theorieansatz dieser Ökonomen, der zugleich eine politische Agenda bestimmt, nennt Krebs »Marktliberalismus«. Er ist in seinen Augen eine subtilere, aber letztlich neoliberale Agenda. Marktliberale Ökonomen beschwören die Effizienz der Märkte und modellieren Gesellschaften als Ansammlungen von individuellen Präferenzen und Unternehmen, die unabhängig von gesellschaftlichen Machtstrukturen auf Märkten agieren. Krebs hebt hervor, dass diese Art der Modellierung vor allem den Interessen der Kapitalseite dient: Statt Mindestlöhnen, einer Stärkung der Gewerkschaften, Energiepreisbremsen oder Steuererhöhungen, fordern markliberale Ökonomen niedrigere Renten, längere Arbeitszeiten oder »mehr Bock auf Arbeit«. Es sind diese Ökonomen, die an den Universitäten, an staatlich geförderten Wirtschaftsinstituten, in Ministerien und in beratenden Kommissionen den Ton angeben. Mit seinem Buch tritt Krebs als Dissident dieser Zunft auf.

Verlust des Lebensstandards 

So widerspricht Krebs der marktliberalen Erzählung vom »alten Mann in Europa«, nach der die Alterung der deutschen Gesellschaft sowie fehlender Leistungswille die ausschlaggebenden Ursachen für die aktuelle Rezession seien. Stattdessen hält er die aktuelle Wirtschaftslage für ein Resultat der Corona- und Energiekrise. Bis 2019 habe es noch keine Anzeichen für eine anhaltende Wachstumsschwäche gegeben. Diese sei viel zu sprunghaft eingetreten, um eine Folge der alternden Gesellschaft zu sein. Stattdessen hätten marktliberale Ökonomen die Energiekrise im Frühjahr 2023 viel zu früh für beendet erklärt, weil sie sich auf das BIP fokussierten. Das war eine Fehldiagnose, die an der Lebensrealität vieler Menschen vorbeiginge, argumentiert Krebs. Durch die Folgen des russischen Angriffskriegs hätte der Lebensstandard vieler Menschen sich nämlich signifikant verringert. Ende 2023 lagen die Reallöhne rund 10 Prozent unter dem Vorkrisentrend, weil Löhne und Gehälter nicht in demselben Maße wie die Inflation angestiegen sind. Das Ausmaß dieses Verlusts ist beachtlich: Laut Krebs stellt er den größten Rückgang des Lebensstandards für Beschäftigte in der deutschen Nachkriegsgeschichte dar – abgesehen von den Erfahrungen in ostdeutschen Ländern nach der Wiedervereinigung. 

Helena Schäfer

Helena Schäfer hat Philosophie und Volkswirtschaftslehre in Bayreuth studiert und ihren Master in Politischer Theorie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main abgeschlossen. Im Herbst 2022 war sie für ein Auslandssemester als Stipendiatin an der New School for Social Research in New York. Sie arbeitet als freie Journalistin, u.a. für das Philosophie Magazin und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Preisbremse ohne Effekt 

Während ihrer Regierungszeit hat die Ampelregierung die Einschätzungen der marktliberalen Ökonomen aber erst im Laufe ihrer Regierungszeit zur Basis politischer Entscheidungen gemacht, analysiert Krebs. In der Anfangsphase der Energiekrise gelang es der Bundesregierung entgegen ökonomischer Empfehlungen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schaden durch direkte Markteingriffe und Entlastungspakete abzuwenden. In den späteren Monaten der Krise sei die Ampelregierung dann aber immer mehr den Ratschlägen der Wirtschaftsexperten gefolgt.

Zum einen habe dies dazu geführt, dass eine ineffektive Preisbremse eingeführt wurde. So verkündete die Bundesregierung im September 2022 die Einführung einer Energiepreisbremse, mit deren Gestaltung sie eine Expertenkommission aus überwiegend marktliberalen Ökonomen beauftragte. Aus marktliberaler Sicht sind Preiskontrollen allerdings abzulehnen, weil sie einen Eingriff in das Marktgeschehen darstellen. Laut Krebs stärkte der Kommissionsvorschlag am Ende weder die industrielle Produktion noch entfaltete sie einen nennenswerten preisdämpfenden Effekt für private Haushalte.  

Zum anderen hätten marktliberale Ökonomen eine an die Inflation angepasste Erhöhung des Mindestlohns verhindert. Im Wahlkampf haben SPD und Grüne einen Mindestlohn von 12 Euro versprochen. Gemessen an der Inflation und an der sozialen Realität hätte dieser laut Krebs aber 15 Euro im Jahr 2025 entsprechen müssen. Die Kommission – der Krebs als beratendes, aber nicht stimmberechtigtes Mitglied angehörte – empfahl allerdings nur eine Erhöhung auf 12,41 Euro im Januar 2024 und 12,82 Euro im Januar 2025. Nach marktliberaler Lehrbuchtheorie vernichtet der Mindestlohn angeblich Arbeitsplätze. Krebs weist dagegen auf empirische Untersuchungen hin, die zeigen, dass weder die Einführung des Mindestlohns 2015 noch die Erhöhung 2022 einen nennenswerten Effekt auf die Beschäftigung entfalten haben. 

Crashkurs Heizungsgesetz 

Krebs Buch liest sich wie ein Crashkurs über die Wirtschaftspolitik der Ampel. Besonders lehrreich ist seine Beurteilung der Klimapolitik inklusive Robert Habecks Heizungsgesetz. Krebs positioniert sich gegen das unter marktliberalen Ökonomen beliebte Instrument der CO2-Bepreisung. Er verweist darauf, dass hohe CO2-Preise das Leben für untere Einkommen teurer machen, da Geringverdiener sich oft nicht leisten könnten, ihr Verhalten schnell umzustellen. Alternativ solle Klimaschutz durch fördernde und nicht durch bestrafende oder vorschreibende Politik umgesetzt werden, argumentiert Krebs. Beispiele für eine fördernde Politik sind die Förderung privater Investitionen sowie der Ausbau der öffentlichen Energieinfrastruktur. Aus Krebs Sicht war das Problem mit dem Heizungsgesetz, dass es neben fördernden Elementen auch Vorschriften enthielt. Zum Beispiel, dass neue Heizungen zukünftig mit 65 Prozent erneuerbaren Energien betrieben werden müssen. Die Kommunikation des Bundeswirtschaftsministeriums sowie die Berichterstattung hätten Elemente der Förderung nicht konsequent in den Mittelpunkt gerückt. 

Neoliberale Politik mit rot-grünen Tupfern

Krebs erklärt den Erfolg und das Scheitern politischer Instrumente der Ampelregierung fundiert und anschaulich mit übersichtlichen Grafiken, die zum Teil auf eigenen Studien beruhen. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er als Makroökonom an der Universität Mannheim – einer Hochburg der neoklassischen VWL in Deutschland – nicht der Mehrheitsmeinung seiner Kollegen folgt. Insbesondere hat er einen Blick für die politischen Dimensionen ökonomischer Entscheidungen. So betont er nicht nur, dass Krisen Verteilungskonflikte verschärfen und dass der in der Nachkriegsgeschichte einmalige Verlust des Lebensstandards Ängste in der Bevölkerung verursacht. Er argumentiert ebenfalls, dass eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik Voraussetzung für den Kampf gegen rechte Politik ist und dass die Dominanz des Wirtschaftsliberalismus in Expertenkommissionen ein Versagen der demokratischen Institutionen darstellt. Aktuell beeinflussen Ökonomen politische Entscheidungen wie die Höhe des Mindestlohns oder die Ausgestaltung einer Energiepreisbremse ohne demokratische Legitimation. 

Auch wenn es seit den 1980er und 1990er Jahren normalisiert wurde, dass sich die Sozialdemokratie an neoliberalen Reformen beteiligt oder sie sogar eigenständig umsetzt, fragt Krebs zurecht, warum eine Mehrheit marktliberaler Ökonomen eine Regierung berät, die sich den Fortschritt auf die Fahne geschrieben hat. Natürlich ist diese Frage zum Teil damit zu erklären, dass die FDP den Finanzminister stellte. Die wichtigere Einsicht ist aber, dass der Wirtschaftsliberalismus politische Entscheidungen beeinflusst, unabhängig davon, welche (Zentrums-)Partei die Leitungsebene im Kanzleramt und den zuständigen Ministerien hat. Krebs‘ Analyse zeigt überzeugend, dass die Ampelregierung mindestens seit dem Frühjahr 2023 eine weitgehend neoliberale Politik »mit rot-grünen Tupfern« betrieb. Politiker im aktuellen Wahlkampf sollten sich seine Fragen zu Herzen nehmen:

(W)ie glaubwürdig kann eine sozialdemokratisch angeführte Bundesregierung sein, deren Arbeitsmarktpolitik im Wesentlichen von der FDP und ihren arbeitnehmerfeindlichen Ideen bestimmt wird? Und warum sollte jemand SPD wählen, um dann doch nur neoliberale Wirtschaftspolitik nach FDP-Geschmack vorgesetzt zu bekommen?

Marktliberalismus, Neoliberalismus, Neoklassik? 

Dass Krebs den Begriff Marktliberalismus benutzt, ist vermutlich damit zu erklären, dass er einer breiten Leserschaft zugänglicher ist als der Begriff Neoklassik. Es hat aber den Nachteil, dass die Einordnung der ökonomischen Theorie sowie der politischen Agenda unpräzise bleibt. Letztlich wird nicht deutlich, ob er vom klassischen Liberalismus spricht und worin die inhaltlichen Unterschiede zum Neoliberalismus bestehen, wenn es sie überhaupt gibt. Auch seine Verbesserungsvorschläge für die Theorie bleiben eher grob: Es entsteht der Eindruck, die Neoklassik könne weiterleben, solange sie mit den Einsichten von drei alternativen Schwergewichten angereichert wird: Zum einen mit der von John Maynard Keynes gewonnenen Einsicht, dass der Staat in Krisenzeiten in den Markt eingreifen muss, zweitens mit Karl Polanyis Hinweis, dass Anpassungskosten in Transformationsprozessen nicht unterschätzt werden dürfen, und drittens mit der marxistischen Einsicht, dass der Lohn immer eine Frage der Aushandlung ist, das heißt eine Machtfrage. Wie genau diese theoretischen Alternativen mit neoklassischen Modellen verwoben werden sollen, bleibt unklar. 

Auch stilistisch ist Krebs eher pragmatisch orientiert. Vermutlich zugunsten der Eingängigkeit greift er an einigen Stellen zu platter Rhetorik. So spricht Krebs durchweg von einer »Märchenwelt«, um die neoklassische Ökonomie zu diskreditieren. Er fordert: »Schluss mit der Märchenstunde marktliberaler Ökonomen!« Der Begriff »Märchen« fällt in verschiedenen Variationen mehr als 30 Mal auf rund 200 Seiten. Diese rhetorische Entscheidung ist schade, weil sie nicht zu seiner fundierten und sauberen Analyse passt. Zudem lässt sie die neoliberale Ökonomie als unvernünftige Täuschung erscheinen, was verkennt, dass sie aus Sicht der Kapitalseite durchaus rational ist. 

Mehr Biden und Harris wagen 

Insgesamt kann man das Buch als pragmatischen und anregenden Gegenentwurf zu Christian Lindners Aufruf, mehr Musk und Milei zu wagen, verstehen. Insbesondere die letzten Kapitel enthalten diskussionswürdige Vorschläge für Parteiprogramme der SPD und Grünen. Krebs vertritt die These, dass Deutschland seine Klimaziele bis 2035 erreichen und gleichzeitig kräftiges Wirtschaftswachstum erleben kann, wenn transformative Investitionsausgaben massiv ausgeweitet werden. Mit einem neuen Investitionspakt sowie einer Politik der fairen Löhne will Krebs Wirtschaftswachstum, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit unter einen Hut bringen. Seine Vorschläge umfassen Prämien für Unternehmensinvestition in klimafreundliche Produktionsanlagen, öffentliche Investitionen in den Ausbau der Stromtrassen für erneuerbare Energien, eine langfristige Strompreisbremse, eine Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro bis 2026 sowie eine Ausweitung der Tarifbindung. Dies könnte nach Vorbild der Biden-Harris-Regierung über ein Gesetz erreicht werden, das öffentliche Gelder für Unternehmen an die Lohnhöhe koppelt. Finanzieren will Krebs all diese Investitionen durch Kredite, die eine höhere Staatsverschuldung bedeuten würden. Krebs argumentiert, dass dennoch keine Wohlstandsverluste zu befürchten seien, weil durch den Investitionsbooster starke Wachstumsanreize entstehen würden. Er spricht sich auch dafür aus, die Vermögenssteuer zu reaktivieren und die großzügigen Ausnahmeregeln bei der Vererbung großer Vermögen zu ändern. 

So könnte sozialdemokratische oder grüne Politik in Deutschland aussehen, die auf die Vereinbarkeit von Wirtschaftswachstum und Klimaschutz setzt. Wenn Krebs wiederholt den Green New Deal und die »moderne« Industriepolitik der Biden-Harris-Regierung lobt, muss man angesichts der eindeutigen Wahl Donald Trumps allerdings Zweifel daran äußern, dass eine investitionsgetriebene Industriepolitik tatsächlich geeignet ist, um dem Rechtsruck entgegenzuwirken. Und darüber hinaus bleibt zu bezweifeln, ob sich mit grünem Wachstum langfristig eine nachhaltige und gerechte Gesellschaft verwirklichen lässt. Ist nicht auch das grüne Wachstum – eine stetig wachsende Wirtschaftsleistung auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen und erschöpften Menschen – auf lange Sicht ein Märchen?