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Geisterfahrt in fragilen Zeiten

Eine makroökonomisch unnötige Sparpolitik kann die Zweidrittelmehrheit der demokratischen Mitte aufs Spiel setzen, wie Max Krahé und Leo Mühlenweg in ihrem Beitrag warnen.

Letzte Woche hat der Haushaltsausschuss den Bundeshaushalt für 2024 verabschiedet. Die Kürzungen fallen zwar weniger drastisch aus, als zu Beginn des Jahres angenommen. Doch im Vergleich zu seinen internationalen Partnerländern ist Deutschland nach wie vor auf finanzpolitischer Geisterfahrt (Abbildung 1, links): Die USA investieren kräftig Infrastruktur, in Forschung und Entwicklung, in die Ansiedlung strategischer Industrien und — dank des Inflation Reduction Acts — endlich auch in Dekarbonisierung. 1 Diese Investitionen wurden im Rahmen des Infrastructure Investment and Jobs Act (November 2021), des CHIPS and Science Act (August 2022), und des Inflation Reduction Acts (ebenfalls August 2022) beschlossen. Für eine Einordnung der finanz- und wirtschaftspolitischen Wende, die diese drei Gesetze darstellen, siehe hier.  Frankreich verfolgt ein Defizit in stabiler Höhe, balanciert dabei Kürzungen bei Rente mit Investitionen in Bildung und Verteidigung. Auch in den G7-Staaten stehen die Zeichen auf stabilen Defiziten, mit sachter Konsolidierung in den kommenden Jahren. Trotz multipler Krisen verfolgt Deutschland hingegen eine Defizitreduktion, die weder makroökonomisch noch aus Gründen der Schuldentragfähigkeit nötig ist (Abbildung 1, rechts).  

Abbildung 1

Normalerweise würden wir an dieser Stelle die finanzpolitischen und makroökonomischen Konsequenzen einer solchen Finanzpolitik analysieren. Aber es sind keine normalen Zeiten. Das politische Spektrum fragmentiert sich, neue Parteien entstehen. Eine Protestwelle gegen Rechtsradikalismus brachte letztes Wochenende Hunderttausende auf die Straße. Und die Bauernproteste machten erneut deutlich, dass nicht nur das Vertrauen in die Regierung, sondern in Politik und Demokratie allgemein auf einem bedenklich niedrigen Niveau ist. Wir leben, wie Stefan Kolev es vor kurzem festhielt, in fragilen Zeiten. Anstatt auf das Ökonomische zu blicken, möchten wir in diesem Beitrag deshalb ein Schlaglicht auf die politischen Konsequenzen von Sparhaushalten werfen.

Sparen hat Risiken

Zunächst gilt: Finanzpolitik ist immer Risikoabwägung. Exzessive Defizite haben ihre Risiken, darunter Inflation, Währungskrisen und, je nach institutionellem Kontext, ein möglicher Zahlungsausfall. Genauso aber exzessives Sparen: Neben der Beschädigung der wirtschaftlichen Substanz, zum Beispiel durch den Verfall von Infrastruktur und dem Ausbleiben von Investitionen, gehören dazu insbesondere auch politische Risiken.

In einer kürzlich veröffentlichten Studie finden Ricardo Gabriel, Mathias Klein und Ana Sofia Pessoa 2 Gabriel et al. (2023) heraus, dass eine Reduktion der öffentlichen Ausgaben um ein Prozent 3 Ein Prozent der Ausgaben, nicht ein Prozent des BIPs. Für Deutschland wäre dies circa 19 Milliarden Euro.  zu einem Anstieg der Stimmanteile extremer Parteien um drei Prozentpunkte führt. Dabei spielen sowohl ein Rückgang der Wahlbeteiligung nicht-extremer Wähler:innen als auch ein Anstieg der absoluten Stimmen für extreme Parteien eine Rolle. Ein Teil dieses Effektes läuft über einen ökonomischen Wirkungskanal: Exzessives Sparen verursacht geringeres Wachstum, höhere Arbeitslosigkeit und niedrigeres Lohnwachstum. 4 Gabriel et al. 2023, S. 23-26 Die resultierende Unsicherheit und wahrgenommene Ungerechtigkeit — denn Löhne fallen in solchen Situationen durchschnittlich mehr als Profite — frustrieren Wähler:innen der Mitte und befeuern die Zustimmung für extreme Parteien. 

Max Krahé

Max Krahé ist politischer Theoretiker und Ökonom. Er forscht zu Ideengeschichte, Arbeitsteilung und der Beziehung zwischen Demokratie und Kapitalismus. Max ist Postdoc am Institut für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen sowie Mitgründer und Forschungsdirektor des Dezernats Zukunft, einem deutschen Think Tank für Makrofinanzen.

Doch die ökonomischen Effekte sind nicht alles: Rezessionen, die durch exzessives öffentliches Sparen ausgelöst werden, haben im Durchschnitt höhere politische Kosten als »normale« Rezessionen. Es gibt also einen zweiten Wirkungskanal: Wenn die Politik durch Einsparprogramme einen Abschwung hervorruft, folgt ein zusätzlicher Vertrauensverlust in das politische System. Dieser ist größer als bei einem ökonomisch ähnlich schweren Abschwung, der nicht durch Austerität ausgelöst wurde.

Das Spiegelbild zu Gabriel et al. findet sich in einer Studie von Giuseppe Albanese, Guglielmo Barone und Guido de Blasio.  5 Albanese et al. (2022) Sie betrachten die positiven Auswirkungen der Kohäsionspolitik in der Europäischen Union. Hierfür nutzen sie, dass es eine klare geographische Trennlinie zwischen förderfähigen und nicht förderfähigen Regionen gibt, wobei sich die Regionen rund um die Trennlinie ansonsten nicht systematisch unterscheiden. 6 Insbesondere zeigen sie, dass sich die Regionen nicht in Bezug auf viele andere Treiber unterscheiden, die oft als Ursachen für den Zuwachs von (rechts)extremen Parteien genannt werden, darunter Immigration, Import-Wettbewerb aus China, nationalstaatliche Austerität oder Automatisierung. Ihr Papier zeigt natürlich nicht, dass diese anderen potenziellen Treiber, die auf beiden Seiten ihrer Trennlinie präsent sind, keine Effekte haben; sie können aber für den von ihnen angestellten Vergleich ausgeschlossen werden, da sie die Regionen auf beiden Seiten der Trennlinie gleich berühren. Dadurch können sie den Effekt der EU-Förderung besonders gut isolieren.   Vergleicht man die Gemeinden knapp vor der Trennlinie mit denen knapp dahinter, kann man dadurch einen kausalen Effekt identifizieren: Eine zusätzliche Fördersumme von circa 1% des verfügbaren Einkommens reduzierte den Stimmanteil populistischer Parteien um 5 Prozentpunkte. Dieser Befund macht Mut, da der Kanal von Sparpolitik zu extremistischen Wahlergebnissen offenbar keine Einbahnstraße ist. Kluge Fiskalpolitik kann zu einer Reduktion von (Rechts-)Extremismus beitragen.

Zünglein an der Waage

Die genannten Effekte sind nicht unbedingt neu. Aber ihre Bedeutung ist heute eine andere. In stabilen Zeiten entscheiden drei Prozentpunkte vielleicht darüber, ob eine mitte-links oder eine mitte-rechts Regierung regiert. In unseren Zeiten sind die Konsequenzen gewichtiger. So zeigt Thiemo Fetzer, 7 2019 dass der Ausgang des Brexit-Referendums wahrscheinlich durch die exzessive Sparpolitik der konservativen britischen Regierungen der 2010er Jahre entschieden wurde. Durch einen Vergleich von Wahlergebnissen mit den lokal sehr unterschiedlich starken Sozialkürzungen ermittelt Fetzer, dass diese Sparmaßnahmen den Stimmanteil der UK Independence Party (UKIP) um 3,5 bis 11,9 Prozentpunkte gesteigert haben. In Kombination mit der geschätzten Korrelation zwischen UKIP- und pro-Brexit Stimmverhalten leitet Fetzer ab, dass die Sparmaßnahmen grob 6 bis 11 Prozentpunkte zum »Leave«-Ergebnis hinzugefügt haben. Bei einer Marge von vier Prozent – »Leave« gewann 52% zu 48% – war dies wahrscheinlich entscheidend.

Auch bei uns in Deutschland könnten die politischen Auswirkungen von kleinen Stimmverschiebungen signifikant sein. Nimmt man die Effektgröße aus der Studie von Gabriel et. al (2023), unterstellt illustrativ eine Kürzung der öffentlichen Ausgaben um 1 Prozent (circa 19 Milliarden Euro), 8 Die Ausgaben des deutschen Gesamtstaates betrugen knapp 1,4 Billionen Euro in den ersten drei Quartalen 2023 (Destatis 2024). Extrapoliert auf ein volles Jahr ergäbe dies Ausgaben von 1,9 Billionen Euro.  und betrachtet die aktuelle Umfrage von INSA, dann würde die FDP an der 5-Prozent-Hürde scheitern und die Parteien der Mitte würden ihre Zweidrittelmehrheit verlieren.

Abbildung 2

Leo Mühlenweg

Leo Mühlenweg ist Junior Analyst beim Dezernat Zukunft und studiert Statistik im Master in Berlin. Davor hat er Politik und Wirtschaft in Münster studiert und war Junior Economist bei FiscalFuture. Seine Interessen fokussieren sich auf den Einfluss von Fiskalregeln auf öffentliche Ausgaben und Investitionen sowie die europäischen Fiskalregeln.

Diese Rechnung dient rein der Illustration. Sie ist keine Projektion, geschweige denn eine Prognose. Dennoch löst sie bei uns die Sorge aus, dass eine makroökonomisch unnötige Sparpolitik die Zweidrittelmehrheit der demokratischen Mitte aufs Spiel setzen könnte. Sollten dann Verfassungsänderungen notwendig sein — ob für eine Reform der Schuldenbremse, ein weiteres Sondervermögen, oder für etwas völlig anderes — wären die Herausforderungen groß.

Auch das »Wie« zählt

Die Literatur zu den politischen Konsequenzen von Finanzpolitik suggeriert jedoch nicht, dass hohe Defizite demokratiefreundlich sein müssen. Es kommt auf das »Wie« an. So finden Tarik Abou-Chadi, Denis Cohen und Thomas Kurer 9 Aboud- Chad et al. 2023 heraus, dass steigende Mieten Menschen mit niedrigeren Einkommen in die Arme der AfD treiben. Wenn eine überdimensionierte Fiskalexpansion über nachfrageseitige Inflation zu höheren Zinsen führt und damit den Bau abwürgt, dann wäre diese Fiskalexpansion gegebenenfalls kontraproduktiv, auch aus der Demokratieperspektive, weil sie langfristig die Mieten verteuern könnte. Das ist nicht das Szenario, in dem wir uns befinden: Die Inflation der letzten zwei Jahre war angebotsseitig getrieben, insbesondere durch Preissprünge bei fossilen Energien. Dennoch deuten die Ergebnisse von Abou-Chadi et al. darauf, dass zum Beispiel Planungsbeschleunigung oder ein gezieltes Programm zum Ausbau des sozialen Wohnungsbaus zielführender sein kann als ein breit angelegtes Konjunkturpaket.

In einer Studie von Alberto Alesina arbeitet dieser mit Gabriele Ciminelli, Davide Furceri und Giorgio Saponaro heraus, 10 Alesina et al. 2021 wie wichtig die politische Legitimierung von Sparprogrammen ist. Wenn zum Beispiel eine linke Regierung durch Steuererhöhungen spart, hat dies vergleichsweise geringe politische Kosten. Durch ihren Wahlsieg und die politische Identifikation mit höheren Steuern ist diese Art von Sparprogramm legitimiert. Umgekehrt: Wenn eine rechte Regierung über Ausgabenkürzungen spart, dann sind auch hier die politischen Kosten vertretbar.

Anders ist es aber, wenn linke Regierungen über Ausgabenkürzungen oder rechte Regierungen über Steuererhöhungen sparen. 11 »We find tax-based consolidations to be very costly for right-leaning governments, whereas their effect tends to be not statistically significant for left-leaning ones. In contrast, expenditure-based consolidations are costly for left-leaning governments but beneficial for right-leaning ones.« (Alesina et al. 2021, S. 31).  Im Falle einer linken Regierung kosten zum Beispiel Ausgabenkonsolidierungen in Höhe von einem Prozent des BIPs fünf Prozentpunkte bei der nächsten Wahl, während rechte Parteien sogar einige Prozentpunkte gewinnen können (Alesina et al. 2021, Tabelle 11, S. 46).

Wir können uns Stabilität leisten

Ökonomisch ist ein harter Sparkurs nicht notwendig. Die Zinsquote ist nach wie vor auf einem historisch niedrigen Niveau (s. Abb. 1, rechts). Und selbst der Internationale Währungsfonds, kein stadtbekannter Fiskalrevolutionär, rief Deutschland dazu auf, die Schuldenbremse zu lockern und mehr Investitionen vorzunehmen 12 IWF 2023 .

Dezernat Zukunft

Das Dezernat Zukunft ist ein überparteiliches Institut mit dem Ziel, Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik verständlich zu erklären, einzuordnen und neu zu denken. Bei dieser Arbeit ist es geleitet von seinen Kernwerten Demokratie, Menschenwürde und breit verteilter Wohlstand.

Politisch ist ein Sparkurs hingegen riskant. Wie die jüngste Forschung belegt, kann er die Extreme beflügeln, besonders, wenn die Regierung nicht für ein solches Programm angetreten ist. Und selbst eine kleine Verschiebung hin zu den Extremen kann gravierende Konsequenzen haben, wie beim Brexit eingetreten oder wie bei der nächsten Bundestagswahl durchaus denkbar.

Deshalb stellt sich die Frage: Ist eine fiskalische Schwerlastprobe wirklich das, was unsere Demokratie jetzt braucht?