Geschichten über die Geschichte der Piraterie: Graebers Real Libertalia

In seinem voraussichtlich letzten, posthum veröffentlichten Buch „Pirate Enlightenment or the Real Libertalia“, versucht sich der Anthropologe David Graeber an einer alternativen Geschichte der Piraterie. Er bewegt sich dabei zwischen verschiedenen Welten und schreibt doch über ein und dieselbe.

Graebers Piraten: Auf der Suche nach der wahren Freiheit (2023, in Französisch/Italienisch 2019) unterscheidet sich von seinen bisherigen Büchern wie Schulden: Die ersten 5000 Jahre (2012) oder auch Bullshit Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit (2018). Laut Graeber selbst ist der Hintergrund, im Gegensatz zu vorherigen Werken, kein akademischer. Dennoch können sich die intensive Recherchearbeit und sein Pochen auf Differenzierung sehen lassen und zeigen erneut Graebers Bereitschaft, neue Sprachen zu lernen, um sich tief in historische Originaldokumente einzuarbeiten (die Übersetzungen der Manuskripte in Malagasy stammen von ihm selbst).

Bei der Lektüre seines Buches lässt sich gut nachempfinden, wie Graeber durch Wahrheit, Halbwahrheit und Erfundenes innerhalb der Geschichte der Piraterie navigiert; das Buch spiegelt letztendlich auch anschaulich die Arbeit eines Forschenden, Suchenden wider.

Graeber beginnt damit, die Geschichte der Freibeuter und Meuterer anhand einer Allegorie für den Schrecken der Meere zu erzählen. Vereint unter einer der Variationen der Piratenflagge (Teufel, Totenkopf, Sanduhr) ist die Drohung der „Jolly Roger“ am Horizont keine, wie Graeber erklärt, die ausschließlich auf den Tod der GegnerInnen abzielt. Vielmehr steht der allzu bekannte Totenkopf in Verbindung mit der Sanduhr für eine simple, aber dennoch deutlich bedrohlichere, anarchistische Aussage: „we are all [Hervorh. Menke] going to die, it’s only a matter of time.“ (4) Die Aussage lässt sich aber nicht nur als bedrohlich lesen, sondern vielmehr noch als intrinsisch egalitär: wenn niemand dem Tod entkommen kann, dann ist sein Eintreten für alle gleich.

Sina Menke

Sina ist Redakteurin für Feministische Ökonomie bei P&Ö. Sie promoviert in frühneuzeitlicher Geschichte an der Universität Marburg und ist Mitglied bei den New Voices on Women in the History of Philosophy und der DGphil AG Frauen in der Geschichte der Philosophie. Sie interessiert sich für feministisches Denken, Philosophiegeschichte und utopische Strukturen.

Wie egalitär waren Piraten?

Piraten ist nicht die erste Begegnung Graebers mit der Geschichte Madagaskars. So ist die soziale Spaltung Madagaskars bereits Thema seiner Doktorarbeit The Disastrous Ordeal of 1987: Memory and Violence in Rural Madagascar und auch seine eigentlichen Recherchearbeiten für dieses Buch führte er bereits zwischen 1989 und 1991 durch.

In dem verhältnismäßig kurzen Buch fokussiert Graeber sich hauptsächlich, aber nicht ausschließlich auf die Zeitspanne zwischen 1680 und 1700 in Nordost Madagaskar, welche er als „Golden Age of Pirates“ bezeichnet. Innerhalb dieser Zeitspanne errichteten (hauptsächlich weiße) Piraten Stützpunkte an der Küste Madagaskars, nachdem sie einen ertragreichen Überfall auf einen Mogul-Konvoi verübten und trafen dabei auf madagassischen Einwohner (Malagasy), die die Küstenregionen beheimaten. Nach und nach werden die Piraten in die bereits bestehenden Strukturen der Malagasy integriert, vor allem durch Heirat unter- und Handel miteinander.

Als recht egalitär bezeichnet Graeber die so entstehenden Dörfer und Völker vor allem aus zwei Gründen: 1. Weil Frauen als Akteurinnen ein integraler Teil des Handels wurden und als vadimbazahas („wives of the foreigners“, 68) auch sexuell selbstbestimmte Entscheidungen trafen. 1 Hier ist Graebers Beobachtung, dass „while in European accounts, Malagasy women are sexual ‚gifts‘ presented by men to other men, here it’s the women who initiate the action” (67) aufschlussreich. 2. Obwohl viele der Völker jeweils unter einem König regiert wurden, war dessen Macht von fragiler Natur. Denn sie agierten primär als Scheinkönige, die weniger für die aus Malagasy und Piraten entstandenen Mischgesellschaften selbst, sondern vielmehr für die Außenwahrnehmung existierten. (Waren große Teile des Dorfes nicht mit dem aktuellen König einverstanden, so wurde dieser seines Amtes verwiesen, ersetzt oder umgebracht.) Tatsächlich waren die Gesellschaften laut Graeber größtenteils demokratisch strukturiert. Trotz allem, betont Graeber, nahmen madagassische Frauen oft „classically gendered“ Rollen ein, wie beispielsweise als Organisatorin des Finanziellen oder als Mentorin und die Anzahl der patriarchal organisierten Zusammenkünfte aus Piraten und MadagassInnen war nicht gering.

Pirates, Enlightened

Und doch finden sich im Originaltitel der englischen und französischen Ausgabe nicht umsonst die Zuschreibungen Enlightenment beziehungsweise Lumières wieder – ­­­diesen Zusatz lässt die deutsche Übersetzung gleich ganz weg und nennt den ersten Titel des Buches schlicht „Piraten“. Graeber benennt, und dies explizit als Provokation, die Entwicklungen an der madagassischen Küste als „proto-Enlightenment“ (88). Provokativ wird er vor allem dort, wo es um die Gründung der Betsimisakara Föderation geht, welche laut Graeber von mehreren madagassischen Individuen aufgebaut wurde und nicht, wie in der historischen Forschung angenommen, ein singuläres Projekt des Herrschers Ratsimilahos war. 2 Bialuschewski, Pirates, Slaves, 424 Die madagassischen Individuen rund um Ratsimilaho hatten sich auf die Fahne geschrieben, dass sie verschiffte Sklaven wieder nachhause brachten und Graeber interpretiert dies – mit einem deutlichen Seitenhieb auf den Historiker Bialuschewski, der die Motivation Ratsimilahos ausschließlich als einen politisch klugen Schachzug sieht – als Entscheidung von „mature, thoughtful adults with knowledge of a wide variety of political possibilities“ (91).

Es gab, laut Graeber, damit auch nicht das ‚eine Libertalia‘, sondern vielmehr durchzogen ihre Ideale die madagassische Küste wie eine aufrührerische Brise. Die weitere Erforschung der „strukturellen Libertalia“ als politisches Experiment stellt sich als notwendig insofern heraus, als sie aufklärerische Tendenzen verkörpert, die in der Forschung noch immer exklusiv europäischen Ländern zugeschrieben werden. Was Graeber mit seinen Erkenntnissen herausstellt ist, dass es eine Gleichzeitigkeit von „enlightenment movements“ in Europa und den madagassischen Küstenregionen gibt, welches er anschaulich an einem angehängten Zeitstrahl verbildlicht.

Die Geschichten in der Geschichte

Um nachvollziehen zu können, was nun genau Piraten zu einem Buch macht, dass sich doch signifikant von seinen Vorgängern unterscheidet, hört man am besten Graeber selbst zu. In einem Videobeitrag des David Graeber Institutes erzählt er: „It starts with the idea of stories, because a lot of history … you know … acting in history meant not as acting but acting in such a way that you kind of set up a story that people are gonna say about you afterwards”.

Und hier zeigt sich dann auch das eigentlich besondere seines Anliegens, denn Graeber imitiert die Art of storytelling, „manipulating legends“ und „wonder-stories“, die von Piraten sowie MadagassInnen zelebriert und routiniert wird und wurde. Die Funktionen dieser reichen dabei von gezielter Selbstmystifizierung und Abschreckung von GegnerInnen bis hin zum Flirtverhalten. So stellt er sein experimentelles Vorhaben folgendermaßen vor:

„Let us tell, then, a story about magic, lies, sea battles, purloined princesses, slave revolts, manhunts, make-believe kingdoms and fraudulent ambassadors, spies, jewel thieves, poinsoners, devil worship, and sexual obsession […].”

Graeber, xii

Wirft man, wie Miloš Vec, Graebers Buch also vor, dass Wahrheit und Mystifizierung zu sehr durcheinander gehen, dass „dem Buch […] allerdings eine hinreichend dichte Beweisführung [fehlt], um es historisch überzeugend zu finden“, dann muss man schlussfolgern, dass Graebers Projekt gelungen ist. Denn gezielte Entscheidungen wie am Schluss, mit einem Erzählversuch von König Ratsimilahos 3 Sohn des englischen Piraten Thomas Tew und der madagassischen Königin, Antavaratra Rahena teils überprüfbaren und teils durchweg erfundenen Geschichte zu enden, ist ein explizit die Art des aktiv verwirrenden storytelling, dass den frühneuzeitlichen Piraten außerordentlich gefallen hätte.

Es gibt innerhalb seines Experiments durchaus Momente, bei denen man Graeber seine Begeisterung vielleicht zu sehr anmerkt. So weist Fara Dabhoiwala im Guardian daraufhin, dass die Originalität, die Graeber den demokratischen Aspekten der Piratenvereinigungen zuschreibt, nicht immer gänzlich angebracht ist. Wie immer bei Graebers anthropologischen Werken muss man diese eben nicht in Isolation lesen, sondern neben anderer, historischer Forschung über Piraterie. Nicht, um Graebers Ansatz zu verwerfen, sondern um ihn zu komplementieren.


Anmerkung: Die Seitenzahlen im Beitrag gelten für die englische, Hardcover Ausgabe „Pirate Enlightenment or the Real Libertalia“.