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Widerstreit der Zukünfte

Drei Erzählungen prägen unsere Gegenwart: der Sieg des Liberalismus und sein andauernder Kampf gegen eine irrationale Vergangenheit, die drohende ökologische Katastrophe und die Hoffnung darauf, sie abzuwenden, die Kommerzialisierung des World Wide Web und die Chancen, die mit ihr verbunden sind. Zusammengenommen ergibt sich daraus jene Geschichtsphilosophie, deren Dilemmata, Brüche und Paradoxien die Gegenwart austrägt.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1989-1991 wird von einflussreichen zeitgenössischen Kommentator:innen als dasjenige Ereignis betrachtet, mit dem das Zeitalter der Ideologien endet (vgl. Fukuyama 1989). Dieser Blickwinkel ist mitbestimmt durch die ideologischen Fronten der beiden Weltkriege sowie des darauffolgenden Kalten Krieges. Er suggeriert, dass die bürgerlichen Gesellschaften von zwei ideologischen Hauptströmungen heimgesucht wurden, dem Faschismus beziehungsweise Nazismus und dem Sozialismus beziehungsweise Kommunismus. Die Überwindung dieser beiden Strömungen 1945 beziehungsweise 1991 befreie die bürgerliche Gesellschaft von ihren ideologischen Verirrungen und mache so den Weg frei für eine neue, nicht mehr ideologisch geprägte Zukunft. Die islamistischen Terroranschläge des 11. September 2001 festigen diese Erzählung: Mit ihnen steht eine (ideologie-)freie westliche Welt einmal mehr gegen die irrationalen Kräfte einer fundamentalistischen Vergangenheit, die nun aus dem noch nicht liberal-demokratisch befriedeten Osten droht.

Diese Erzählung ist freilich selbst eine Form narrativer Zurichtung von Geschichte: Sie gibt Ereignissen einen Sinn, indem sie ein Verhältnis von Gegenwart und Zukunft entwirft, das zugleich das Selbstverständnis der Entwerfenden wiedergibt. Sie gehört, ebenso wie die überwunden geglaubten Ideologien, zu den geschichtsphilosophischen Entwürfen der westlichen Moderne. Im Folgenden werden drei dieser Entwürfe untersucht und auf ihren jeweiligen Zukunftsbegriff hin analysiert, jeweils zum Zeitpunkt der behaupteten Zeitenwende um das Jahr 1989. Der erste Entwurf vertritt eine geopolitisch-ökonomische Perspektive. Der zweite behandelt das Thema der Nachhaltigkeit in einem ökonomisch geprägten Verständnis von Ökologie. Der dritte denkt über Zusammenhänge von Technologie und Ökonomie am Ende der 1980er Jahre nach.

Alle drei Erzählungen prägen unsere Gegenwart: der Sieg des Liberalismus und sein andauernder Kampf gegen eine irrationale Vergangenheit; die drohende ökologische Katastrophe und die Hoffnung darauf, sie in einer gemeinsamen und globalen Anstrengung abzuwenden; die Veröffentlichung und Kommerzialisierung des World Wide Web und die Chancen und die Gefahren, die mit ihr verbunden sind. Zusammengenommen ergeben die drei im Folgenden untersuchten Erzählungen von Zukunft einen ersten Umriss jener Geschichtsphilosophie, die zu erkennen auch deswegen schwierig ist, weil noch das gegenwärtige Selbst- und Weltverständnis durch sie geprägt werden. Zugleich zeigen sich bereits dort, in den Entwürfen von Zukunft Ende der 1980er, jene Paradoxien, Dilemmata und Brüche, deren Austrag wir heute in der Auseinandersetzung mit Ökonomie, Ökologie und Technologie beobachten können.

Daniel-Pascal Zorn

Daniel ist promovierter Philosoph, Historiker und Literaturwissenschaftler. Er lehrt und forscht in Wuppertal und ist Autor beim Klett-Cotta-Verlag. Dort erschienen sind »Logik für Demokraten«, »mit Rechten reden« und »Das Geheimnis der Gewalt«. Im März 2022 ist sein neues Buch »Die Krise des Absoluten« erschienen.

Fukuyama, Hegel, Marx

In seinem 1989 erschienenen Artikel The End of History erklärt Francis Fukuyama den Widerstreit der Zukunftsentwürfe, der das lange ideologische 20. Jahrhundert geprägt hat, für beendet. »What we may be witnessing«, schreibt er mit der Perspektive des Beobachters, der ein unabhängig von ihm eingetretenes Ereignis beschreibt, »is […] the end of history as such: that is, the end point of mankind’s ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government« 1 Fukuyama 1989: 4 . Fukuyama antwortet mit dieser These auf den berühmten ersten Satz des Kapitels Bourgeois und Proletarier aus dem Manifest der kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen« 2 Marx/Engels 1980: 10 .

Die beiden Klassen, die sich hier im Kampf miteinander befinden, sind, historisch auf das Äußerste zugespitzt, das Proletariat und die Bourgeoisie, also die immer weiter verarmenden Arbeiter:innen und das Bürgertum, das diese Arbeiter:innen ausbeutet und in die Armut treibt. Bedrohung der eigenen Existenz durch Ausbeutung und Verarmung und die Tatsache, dass das Proletariat gesellschaftlich nicht die Minderheit, sondern die Mehrheit bildet – diese Zuspitzung macht das Proletariat zur revolutionären Klasse. Es »kann sich«, so Marx und Engels, »nicht erheben […], ohne dass der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird« 3 Marx/Engels 1980: 31 . Die Bourgeoisie hat sich als »unfähig zu herrschen« herausgestellt, »weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern« 4 ebd.: 32 .

Je mehr die Bourgeoisie das Proletariat unterdrückt, desto mehr untergräbt es seine eigene gesellschaftliche Machtstellung. Wenn schließlich das Proletariat in der Revolution, in dem sich dieser maximale Gegensatz entlädt, »gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen […] die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf.« Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft endet und »[a]n die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« 5 ebd.: 51 .

Dieser entscheidende letzte Satz verweist auf ein Konzept, das bei Georg W. F. Hegel Weltgeschichte genannt wird. Kurz gesagt ist für Hegel die Geschichte dann Weltgeschichte, »wenn sie den Menschen im Sinn seines Menschseins zu ihrem Subjekt hat« 6 Ritter 2003: 199; vgl. Zorn 2022: 255-272 . Für Hegel besitzt die Französische Revolution darin weltgeschichtliche Bedeutung, dass sie »die Freiheit zu dem Grund macht, auf dem alle Rechtssatzung basiert wird« 7 Ritter 2003: 200 . Doch diese weltgeschichtliche Freiheit ist ambivalent, zweideutig. Sie ermöglicht sich selbst ein Verständnis von sich selbst, in dem sie nur und ausschließlich in einer bestimmten Gesellschaftsform verwirklicht wird, die von Hegel ausgehend von der englischen Nationalökonomie angesetzt wird. Darin liegt »die Gefahr verborgen, dass die Gesellschaft dazu kommen kann, ihr Arbeits- und Klassensystem zur einzigen Bedingung des Menschen zu machen« 8 Ritter 2003: 232 . Die Gesellschaft ist in ihrer Freiheit auch frei darin, sich auf eine Weise zu verstehen, die »alles, was der Mensch nicht durch die Gesellschaft ist, […] real verneint«. Auf diese Weise gibt es keine Freiheit außerhalb der ökonomischen Ordnung und »dann muss die Gesellschaft wirklich aus dem Zusammenhang der Weltgeschichte heraustreten und zu ihrem Ende werden«. Was damit endet, ist nicht die Geschichte selbst, sondern die Weltgeschichte. Denn in dieser Version der Zukunft, die Hegel für die bürgerliche Gesellschaft entwirft, ist nicht mehr der Mensch, sondern die ökonomisch bestimmte Gesellschaft Subjekt der Geschichte.

»Die Idee der Freiheit, solange sie nicht auch die materialen Bedingungen der Gesellschaft mit einbezieht, kann unter Voraussetzung dieser Bedingungen vereinnahmt werden und die Gesellschaft in ein neues, ideologisches Gefängnis führen«

Mit der radikalen Entfremdung des Proletariats bei Marx und Engels, seiner Ausbeutung und Verarmung, die sich immer weiter zuspitzt, ist die Situation beschrieben, in der die bürgerliche Gesellschaft »aus dem Zusammenhang der Weltgeschichte« herausgetreten ist. Was mit der proletarischen Revolution endet, ist damit einmal mehr die Geschichte als Geschichte einer bewusstlosen Menschheit, die erst noch zum Subjekt ihrer Geschichte werden muss. Die Idee der Freiheit, solange sie nicht auch die materialen Bedingungen der Gesellschaft mit einbezieht, kann unter Voraussetzung dieser Bedingungen vereinnahmt werden und die Gesellschaft statt in »eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« 9 Marx/Engels 1980: 51 , in ein neues, ideologisches Gefängnis führen. Es ist die Radikalität dieses Gefängnisses, die eine Revolution nicht nur der Idee nach, sondern auch der Sache nach zu einer Revolution der menschlichen Freiheit macht. Mit dem Ende der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen beginnt die Weltgeschichte, die »den Menschen im Sinn seines Menschseins zu ihrem Subjekt hat« 10 Ritter 2003: 199; vgl. Zorn 2022: 255-272 .

Wenn Fukuyama in The End of History dieses als »endpoint of mankind’s ideological evolution« 11 Fukuyama 1989: 4 postuliert, dann gelingt ihm das nur dadurch, dass er die Marx’sche Überbietung von Hegels Revolution hin zur Weltgeschichte selbst noch einmal überbietet. Dafür muss er den Gedanken einer sich durchsetzenden Freiheit bei Marx und Engels abschwächen, um ihn für sich reklamieren zu können: Für Marx, so Fukuyama, endet die historische Entwicklung in einem »communist utopia«. Weiter sagt Fukuyama dazu nichts. Doch als er etwas später im Artikel seine Thesenfrage wiederholt – »Have we in fact reached the end of history?« –, erläutert er die darin liegende These wie folgt: »In the past century, there have been two major challenges to liberalism, those of fascism and of communism.« Die weitaus größere Herausforderung für den Liberalismus, so Fukuyama, war der Kommunismus. Denn dieser behauptete »a fundamental contradiction« der liberalen Gesellschaft »that could not be resolved within its context« 12 ebd.: 9 .

An dieser Stelle reklamiert Fukuyama die These von Marx und Engels für sich selbst: »[S]urely, the class issue has actually been successfully resolved in the West.« Die liberale (amerikanische) Gesellschaft der Gegenwart, so Fukuyama mit Alexandre Kojève 13 Ich ignoriere die Bezugnahme Fukuyamas auf Kojève hier bewusst, da sie ihm dabei hilft, seine Vereinnahmung der marxistischen These zu verschleiern. , »represents the essential achievement of the classless society envisioned by Marx.« Wenn es ökonomische Härten gebe, hätten die jedenalls nichts zu tun »with the underlying legal and social structure of our society«. Das »communist utopia« wird durch die wirtschaftsliberal geprägten USA der Reagan-Ära repräsentiert.

Fukuyama meint Marx und Engels zu überwinden, indem er ihnen die Nichterfüllung ihrer Kriterien entgegenhält. Im modernen Liberalismus gibt es keinen Existenzkampf der Mehrheit. Damit bestätigt er die Herrschaft der Bourgeoisie. Zugleich behauptet er, diese Herrschaft sei die eigentliche Verwirklichung des »communist utopia«, von dem Marx und Engels geträumt haben. Das verwirklichte Utopia ist die Grundstruktur von Fukuyamas Zukunftsentwurf: die Gegenwart ist das Ende der ideologischen Entwicklung des Menschen, die bestmögliche Gesellschaft.

Ironisch kommentiert Fukuyama in den Schlusspassagen seines Artikels die Statik seines eigenen Zukunftsentwurfs: Das Ende der Geschichte ist langweilig, der ideologische Kampf um Anerkennung verschiedener Zukunftsentwürfe wird ersetzt durch »economic calculation, the endless solving of technical problems, environmental concerns, and the satisfaction of sophisticated consumer demands« 14 Fukuyama 1989: 18 . Wenn die Geschichte, die im selbstzufriedenen Liberalismus endet, einmal mehr beginnen würde, dann aufgrund der Langeweile, die in einem solchen System herrscht. Die nächste Revolution, heißt das, wird sich nicht wegen eines Mangels an Freiheit, sondern wegen der gescheiterten »satisfaction of sophisticated consumer demands« ereignen.

Genau in dieser ironischen Geste, die gleichwohl die These vom Ende der Geschichte voraussetzt, macht sich Fukuyamas philosophisch mit Hegel, Marx und Kojève aufgeladene Argumentation als ideologische kenntlich. Denn Fukuyama weist den Leser noch darauf hin, dass Marx’ These vom Ende der Geschichte »was borrowed by Marx from his great German predecessor Georg Wilhelm Friedrich Hegel« 15 ebd.: 4 . Mit Kojève und gegen Marx bezieht sich Fukuyama auf Hegel. Es ist genau diese Vereinnahmung Hegels als »historicist« und Vertreter eines »idealism«, der Fukuyama den Zugriff auf das Argument verstellt, das er selbst vertreten will.

Bereits der These von der »universalization of Western liberal democracy as the final form of human government«, die alle Konflikte aufgelöst habe, und der Gleichsetzung der liberalen US-amerikanischen Gesellschaft mit dem »communist utopia« wird die Tendenz deutlich, das eigene Gesellschaftsverständnis zu verabsolutieren. Erst aber der ironische Zusatz wird zur performativen Bestätigung: In der geschlossenen liberalen Gesellschaft kann sich die Freiheit nur noch gegen sich selbst erheben, wenn sie revoltiert, aus Langeweile und unbefriedigten Bedürfnissen heraus, nicht als emanzipatorischer Akt und nicht aus der Not der Existenz. Fukuyamas Zukunftsentwurf, den er vor allem als liberalistische Aneignung von Marx konzipiert, endet in dem, was Hegel als Gefahr der bürgerlichen Gesellschaft ausweist: die Verabsolutierung eines durchweg ökonomisch bestimmten Gesellschaftsentwurfs über alle anderen Formen von Freiheit. Fukuyamas Ende der Geschichte ist damit in Wirklichkeit das Ende der Weltgeschichte, das sich als Anfang der Weltgeschichte, als Verwirklichung der Assoziation der Freiheit maskiert, auf die Marx und Engels ihre Revolutionstheorie hin entwerfen. Solange die Existenz der Mehrheit gesichert ist, steht bis auf Weiteres keine proletarische Revolution am Horizont.

Brundtland und die schlechte Vermittlung von Überleben und Wachstum

Zwei Jahre vor Fukuyamas Vorschlag, den westlichen Liberalismus als finale Stufe der ideologischen Entwicklung und als Ende der Geschichte zu verstehen, wird 1987 im sogenannten Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen 16 vgl. UN 1987 ebenfalls ein Entwurf der Zukunft vorgestellt. 17 Gemäß der Behandlung des offenen World Wide Web in diesem Artikel zitiere ich die Zusammenfassung des Brundtland-Berichtsnach einer Open Source (Wikisource 2020).  Our Common Future – so der Titel des Textes – ist bedroht und zwar in einem globalen Maßstab. Die Bedrohung entsteht nicht durch eine Revolution, in der die gesamte Gesellschaft »in die Luft gesprengt wird« 18 Marx/Engels 1980: 31 . Sie entsteht, mit Marx und Engels gesprochen, »durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente« 19 Marx/Engels 1980: 17 . Diese Verbesserung betrifft nicht nur Maschinen und Produktionsstätten, sie betrifft auch Kommunikationen, Infrastrukturen, Logistiken – eine globale Industrie, die ihre Ressourcen und ihre Arbeiterschaft ebenfalls im globalen Maßstab organisiert. Der Welthandel »zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen«. Die Bourgeoisie »schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde«.

Das Problem, von dem der Zukunftsentwurf im Eingangskapitel des Brundtland-Berichts seinen Ausgang nimmt, hat mit der Globalisierung der kapitalistischen Produktionsweise zu tun. Nicht mehr nur eine Gesellschaft, sondern diejenige des gesamten Planeten ist organisiert nach wirtschaftlichen Prinzipien. Bestand die von Hegel extrapolierte Gefahr darin, dass in der liberalen Gesellschaft »alles, was der Mensch nicht durch die Gesellschaft ist, […] real verneint« 20 Ritter 2003: 232 wird, so greift diese Logik nun über auf das Ökosystem des Planeten: Die Erde, ein »small and fragile ball dominated not by human activity and edifice but by a pattern of clouds, oceans, greenery, and soils« 21 Wikisource 2020: o.S. , wird durch die »human activity« bedroht. Dieser fehlt die Fähigkeit »to fit its activities into that pattern« und dieser Mangel an Anpassung an ein vorgegebenes System mit anderen Zwecken als dem einer globalen Wirtschaftsordnung »is changing planetary systems, fundamentally«. Er ist damit zugleich die Ursache von »life-threatening hazards«, also einer Bedrohung der Existenz der Mehrheit der Menschen in globalem Maßstab.

Die Brundtland-Kommission sieht in dieser potenziellen Bedrohung eine »new reality, from which there is no escape«. Diese müsse entsprechend zuerst anerkannt und dann gestaltet werden, damit aus der potenziellen Bedrohung keine tatsächliche wird. Die Mittel zur Abwendung dieser Bedrohung sieht die Kommission in eben jener »Verbesserung der Produktionsinstrumente« 22 Marx/Engels 1980: 17 , die den Eingriff in das globale Ökosystem zuallererst möglich gemacht hat.

Die globale kommunikative und logistische Infrastruktur und die globale Nahrungs- und Warenproduktion »with less investment of resources« sind »positive developments new to this century«. Wissenschaft und Technologie, die eingebunden sind in die Verbesserung der Produktionen, Methoden und Praktiken des weltweiten wirtschaftlichen Systems, können dabei helfen »to look deeper into and better understand natural systems«. Je besser diese verstanden werden, so das Argument, desto wahrscheinlicher ist es »to reconcile human affairs with natural laws and to thrive in the process.« Existenzbedrohung und ökonomische Interessen stehen sich – einmal mehr – nicht kontradiktorisch gegenüber.

Die »life-threatening hazards« müssen nicht zu einer Revolution führen, denn das kulturelle und spirituelle Erbe der Menschheit »can reinforce our economic interests and survival imperatives«. Damit soll es möglich sein, eine Zukunft zu ermöglichen »that is more prosperous, more just, and more secure«. Wohlstand, Gerechtigkeit und Sicherheit sind die Versprechen dieser Zukunft, in der nicht nur die Gefahren des ökologischen Kollaps gebannt sind, sondern die eine bessere Version der Gegenwart – die ja bereits auf einem guten Weg ist – für alle Menschen bietet. Eine »new era of economic growth«, aber »based on policies that sustain and expand the environmental resource base«. Dafür ist es freilich notwendig, so die Kommission in einem Zusatz, dass die in den Entwicklungsländern grassierende Armut gelindert wird. Dieser Zukunftsentwurf setzt »decisive political action« voraus, die dabei hilft »to ensure both sustainable human progress and human survival«.

Liest man diesen Zukunftsentwurf vor dem Hintergrund der bei Fukuyama skizzierten Idee eines siegreichen westlichen Liberalismus und seiner geschichtsphilosophischen Positionierung, fällt zunächst eine seltsame Übereinstimmung auf. Das Argument folgt der einfachen Konstruktion einer abzuwendenden Bedrohung und einer Lösung, die zu ihrer Abwendung formuliert wird. Die Bedrohung ist maximal und recht eindeutig: das alle Menschen betreffende Ökosystem des Planeten droht zu kollabieren, wenn das aktuelle System unverändert beibehalten wird. Dieser Tatsache kann man nicht entkommen, »there is no escape«. Die Brundtland-Kommission votiert entsprechend für Veränderung.

»Dieselben Mittel, dieselbe Waren- und Nahrungsproduktion, dieselben Infrastrukturen und Logistiken, die das planetarische Ökosystem kollabieren lassen, sollen dabei helfen, es zu stabilisieren.«

Doch diese Veränderungen betreffen keinen revolutionären Umsturz der bisherigen Verhältnisse. Im Gegenteil: Dieselben Mittel, dieselbe Waren- und Nahrungsproduktion, dieselben Infrastrukturen und Logistiken, die das planetarische Ökosystem kollabieren lassen, sollen dabei helfen, es zu stabilisieren. Wissenschaft und Technologie, die weitgehend eingebunden sind in die Verbesserung dieses wirtschaftlichen Systems, sollen sich zugleich diesem System dort entgegenstellen, wo ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse über die tieferen Zusammenhänge der Natursphäre den wirtschaftlichen Interessen widerstreiten. Die gleiche Wirtschaft, der 1972 noch ihre Limits to Growth  23 vgl. Meadows et al. 1972 dargestellt wurden, soll nun gleich in eine »new era of economic growth« geführt werden. Das Ökosystem erscheint hier nicht mehr als »pattern of clouds, oceans, greenery, and soils«, sondern als »environmental resource base«, die »sustain[ed] and expand[ed]«, aufrechterhalten und erweitert werden soll. Die Erde ist »organism whose health depends on the health of all of its parts« und zugleich Gegenstand eines Managements von »environmental ressources« für die neue Ära wirtschaftlichen Wachstums.

Bemerkenswert ist schließlich der Gebrauch des Begriffs »sustainable«. Was durch die von der Kommission empfohlene politische Entscheidung erreicht werden soll, ist »both sustainable human progress and human survival« – hier wird eine Minimal- mit einer Maximalbedingung zusammengeschlossen. »Sustainable human survival« ist ein Pleonasmus, da »survival« bedeutet, dass man (immer) noch am Leben bleibt, obwohl das Leben existenziell bedroht ist. »Sustainable human progress« wiederum bezieht sich auf das Versprechen »to thrive in the process«, in der »new era of economic growth«, in der ökonomische Interessen und Imperative des nackten Überlebens durch das menschliche kulturelle und spirituelle Erbe versöhnt werden.

Der Brundtland-Bericht adressiert alle Nationen. Zugleich adressiert er die Akteure eines Wirtschaftssystems, denen Anreize gegeben werden müssen, um in die politischen Entscheidungen dieser Nationen zu investieren. Diese Akteure sind zwar ebenso von der existenziellen Bedrohung durch den Kollaps des Ökosystems betroffen. Die Mehrheit der Menschen, deren Lebensgrundlage durch diesen Kollaps bedroht wird, betrifft dieses Mal nicht nur ein Proletariat, das in Entfremdung und Ausbeutung verarmt. Die Aufrechterhaltung des Ökosystems ist auch die Bedingung der Möglichkeit eines weltweiten Wirtschaftssystems, das sich auf relativ gleichbleibende Bedingungen verlassen muss, um Ressourcenerschließung, Warenproduktion, Transport und Distribution usw. aufeinander abstimmen zu können.

Dennoch reicht der Hinweis auf diese Bedingungen nicht aus. Er muss ergänzt werden durch das Versprechen einer »new era of economic growth«, einer besseren Zukunft, in der Überleben und Aufrechterhaltung des Wirtschaftssystems keinen Widerspruch mehr bilden. Die Akteure der Auflösung dieses Widerspruchs sind politische Entscheider:innen, also die Gesellschaften selbst, Wissenschaft und Technik, die eine produktiv-kritische Doppelrolle spielen sollen – und die wirtschaftlichen Akteure, sofern sie bereit sind in die Veränderung zu investieren. Die Gesellschaften und ihre politischen Entscheider:innen sind diejenigen, die zur Veränderung aufgefordert werden, denen aber auch der Imperativ übertragen wird, ökologische und ökonomische Hinsichten widerspruchsfrei zu verbinden. Wissenschaft und Technik fungieren in dieser Konstellation dagegen als von sich aus ablaufendes System. Sie ermöglichen als objektiver Erkenntnisprozess das eine wie das andere.

Die Einzigen, denen Anreize für Veränderung gegeben werden (konkret: Versprechen auf mögliche Profitsteigerung durch neue umweltfreundliche und global einsetzbare Technologien, also auf eine neue Ära wirtschaftlichen Wachstums) sind die Akteure des wirtschaftlichen Systems. Ihnen wird versprochen, neben den »survival imperatives« auch die »economic interests« zu verstärken – als setzte letzteres nicht ersteres voraus. Die Pointe dieser Darstellung besteht darin, dass damit Fukuyamas Behauptung bestätigt wird, das »communist utopia« werde durch die USA der Reagan-Ära repräsentiert. Die Einzigen, die noch über Existenz und Nichtexistenz entscheiden können und dafür Anreize bekommen, sind die wirtschaftlichen Akteure selbst.

Weil sich das wirtschaftliche System aus den einzelnen nationalen Gesellschaften heraus zu einem globalen entwickelt hat, verstattet es seinen Akteuren die Rolle einer revolutionären Klasse, die gegen die eigenen bisherigen Interessen revoltieren muss, um die eigene Existenz gegen den Kollaps des globalen Ökosystems zu retten. »Die Umweltpolitik ist […] nur transnational zu bearbeiten«, außerhalb der Sphäre einer bestimmten Gesellschaft, denn »Emissionen aller Art machen keinen Bogen um nationale Rechtsräume und Politikstile« 24 Leggewie/Welzer 2011: 160 . Indem sie einen Zusammenhang betrifft, der die Zukunft aller Menschen auf dem Planeten bedroht, erfordert sie einen Handlungsspielraum, der außerhalb bestimmter nationaler Interessen steht. Deswegen adressiert der Brundtland-Bericht zwar die einzelnen Nationen, aber fordert diese im Kollektiv auf politische Entscheidungen durchzusetzen, die eine globale Veränderung ermöglichen.

Politische Entscheidungen sind allerdings Sache von Verhandlungen und Kompromissen, die in der Konfrontation mit existenziellen Bedrohungen nicht möglich sind. Die politischen Entscheider:innen müssen ihre Eingriffe in das jeweilige nationale Wirtschaftssystem in ihren Gesellschaften verantworten. Also adressiert die Brundtland-Kommission in ihrem Bericht außerdem das wirtschaftliche System, das als global organisierte Finanz-, Waren- und Dienstleistungsökonomie gewissermaßen jenseits national bestimmter ökonomischer Interessen steht. Erst hier werden Anreize formuliert und wird eine Zukunft entworfen, in der das Überleben der gesamten Menschheit mit dem bemerkenswerten Argument plausibel gemacht wird, dass die dabei eingesetzten Mittel eine neue Ära wirtschaftlichen Wachstums mit sich bringen.

Die Zukunft des ökologischen Gemeinwohls

Die transnationale Position der Wirtschaft als Handlungsmacht, der Anreize gegeben werden müssen um die Existenzbedrohung durch den ökologischen Kollaps abzuwenden, spiegelt sich im nationalen Maßstab in jener Rolle, die ökologisch motivierte Bürgerinitiativen für den politischen ökologischen Diskurs in den einzelnen Gesellschaften spielen. Reinhart Koselleck hat diese Rolle in einem Vortrag aus dem Jahr 1979, acht Jahre vor dem Brundtland-Bericht und wenige Monate vor der Gründung der Partei Die Grünen, im Kontext gesellschaftlicher Zukunftsentwürfe diskutiert. Für Koselleck verwirklichen Bürgerinitiativen eine Sonderform der Verbindung von Eigeninteresse und Allgemeininteresse, die jenseits der repräsentativen Ordnung einer republikanischen Demokratie angesiedelt ist.

In dieser Ordnung müssen Verbände, Parteien und Unternehmen ihre eigenen Sonderinteressen auf eine Weise rechtfertigen, die sie zugleich als Dienst an der Allgemeinheit ausweisen: »Es gehört […] zum programmatischen Selbstverständnis aller genannten Organisationen, dass sie sich auf das Gemeinwohl der gesamten Gesellschaft berufen müssen, um sich öffentlich auszuweisen. Wo dies nicht gelingt, werden sie unglaubwürdig, verlieren sie an Vertrauen oder Unterstützung beim Bürger oder Wähler« 25 Koselleck 2010: 516-517 . Dieser Bezug auf das Gemeinwohl ist ein Versprechen, das gerade deswegen, weil es von der Gegenwart aus entworfen wird, in dieser Gegenwart nur als Versprechen auf die Zukunft erscheinen kann: »Oft zeigt sich erst nach Jahren, zu wessen Gunsten, zugunsten aller oder nur zugunsten einiger, eine Entscheidung getroffen ist. In jeder Beschwörung des Allgemeinwohls liegt ein Vorgriff auf die Zukunft enthalten, der empirisch nicht unmittelbar einzulösen ist« 26 ebd.: 518 .

Während Parteien, Verbände und Unternehmen zur gesellschaftlichen Rechtfertigung ihrer Sonderinteressen eine Zukunft entwerfen müssen, in der die Allgemeinheit von diesen Sonderinteressen profitiert, verfolgen Bürgerinitiativen »gar keine Sonderinteressen [sondern] beanspruchen für sich, schlechthin das Interesse aller Bürger zu vertreten« 27 ebd.: 519 . Das Sonderinteresse der Bürgerinitiativen ist das Allgemeininteresse: »Dieser Anspruch […] ist im Rahmen unserer gesellschaftlichen Vorgegebenheiten verständlich nur, weil sich die Bürgerinitiativen […] weder direkt politisch noch direkt ökonomisch verstehen, sondern in erster Linie ökologisch.« 28 Ebd. Weil die Gesellschaft vor allem durch Sonderinteressen geprägt ist, ist die Adressierung eines übergreifenden Allgemeininteresses problematisch: »Der Schutz unserer Umwelt, die Erhaltung des Ökosystems gehören zu solchen Postulaten von allgemeiner Evidenz, dass es schwerfällt, sie unmittelbar einzulösen.« 29 Ebd.: 520 .

Zugleich ist die Einhaltung dieser Postulate höchst voraussetzungsvoll. Da das Ökosystem, wie der Brundtland-Bericht formuliert, »a pattern of clouds, oceans, greenery, and soils« ist, die Vielfalt der Arten und damit die Erhaltung von Ressourcen und Lebensräumen von menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen betrifft, verlangt sein Schutz vielfältige Kompromisse und Entscheidungen politischer und ökonomischer Natur. Weil aber auch die Gesellschaft selbst und ihre Wirtschaftsordnung von den Voraussetzungen des Ökosystems direkt abhängig sind, handelt es sich um Kompromisse und Entscheidungen, die nicht einem gesellschaftlichen Sonderinteresse zugeordnet werden können. Sie betreffen die Allgemeinheit zugleich maximal mittelbar und zugleich maximal unmittelbar, jeweils in verschiedenen Hinsichten: maximal mittelbar in den vielen verschiedenen anstehenden Kompromissen und Entscheidungen, die durch die Komplexität des Ökosystems selbst notwendig werden; maximal unmittelbar in der Existenzbedrohung, die in der Nichterhaltung des Ökosystems auch für das politische und ökonomische System impliziert ist.

»[D]er Allgemeinheitsanspruch«, also der Anspruch auf die Zukunft, »der Ökologie erweist sich gerade daran, dass er über sich hinausweist und direkt in unser politisches und ökonomisches System hineinwirkt« 30 Koselleck 2010: 521 . Den Zukünften der Sonderinteressen, die immer bis zu einem gewissen Grad ideologisch sind, weil sie sich möglichst positiv auf das zu erwartende Allgemeinwohl beziehen müssen, tritt eine bedrohliche Zukunft gegenüber, die durch Zusammenhänge bestimmt wird, die sich dem gesellschaftlichen Interessenskonflikt bis zu einem gewissen Grad entziehen. Damit »sind Interessenartikulationen des Umweltschutzes organisatorisch offenbar schwerer abzusichern als die Interessen von Politik und Wirtschaft«. Entsprechend besteht der »Elan« der ökologischen Bürgerinitiativen darin, »nur solche Allgemeininteressen zu vertreten, die von keiner der bestehenden Organisationen hinreichend vertreten würden« 31 ebd.: 520 . Die Bürgerinitiative vertritt den Blick auf das Ganze, weil dieses nicht in einem gesellschaftlichen Sonderinteresse adressiert werden kann.

»Nun müssen die Vertreter:innen desjenigen Systems, durch das ein globaler ökologischer Kollaps droht, mit den Mitteln desselben Systems eine Existenzbedrohung der gesamten Menschheit abwenden.«

Sie entspricht damit strukturell den globalen ökonomischen Akteuren, die in ihrem Selbstverständnis, das Fukuyama von ihnen entwirft, die einzige noch verfügbare revolutionäre Klasse bilden. Ihre »environmental concerns«, die bei Fukuyama noch als Ausdruck der Langeweile des siegreichen liberalen westlichen Systems angeführt werden, stellen sich als möglicher Ausgangspunkt eines neuen Anfangs der Geschichte heraus, der alleine von den ökonomischen Akteuren selbst in Gang gebracht werden kann. Während die Bürger:innen des revolutionären Zeitalters sich ihre Freiheit gegen das Ancien Régime (Hegel) und die Proletarier:innen ihre Freiheit gegen die Bedrohung ihrer Existenz durch die Bourgeoisie (Marx und Engels) erkämpfen mussten, müssen nun die Vertreter:innen desjenigen Systems, durch das ein globaler ökologischer Kollaps droht, mit den Mitteln desselben Systems eine Existenzbedrohung der gesamten Menschheit abwenden.

Im Brundtland-Bericht kann man die direkte Gegenüberstellung der beiden Zukünfte und ihre – mit Hegel gesprochen – schlechte Vermittlung direkt an den absurden Formulierungen »economic interests and survival imperatives« bzw. »sustainable human progress and human survival« ablesen: Das Überleben, das einen kategorischen Imperativ und die Voraussetzung für jede Art von ökonomischem Interesse und menschlicher Fortschrittserwartung bildet, wird aus diesem logischen Bedingungssystem gelöst und dem von ihm Bedingten gegenüberstellt, das nun als Anreiz fungiert, das Überleben zu ermöglichen.

Diese schlechte Vermittlung impliziert, dass sich beide Zukunftsentwürfe, derjenige des liberalen ökonomischen Systems als ins Endlose verlängerte Gegenwart und derjenige der Bürgerinitiativen, die ein maximales Allgemeininteresse vertreten, sich auch im globalen Maßstab gegenübertreten. Sofern nämlich das maximale Allgemeininteresse der Aufrechterhaltung des Ökosystems den nationalen Maßstab übersteigt – weil »Emissionen aller Art […] keinen Bogen um nationale Rechtsräume und Politikstile [machen]« 32 Leggewie/Welzer 2011: 160 –, das ökonomische System aber bereits globalen Maßstab angenommen hat, ist zu erwarten, dass ihm der ökologische Imperativ ebenfalls auf globaler Ebene gegenübertritt. Doch dafür bräuchte es eine Möglichkeit, im globalen Maßstab politische Partizipation zu ermöglichen.

Die offene Zukunft des World Wide Web

Eine solche Möglichkeit eröffnet sich im Jahr 1989, dem Jahr von Fukuyamas Artikel End of History und zwei Jahre nach dem Brundtland-Bericht. Als das World Wide Web schließlich im Jahr 1993, ein Jahr nach dem Umweltgipfel von Rio de Janeiro, von seinen Entwicklern am CERN in Genf gemeinfrei gemacht wird, sind die Erwartungen groß. Die weltweite Vernetzung auch von Laien, die vorher keinen Zugang zu den Vorläufersystemen Arpanet und Usenet hatten, soll eine globale demokratische Netzkultur ermöglichen, die sich dezentral und radikaldemokratisch selbst organisiert. In ihrem 1995 erschienenen Essay The Californian Ideology, der zuerst im Internet zur Diskussion gestellt und dann ein Jahr später in einer abschließenden Version veröffentlicht wurde, lassen Richard Barbrook und Andy Cameron die bisherige Kommerzialisierung des Internets Revue passieren.

Die titelgebende Ideologie ist ein »new faith […] emerg[ing] from a bizarre fusion of the cultural bohemianism of San Francisco with the hi-tech industries of Silicon Valley« 33 Barbrook/Cameron 1996: 44-45 . Er kombiniert den gesellschaftstranszendieren- den Freiheitsbegriff der Hippies mit dem Freiheitsbegriff einer neuen Generation von Unternehmer:innen, die ihre ökonomische Zukunft in der digitalen Welt suchen: »In the digital utopia, everybody will be both hip and rich«. Zugleich ist das Internet auch ein Versprechen auf eine neue demokratische Zukunft mit weltweiten Partizipationsmöglichkeiten. Die Vertreter:innen der Californian Ideology, so Barbrook und Cameron, »want information technologies to be used to create a new ›Jeffersonian democracy‹ where all individuals will be able to express themselves freely within cyberspace« 34 ebd.: 45 . Sie glauben, dass die »convergence of media, computing and telecommunications would inevitably create the electronic agora – a virtual place where everyone would be able to express their opinions without fear of censorship« 35 ebd.: 48 .

Am deutlichsten, so Barbrook und Cameron weiter, zeigt sich die widersprüchliche Mehrdeutigkeit des Freiheitsbegriffs der Californian Ideology »in its contradictory visions of the digital future« 36 Barbrook/Cameron 1996: 50 . Zum einen ist die kommerzielle Digitalisierung »a key component of the next stage of capitalism. […] [A]ll major industrial economies will eventually be forced to wire up their populations to obtain the productivity gains of digital working«. Dabei ist völlig unklar, welche politischen Folgen eine weltweite Vernetzung haben wird: »What is unknown is the social and cultural impact of allowing people to produce and exchange almost unlimited quantities of information on a global scale. […] [W]ill the advent of hypermedia realise the utopias of either the New Left or the New Right?« 37 ebd.: 52 Auf der anderen Seite neigt die den Autoren zeitgenössische Netz-Community eher auf die Seite der Linken, gegen »corporate capitalism and big government«, zugunsten eher einer »hi-tech ›gift economy‹«, ganz im Sinne des gemeinfreien Codes des World Wide Web selbst. Zugleich teilt man den »enthusiasm for the libertarian possibilities«, den die US-amerikanischen Rechten vertreten.

Am Ende ihres Textes richten Barbrook und Cameron einen Appell an die Europäer:innen, nachdem sie in düsteren Farben die Entwicklung in den USA skizziert haben. Anstatt der Entwicklung dort zu folgen, ist es »now necessary for Europeans to assert their own vision of the future.« Die Zukunft der wirtschaftsliberal geprägten USA der Reagan-Ära muss nicht die Zukunft Europas sein. »There are varying ways forward towards the information society – and some paths are more desirable than others« 38 Barbrook/Cameron 1996: 66 . Noch ist die Zukunft offen, so Barbrook und Cameron, um einen Unterschied zu machen.

Der Widerstreit der Zukünfte

Ende der 1980er Jahre wird die Zukunft ökonomisch, ökologisch und technologisch entworfen. Die Zukünfte unterscheiden sich: Fukuyamas End of History sieht die Zukunft als endlose Wiederholung der Gegenwart, Zeichen eines vermeintlichen Sieges des liberalen westlichen Systems und seiner Ökonomie über Faschismus und Kommunismus. Umgekehrt lässt sich mit Hegel und Marx beschreiben wie Fukuyama der von Hegel angemahnten Gefahr unterliegt, die Freiheit des ökonomisch-liberalen Gesellschaftssystems der USA mit der menschlichen Freiheit an sich zu verwechseln. Es ist gerade die Geschlossenheit der Ideologie, die in der Geschichte nur noch die Wiederholung ihrer selbst erblicken kann, die Fukuyamas Versuch bedingt, mit Marx und Engels gegen Marx und Engels den Liberalismus zugleich als Überwindung und Verwirklichung des Kommunismus auszuweisen. Der darin sich zeigende Widerspruch bleibt unaufgelöst.

Der endlosen Wiederholung der Gegenwart tritt mit dem drohenden Kollaps des Ökosystems ein revolutionäres Ereignis gewissermaßen von außen gegenüber. Die Geschlossenheit des liberalen Systems zeigt dieses Ereignis in einer unaufgelösten Vermittlung von Existenzbedrohung und Fortschritt der Menschheit, in der abstrakten Gleichzeitigkeit von Überleben und ökonomischem Wachstum im Brundtland-Bericht. Inhaltlich politische Entscheider:innen, also die nationalen Gesellschaften adressierend, betreffen operativ die Anreize der Argumentation vor allem die ökonomischen Akteure. Mit dem Versprechen einer »new era of economic growth« für die Abwendung der globalen Bedrohung menschlicher Existenz durch den Kollaps des Ökosystems wird die Ökonomie als dasjenige System adressiert, dessen Mittel zugleich Ursache und Lösung für die abzuwendende ökologische Katastrophe sein soll. Wissenschaft und Technologie werden dabei in die Doppelrolle einer Produktivkraft gedrängt, die zugleich diejenigen kritischen Argumente formuliert, mit denen das ökonomische System sich selbst reformieren soll.

Die globale Bedrohung erzeugt auf nationaler Ebene eine neue Form politischer Partizipation, in der das für die Ökonomie zentrale Eigeninteresse dem für das menschliche Leben auf dem Planeten zentrale Allgemeininteresse entspricht. Mit der ökologischen Bewegung in verschiedenen Bürgerinitiativen entsteht eine demokratische Bewegung, deren Interesse die Bedingungen der partikulären Eigeninteressen betrifft, die in einem demokratischen System in Parteien, Verbänden und Unternehmen um die Deutungshoheit der Zukunft ringen. Die Zukunft der Bürgerinitiativen ist dabei zugleich radikal mittelbar und höchst voraussetzungsvoll und radikal unmittelbar durch die Bedrohung der Lebensgrundlagen des Menschen im maximalen globalen Maßstab. Dadurch tritt sie den verschiedenen ideologischen Zukünften der demokratischen Interessenvertreter:innen, die ihr Sonderinteresse durch ein zukünftiges Versprechen auf Allgemeinwohl rechtfertigen, unvermittelt gegenüber.

»So steht nun eine Gegenwart, die Zukunft als Ressource ihrer eigenen Fortsetzung betrachtet, einer Zukunft gegenüber, die jene Fortsetzung fundamental bedroht und so einen radikal neuen Entwurf der Gegenwart fordert. Die Vermittlung dieses Widerstreits ist allerdings denselben Mitteln aufgegeben, die ihn erzeugen.«

Weil ihr Zukunftshorizont so über den nationalen Rahmen hinausreicht, verweist die Bürgerinitiative auf demokratische Bewegungen, die sich ebenfalls im globalen Maßstab im Kontext der Entstehung des World Wide Web bilden. Noch 1995 ist die Zukunft des globalen Netzwerks ungewiss, für die kritischen Kommentatoren der Californian Ideology zumindest in Europa noch offen für eine alternative, von ökonomischen Einflüssen freie Entwicklung einer Netz-Community. Für die USA, Fukuyamas Heimatland des westlich-liberalen Systems, sehen diese Kommentatoren bereits die Vereinnahmung des World Wide Web, strukturell durch die politische Ökonomie des amerikanischen Wirtschaftsliberalismus, inhaltlich durch politische Ideologien. Das lässt sich schließlich für die Gegenwart weiterdenken: Auf nationaler Ebene entsteht die Bürgerinitiative gerade in Differenz zu den Interessengruppen, die ihre Selbst- durch Allgemeininteressen rechtfertigen. Ohne diesen Kontrast, der erst das Allgemeininteresse der ökologischen Bürgerinitiativen als den nationalen Rahmen sogar noch übersteigenden Allgemeinanspruch sichtbar macht, sind auch die Vertreter:innen einer ökologischen Allgemeinheit nur eine Interessengruppe im World Wide Web unter vielen, eingebunden in eine digitale Ökonomie.

Die Geschichtsphilosophie am Ende des 20. Jahrhunderts entwirft ein Bild von der Geschichte, das als dialektische Umkehrung der Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhunderts zu verstehen ist. Stand dort die offene Zukunft, der Fortschritt der liberalen – oder sozialistischen – Gesellschaft einer im Stillstand befangenen Vergangenheit gegenüber, so steht nun eine Gegenwart, die Zukunft als Ressource ihrer eigenen Fortsetzung betrachtet, einer Zukunft gegenüber, die jene Fortsetzung fundamental bedroht und so einen radikal neuen Entwurf der Gegenwart fordert. Die Vermittlung dieses Widerstreits ist allerdings denselben Mitteln aufgegeben, die ihn erzeugen: dem ökonomischen Weltsystem der globalen Warenproduktion und -verteilung und dem technologischen Weltsystem des World Wide Web. Ihnen steht ein ökologischer Imperativ gegenüber, der nicht verschiedene Zukünfte, sondern eine vom Menschen aus seiner Sicht lebensfreundlich gestaltbare Zukunft überhaupt und den Verlust dieser Zukunft als Alternative stellt. Ist dieser Streit entscheidbar? Bis in die Gegenwart hinein bleibt er jedenfalls unentschieden.

Literatur

Fukuyama, Francis (1989): »The End of History?«, in: The National Interest 16, S. 3-18.
Koselleck, Reinhart (2010): »Allgemeine und Sonderinteressen der Bürger in der umweltpolitischen Auseinandersetzung« [1980], in: Ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 516-526.
Leggewie, Claus/Welzer, Harald (2011): Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt a.M.: Fischer.
Marx, Karl/Engels, Friedrich (1980): »Manifest der Kommunistischen Partei« [1848], Berlin: Dietz.
Meadows, Donella H./Meadows, Dennis L./Randers, Jørgen/Behrens, William W. (1972): The limits to growth. A report for the Club of Romes’s Project on the predicament of mankind, New York: Universe Books. Online verfügbar unter: https://www.donellameadows.org/wp-content/userfiles/Limits-to-Growth-digital-scan-version.pdf. Zuletzt aufgerufen am 17.09.2022.
Ritter, Joachim (2003): »Hegel und die französische Revolution« [1956], in: Ders.: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 183-233.
UN, United Nations (1987): Our Common Future, Report of the World Commission on Environment and Development. Online verfügbar unter: https://www.are.admin.c h/are/de/home/medien-und-publikationen/publikationen/nachhaltige-entwicklun g/brundtland-report.html. Zuletzt aufgerufen am 17.09.2022.
Wikisource (2020): Page: Brundtland Report.djvu/18. From One Earth to One World. An Overview by the Wolrd Commission on Environment and Development. Online verfügbar unter: https://en.wikisource.org/wiki/Page%3ABrundtland_Report.djvu/ 18 vom 17.09.2022. Zuletzt aufgerufen am 17.09.2022.
Zorn, Daniel-Pascal (2022): »Die Krise des Absoluten. Was die Postmoderne hätte sein können«, Stuttgart: Klett-Cotta.

Zorn, Daniel-Pascal. „Widerstreit der Zukünfte: Ökologie und Nachhaltigkeit im Kontext globaler Geschichtsphilosophie am Ende der 1980er Jahre“. Umkämpfte Zukunft: Zum Verhältnis von Nachhaltigkeit, Demokratie und Konflikt, edited by Julia Zilles, Emily Drewing and Julia Janik, Bielefeld: transcript Verlag, 2022, pp. 81-94, https://doi.org/10.1515/9783839463000-005