Hannes Kuch: „Die Unsittlichkeit des Marktes führt in einen neuen Autoritarismus“ 

Der Kapitalismus produziert nicht nur Güter, er prägt und formt auch die Persönlichkeit der Bürger – und birgt so Gefahren für das demokratische Gemeinwesen, sagt der Sozialphilosoph Hannes Kuch. Im Gespräch mit Oliver Weber zeichnet er die Entsittlichungseffekte des Marktgeschehens nach und plädiert mit Hegel für einen »liberalen Sozialismus«.

Die neue Bundesregierung plant eine große Investitionsoffensive. Hält man sich den wirtschaftspolitischen Diskurs der letzten Jahre vor Augen, dann scheint das eine außerordentlich progressive Entwicklung zu sein, weil dem Staat wieder eine aktive Rolle im Wirtschaftsgeschehen zugedacht wird. Wenn man aber ihr Buch »Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus« liest, Herr Kuch, erscheint einem selbst dieser Schritt völlig unambitioniert. 

Die Diskussionen, die wir jetzt gerade führen, über eine Lockerung der Schuldenbremse, über mehr staatliche Investitionen, finden noch in einem altbekannten sozialdemokratischen Paradigma statt. Dort nimmt der Staat zwar eine aktivere Rolle ein, aber man verbleibt trotzdem innerhalb eines Modells, bei dem davon ausgegangen wird, dass auf der einen Seite die Wirtschaft steht und auf der anderen Seite der Staat, der gewissermaßen nur an den Rahmenbedingungen der Wirtschaft herumdoktert. Das, was innerhalb dieser Maschine namens Wirtschaft passiert, wird seiner eigenen Logik überlassen. Das Hauptargument meines Buches ist, dass es langfristig eigentlich um eine grundlegende Umgestaltung der Wirtschaft gehen muss, um das, was ich eine konstitutive Transformation des Marktes nenne. 

Also darum, auf die Verteilung der Einkommen und Vermögen zuzugreifen, um eine bessere Wirtschaftsordnung zu schaffen?  

Das wäre lediglich ein erster Schritt: Dass wir nicht nur Konjunkturpolitik betreiben, sondern über eine Umstrukturierung der Verteilungsmuster nachdenken. Und das muss ja nicht primär nachträglich passieren, wie es selbst neoklassische Lehrbücher vorsehen, indem man etwa progressive Steuern einführt und Transfersysteme etabliert. Man kann auch direkt bei der Verteilung der produktiven Ressourcen ansetzen, vor allem beim Vermögen: Im Englischen spricht man treffend von »predistribution« anstelle von bloßer »redistribution«. Dann landet man bei dem, was John Rawls angestrebt hat, nämlich eine »Eigentümerdemokratie«. Doch auch diese Denkweise betrachtet den Markt als eine Wohlfahrtsmaschine, deren innere Funktionsweise belassen werden soll, wie sie ist.  

Mein Argument, das in einer hegelianischen Tradition steht, lautet, dass auch das noch zu kurz greift: Wir müssen uns darüber klar werden, dass am Markt nicht nur Güter, sondern auch Subjektivitäten produziert werden. Wir verändern in unserer Arbeitstätigkeit nicht nur die Welt, die Umstände, die Dinge, sondern wir verändern auch uns selbst als Menschen, unsere Selbstverständnisse, unsere Motivationen. Davon hängt ganz wesentlich ab, was Hegel, sehr grob gesagt, ›Sittlichkeit‹ nennt: die mentalen und ethischen Strukturen eines vernünftigen demokratischen Gemeinwesens. Und um diese Strukturen müssen wir uns selbst dann noch Sorgen machen, wenn wir eine gerechtere Verteilung hinbekämen. 

Keynesianische Globalsteuerung, nachträgliche Umverteilung, »predistribution«: Alle drei Varianten progressiver Wirtschaftspolitik haben also gemeinsam, dass sie an der ökonomischen Organisationsweise eigentlich nichts ändern, sondern nur die Ströme und Positionen innerhalb einer ansonsten gleichbleibenden Struktur beeinflussen wollen. Warum ist das ein Problem? Würde es nicht reichen, dass die Leute mehr verdienen, sozial abgesichert sind, vielleicht sogar Produktivkapital erwerben?

Weil wir dann nach wie vor Wirtschaft als bloße Wohlfahrtsmaschine betrachten. Davon müssen wir wegkommen. Wirtschaft produziert Subjektivitäten, ob wir das wollen oder nicht. Doch aus der Subjektproduktion muss Subjektbildung werden, und zwar in Richtung eines Ethos demokratischer Gerechtigkeit. Natürlich ist es zunächst ungewohnt, Wirtschaft als eine Sphäre der Bildung zu verstehen, denn Bildung wird ja meist als Aufgabe von Schulen und Universitäten betrachtet. Und Erziehung wird der Familie zugeordnet. Doch dabei übersehen wir einen der wichtigsten Orte der Subjektformation: die Sphäre der Wirtschaft.  

Hannes Kuch

Dr. Hannes Kuch ist Privatdozent am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Für seine Habilitation mit dem Titel »Wirtschaft, Demokratie und liberaler Sozialismus« gewann Kuch im Jahr 2024 den Frankfurter Habilitationspreis für Philosophie. Der Autor entwickelt in seiner Schrift eine neue Form der Kapitalismuskritik und analysiert Alternativen zum Kapitalismus. Foto: Lisa Kalleder

Das war in der politischen Ideengeschichte nicht immer so. Es gibt eine lange Tradition, die die Ökonomie als Institution der Erziehung und Bildung thematisiert. Hegel wurde schon erwähnt, aber auch bei John Stuart Mill, Karl Marx und noch bei John Rawls finden wir diesen Gedanken. Und es liegt ja auch sehr nahe: Bereits das, was ich die ›Expositionsdauer‹ nenne, ist extrem hoch. Wir sind etliche Stunden täglich in die Strukturen des Arbeitsmarktes eingebunden, meist fünf Tage die Woche, acht Stunden am Tag, mehrere Jahrzehnte des Erwachsenenlebens. Und Arbeit hat erhebliche Folgeeffekte: Sie kann auf die Gesundheit schlagen, und sie ist eine der wichtigsten Quellen unseres sozialen Status. Vor allem sind wir zur wirtschaftlichen Kooperation genötigt, im Unterschied zu beinahe allen anderen sozialen Sphären: Wenn Sie wollen, können Sie auf Ihre Freundschaften verzichten. Sie müssen nicht am politischen Leben teilnehmen. Sie müssen sich nicht zivilgesellschaftlich organisieren. Sie müssen keine Familie gründen. All diese Dinge sind Ihrer freien Willkür anheimgestellt. An der wirtschaftlichen Arbeitsteilung dagegen müssen wir teilnehmen.  

Wenn man davon ausgeht, dass wir diese Form der dichten Kooperation, zu der wir genötigt sind, nicht einfach nur äußerlich registrieren, sondern dass wir sie auch verinnerlichen und mit unserem Selbstbild vereinbaren müssen, dann hat das höchstwahrscheinlich einen großen Effekt auf unsere Identitäten. Wenn wir also von diesen Subjektivierungseffekten des Marktes abstrahieren, verschließen wir die Augen vor möglichen Gefahren für das Ethos der Bürger:innen eines demokratischen Gemeinwesens.  

Welche Gefahren meinen Sie? Viele liberale Denker hoffen ja, ganz im Gegenteil, auf die tugendfördernden Effekte des Marktes: Selbstdisziplin, Toleranz, friedliche Kooperation.   

Ich spreche in meinem Buch bewusst von der sittlichen Ambivalenz des Marktes. Die Denkschule, auf die Sie anspielen, hat teilweise durchaus recht: Wir müssen den Markt auch als Ort der Bildung betrachten, der positive Versittlichungseffekte hervorbringt. Wir lernen Kooperation, wir lernen Disziplin und Selbstdisziplin. Das würde ich gar nicht bezweifeln. Man kann sogar noch weitergehen. Gerade am Markt lernt man ein elementares Ethos der Gleichheit – wir begegnen uns als gleichberechtigte, aufeinander bezogene Vertragspartner:innen. Ich muss mich in andere hineinversetzen können, ihre Bedürfnisse antizipieren.  

Dennoch ist dieses positive Bild zu einseitig: Der Markt ist zugleich eine »Teufelsmühle«, wie Karl Polanyi es formulierte. Es gibt gute Argumente, die insgesamt auf eine Entsittlichung durch Marktvergesellschaftung hinweisen. Zum Beispiel besteht auf Märkten stets die Möglichkeit, die eigene Verhandlungsstärke voll auszunutzen. Man könnte – um ein Gedankenexperiment aufzugreifen – an zwei Menschen in der Wüste denken, wobei der eine zufälligerweise eine Wasserflasche bei sich hat, während der andere gerade verdurstet. Wenn man das Verhältnis dieser beiden Subjekte als Marktaustausch denkt, dann wäre der eine prinzipiell in der Lage, dieses andere Subjekt zu erpressen. Er könnte eine Million Euro fordern oder einen Sweatshop-Arbeitsvertrag aus seinem Gegenüber herauspressen. Vielen von uns ist etwas Ähnliches – in abgeschwächter Form – vom Wohnungsmarkt bekannt, wenn es in Ballungszentren zu großer Wohnungsknappheit kommt und die Mieten derart hochgetrieben wurden, dass sie einen erheblichen Teil des Einkommens verschlingen.  

Aus liberaler Sichtweise wird dann kurzerhand gesagt: Deshalb brauchen wir mehr Konkurrenz. Aber dann nähern wir uns sogleich dem zweiten Pol der Entsittlichungsdynamik des Marktes, nämlich dem Problem, dass, je stärker und je totaler die Konkurrenz wird, wir umso mehr dazu genötigt sind, Vorteile für uns zu erlangen. Man versucht etwa Mitarbeiter:innen auszubeuten, Zulieferer übers Ohr zu hauen oder Kund:innen zu täuschen, weil man sonst Angst haben muss, unter die Räder des Konkurrenzdrucks zu kommen. Es gibt also ein eigentümliches Spannungsverhältnis des Marktes: Er oszilliert permanent zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite steht die Möglichkeit, Verhandlungsmacht zu nutzen, auf der anderen die Unterwerfung unter den stummen Zwang der Konkurrenz. Das ist Grundproblem jeder Marktvergesellschaftung.  

Aber ist es nicht eine sehr kluge Idee, anonyme Marktmechanismen auf ein Gleichgewicht der Privatinteressen hinwirken zu lassen, sodass die alte Mandeville-Formel gilt: Private Vices, but Public Benefits? 

Hierauf möchte ich eine doppelte Antwort geben. Einerseits kann man daran zweifeln, ob eine so perfekte externe Regulation des Marktes jemals stattfinden kann. Märkte sind fast nie perfekt: Viele Imperfektionen kennen wir gar nicht, und selbst wenn wir sie kennen, kann sie der Staat nicht vollständig kompensieren. Andererseits bleiben die Subjektivierungsprobleme auch dann bestehen, wenn uns kurzfristig eine externe Regulation gelänge. Pure Marktvergesellschaftung ist langfristig deswegen eine äußerst instabile Form der Kooperation, weil sie auf externe Sittlichkeitsressourcen angewiesen ist.  

Hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Alle Marktkorrekturen sind von genau jenem Gerechtigkeitsethos abhängig, das der Markt systematisch untergräbt. Es ist höchst unplausibel, dass die Entsittlichungstendenzen des Marktes fortbestehen, aber die öffentliche Sphäre davon unberührt bleibt. Politik und Öffentlichkeit schweben nicht über den Niederungen des Preiskampfes, wodurch sie befähigt wären, den Markt ungestört optimal zu regulieren. Das kann nicht dauerhaft gut gehen. 

Man wird am Wahlsonntag nicht zum Citoyen, nachdem man fünf Tage lang den Bourgeois spielen musste. 

So ist es. Zumal ein demokratisches Ethos nicht einfach kognitiv erlernt werden kann, es muss wirklich eingeübt werden. Das ist ein aristotelischer Gedanke, dass man Moral einüben muss – ein Ethos will antrainiert sein. Man bildet einen Charakter weniger durch einmaliges Auswendiglernen als durch permanente Praxis, so wie man das Gitarrenspielen nicht durch bloßes Notenlesen lernt, sondern durch unermüdliche Einübung. Und deswegen ist auch ein demokratisches Ethos nicht einfach in der Schule erlernbar, sodass man es dann irgendwie in seinem Kopf herumträgt, wenn man fortan auf dem Arbeitsmarkt mit seinen Mitbürgern um die Existenz konkurriert.  

Die Ökonomie formt den Charakter aller Menschen, ob wir es wollen oder nicht – vielleicht stärker als andere Institutionen. Deswegen war es ein Fehler vor allem der jüngeren Kritischen Theorie und Politischen Philosophie, diese Frage nach der inneren Organisationsweise der Wirtschaft auszuklammern und stattdessen nur auf Verteilungs- und Regulationsfragen zu starren. Gerade bei so wichtigen Denkern wie etwa Jürgen Habermas ist die Wirtschaft zu einer bloßen Black Box geworden, die man von außen in den Dienst nehmen, aber nicht innerlich transformieren kann. Diese Abstraktion von dem realen Subjektivierungsgeschehen ist langfristig nicht überzeugend: Denn woher soll die Einhegung des Marktes kommen, wenn der Markt das dafür nötige Ethos systematisch untergräbt? 

Aber wir leben doch schon sehr lange in Marktgesellschaften – trotz der von Ihnen beschriebenen Gefahren? 

Während des Schreibprozesses ist mir klar geworden, dass meine Befürchtungen zum Verlust des demokratischen Ethos sich in einem Ausmaß bestätigen, das man zuvor kaum für möglich gehalten hätte. Ich habe vor über zehn Jahren angefangen, an dem Buch zu schreiben – also noch bevor Trump 2016 zum ersten Mal gewählt wurde und der neue rechte Autoritarismus vom Randphänomen zum Schlüsselphänomen unserer Gesellschaften geworden ist. Und seitdem ist es eigentlich nur schlimmer geworden.  

Wir sehen ja heute den massiven Erfolg eines Politikstils, der mit autoritären Denk- und Verhaltensmustern in größeren Teilen der Bevölkerung rechnen kann. Das ist die heutige Gestalt der Entsittlichung: eine psychische Disposition, die darin besteht, nach unten zu treten und sich an starken Autoritätsfiguren zu ergötzen. Man grenzt aus, man erniedrigt und beleidigt diejenigen, die ohnehin schon am Rand der Gesellschaft stehen, also etwa Menschen mit Migrationshintergrund, Schwule, Lesben, Transgender – und andererseits identifiziert man sich mit den angeblich erfolgreichen, mächtigen, angeblich starken Männern.  

Trotzdem ist die Frage berechtigt, warum es erst jetzt zum politischen Ausbruch dieser langwierigen Entsittlichungsprozesse der Marktvergesellschaftung kommt. Mein Argument lautet, dass im 20. Jahrhundert die Stärke der Arbeiterbewegung und der ihr korrespondierende Wohlfahrtsstaat für eine gewisse, prekäre Zeitspanne jene Solidaritätslücke kompensieren konnten, die eine sich selbst überlassene Marktgesellschaft erzeugt.  

Doch diese Konstellation war aus verschiedenen Gründen nicht stabil – nicht zuletzt deswegen, weil man an die eigentliche Organisationsweise der Wirtschaft nicht politisch herankam. Im Schoß des kapitalistischen Wohlfahrtsstaats haben sich daher langsam, aber unerbittlich genau jene Habitusformen durchgesetzt, die man als Vorformen von neoliberaler Subjektivität beschreiben kann. Verkürzt könnte man sagen: Eine Kultur des Egoismus und des Misstrauens hat sich schrittweise breit gemacht. Es ging nicht mehr darum, wie man die Solidarität aufrechterhalten kann, sondern darum, wie man seinen eigenen Erfolg garantieren kann in einer Welt, die einerseits von Marktkonkurrenz geprägt ist und andererseits belagert wird von angeblichen »Schmarotzern«, Arbeitslosen und Minderheiten, die der arbeitenden Bevölkerung auf der Tasche liegen. Von dort ist der Schritt in den offenen Autoritarismus nicht mehr weit. 

Sie beschreiben die populistischen und autoritären Bewegungen unserer Zeit als einen Effekt der Entsittlichung, den die Ökonomie nun gewissermaßen an das politische System weitergibt. Aber könnte man nicht auch sagen, dass sich in diesen Bewegungen eine – wenn auch noch so pervertierte – Forderung nach Solidarität und Sittlichkeit geltend macht? Selbst im Vorwurf des »Schmarotzertums«, selbst im Anruf der »Volkssolidarität« steckt ja noch eine Schwundform ethischen Protests.  

Ja, auch hier sollte man die Ambivalenz des Phänomens vor Augen haben. Es ist natürlich nicht so, dass wir es da einfach mit bösen Menschen zu tun hätten, die über gar keine Sittlichkeit mehr verfügen würden. Wenn man diese Bewegung als exkludierenden, diskriminierenden, autoritären Nationalismus beschreiben kann, so kann man darin dennoch eine Schrumpfform von Solidarität beobachten. Es geht auch dort immer noch um Fragen gerechter Gemeinschaftlichkeit. Es ist wichtig, das anzuerkennen, besonders im politischen Umgang mit der Frage: Was ist das eigentlich für ein Gegner, mit dem wir es zu tun haben? Es ist ja nicht so, dass wir es mit Menschen zu tun hätten, mit denen es gar keinen Common Ground mehr gäbe. Man kann genau an dieser von Ihnen beschriebenen Stelle ansetzen und sagen: Dann lasst uns doch über den Zustand unserer Gemeinschaft sprechen, lasst uns doch über Kooperation und Solidarität reden.  

Wenn ich Quellen zur sozialen Frage aus dem 19. Jahrhundert lese, als die Folgen des Kapitalismus und der Industrialisierung beobachtbar wurden, fällt mir immer wieder auf, dass selbst Liberale den Sieg des Konkurrenzprinzips betrauerten, weil sie noch eine Erfahrungswelt vor Augen haben, die dysfunktional, aber dennoch solidarischer organisiert war. Haben Sie keine Sorgen, dass nach Jahrzehnten der Atomisierung ein ethisch bejahbarer Protest gegen die Entsittlichung der Ökonomie gar nicht mehr stattfinden kann? 

Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Denn wenn man die eigene Theorie so anlegt wie ich – die ja von einer starken Negativdiagnose zum Zustand des demokratischen Ethos in unseren Gesellschaften ausgeht –, dann drängt sich natürlich die Frage auf, ob man dann überhaupt noch einen besseren Zustand erreichen kann.  

Hier kommen mir drei empirische Annahmen entgegen: Erstens ist die Ökonomie natürlich nicht der einzige Ort der Subjektbildung, auch bei Hegel nicht. Es gibt die Familie und Freundschaften, die politische Öffentlichkeit und die Zivilgesellschaft als weitere Sphären der Sittlichkeit. Wenn in diesen Sphären immer mehr erlebt wird, wie die Ökonomie Druck auf das Zusammenleben ausübt, kann man von ihnen einen Impuls erwarten, der darauf zielt, die Organisationsweise der Wirtschaft zu verändern. Zweitens habe ich ja bereits ausgeführt, dass auch innerhalb der Wirtschaft bestimmte positive Versittlichungseffekte stattfinden. Selbst der kapitalistische Betrieb ist auf viele Facetten der freiwilligen Kooperation angewiesen. Etwa, wenn man für einen kranken Kollegen einspringt, in der tagtäglichen Teamarbeit oder beim Einlernen von neuen Mitarbeiter:innen. Wenn es das alles nicht gäbe, wenn es wirklich nur den reinen Dienst nach Vorschrift gäbe, dann würde die Wirtschaft morgen zusammenbrechen. Und natürlich gibt es drittens auch innerhalb des kapitalistischen Marktes Gegeninstitutionen wie Gewerkschaften, die sich den reinen Kapitalimperativen widersetzen und eine widerspenstige, kämpferische Solidarität geltend machen.

Nehmen wir mal an, es stimmt, dass dieser sittliche Widerspruch in unseren Gesellschaften noch empfunden wird und dass sich daraus eine Reformbewegung speisen kann, die die Frage nach der Organisationsweise der Wirtschaft aufwirft. Wie könnte eine andere Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung aussehen? 

Bei Hegel ist die Korporation jene Institution, die als Bindeglied zwischen den eigennutzenorientierten Individuen am Markt und den gemeinwohlorientierten Bürger:innen im Staat fungiert. Das Problem der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, dass die Individuen zwar berechtigterweise ihre individuellen Zwecke verfolgen – die Verwirklichung der Zwecke aber tatsächlich von der Kooperation aller anderen abhängt. Solange die Individuen diese Voraussetzung nicht in ihr Handeln integrieren, laufen sie Gefahr, Dysfunktionalitäten zu produzieren, sich auf Kosten anderer zu bereichern oder, umgekehrt, an der Welt zu scheitern und, im schlimmsten Fall, an ihr zugrunde zu gehen.

Auf der anderen Seite gibt es den Staat, an dem die Bürger:innen gemeinwohlorientiert partizipieren sollten, unter Absehung von ihren Privatinteressen. Doch zwischen diesen beiden Sphären klafft eine riesige Lücke. Wie soll aus dem Bourgeois plötzlich ein Citoyen werden, vor allem wenn der Markt systematisch das Gegenteil demokratischer Tugenden antrainiert? Bei Hegel soll die Korporation genau diese Lücke schließen. Sie ist eine Vermittlungsinstanz und Bildungsinstitution, in die die Subjekte aufgrund ihrer privaten Interessen quasi ›reingeraten‹, innerhalb derer sie aber ihre privaten Zwecke in Kooperation mit und unter Rücksichtnahme auf die anderen Genoss:innen verfolgen müssen. Das ist mehr als der anonyme Gleichgewichtsmechanismus des Marktes, aber es ist weniger als die staatsbürgerliche Aufopferung für das Allgemeine.

Oliver Weber

Oliver arbeitet an der TU Darmstadt an einem Dissertationsprojekt zur Ideengeschichte des frühliberalen Eigentumsbegriffs – und den Aporien, die ihm die aufklärerische Geschichtsphilosophie aufgelastet hat. Er hat Politikwissenschaft und VWL studiert und veröffentlicht Essays und Artikel in diversen Feuilletons und Zeitschriften, wie der FAZ, der ZEIT, der SZ oder dem Merkur. 2019 hat er ein Buch über die demokratische Problematik politischer Talkshows bei Klett-Cotta veröffentlicht.

Das Argument in meinem Buch lautet, dass wir den Grundgedanken der Hegelschen Korporation heute wieder gut gebrauchen können, nachdem der zentralistische Staatssozialismus gescheitert ist und die liberale Marktvergesellschaftung ihre hässliche Seite zeigt. Mein Name für eine Organisationsweise, die heute dem Grundgedanken der Korporation entsprechen könnte, lautet: liberaler Sozialismus.  

In der sozialistischen Tradition wurde Sozialismus oft mit »kollektives Eigentum an den Produktionsmitteln« gleichgesetzt, und dies sofort wiederum mit Staatseigentum. Oft war das verbunden mit der Annahme, dass Märkte vollständig verschwinden müssen. Ich gehe einen anderen Weg. Im Kern bedeutet liberaler Sozialismus, dass es Märkte zum Zweck der Koordination wirtschaftlichen Handelns gibt, dass die Betriebe sich aber überwiegend in der Hand der Beschäftigten befinden und dass es auch innerhalb der Wirtschaftszweige Institutionen der internen, statt nur externen Marktregulation gibt. Die Ökonomie soll sich von innen heraus versittlichen, ohne bedingungslos gemeinwohlorientierte Bürger:innen oder gar einen bedingungslos gemeinwohlorientierten und fehlerlosen Staat vorauszusetzen. 

Wie muss man sich Arbeitsverhältnis, Management und Eigentümerstruktur im »liberalen Sozialismus« vorstellen?  

Die Grundidee besteht darin, dass ein Ethos demokratischer Gerechtigkeit auch innerhalb der Wirtschaftsstrukturen eingeübt werden muss. Für die Struktur der Betriebe bedeutet das, hier keine Quasi-Diktaturen zuzulassen, in denen kleine, nicht legitimierte Autoritäten über Wohl und Wehe aller anderen Beschäftigten entscheiden. Stattdessen muss mindestens das Management des Betriebs demokratisch gewählt sein.  

Nun ist es aber so, dass wir aus den Erfahrungen mit der betrieblichen Mitbestimmung etwa hier in Deutschland wissen, dass sich Eigentums- und Partizipationsfragen nicht trennen lassen. Wenn man demokratische Betriebe will, muss man über das konventionelle Privateigentum hinausgehen. Denn mit Eigentumsrechten geht immer Macht einher. Das kann sich leicht am Beispiel eines demokratischen Betriebs klarmachen, bei dem formal die Beschäftigten die Macht haben, das Management einzusetzen, aber das Kapital des Betriebs vollständig von externen Eigentümer:innen finanziert wird. Dann ist diese demokratische Kontrolle innerhalb des Unternehmens letztlich nur ein Papiertiger: Sie ist nicht viel wert, weil die externen Eigentümer immer die Fähigkeit haben, sofort ihr Geld abzuziehen und so die demokratischen Entscheidungen zu unterwandern. Daher kommt nur eine Form des kollektiven Eigentums in Frage.  

Hier können wir zum Glück auf die langjährige Erfahrung zurückgreifen, die wir in Deutschland, in Italien, in Großbritannien, in Spanien mit dem Genossenschaftswesen gemacht haben. Dessen Grundidee lautet, dass alle Beschäftigten Miteigentümer des Betriebs sein sollen. Hierauf sollte man aufbauen. In meinem Buch argumentiere ich zwar, dass es durchaus gute Gründe gibt, Ausnahmen zuzulassen – etwa bei nur vorübergehender oder anfänglicher Betriebszugehörigkeit, oder beim Kapitalbedarf, der zum Teil und unter sehr spezifischen Bedingungen von außen gedeckt werden kann. Aber am demokratischen Prärogativ der Beschäftigten sollte nicht gerüttelt werden, sie sollten die zentralen Entscheidungen im Unternehmen maßgeblich bestimmen können, wenn man die Kapitallogik durch eine Logik der Kooperation ersetzen will. 

Aber Genossenschaften kann man doch jetzt schon gründen. Viele sind in ihrem Segment auch erfolgreich. Warum hat dieses Modell nicht längst die Welt erobert? 

Das ist natürlich eine wichtige Rückfrage. Hier muss man zwei Kategorien von Gründen unterscheiden. Einerseits gibt es, denke ich, eine Reihe von Punkten, die dafürsprechen, dass Genossenschaften in kapitalistischer Umgebung auf unfaire Weise benachteiligt werden. Kapitalistische Unternehmen erzielen oft dadurch ‚Effizienzgewinne‘, dass sie die ihnen zur Verfügung stehenden natürlichen und menschlichen Ressourcen ungehemmter ausbeuten können. Das ist ein ›Vorteil‹ kapitalistischer Betriebe, aber ein Vorteil, den wir aus Gemeinwohlsicht eigentlich nicht gutheißen können.  

Andererseits werden Genossenschaften auch dadurch unfair benachteiligt, dass Unternehmensgründer:innen, die natürlich tatsächlich oft gute Ideen für erfolgreiche Unternehmungen haben, typischerweise die gesamte Macht und den Profit des Unternehmens für sich monopolisieren. Doch letztlich sind auch diese scheinbar genialen Gründerfiguren nur so kreativ und produktiv, weil sie selbst von einer langen Vorgeschichte der gesellschaftlichen Kooperation profitieren und weil auch deren eigenes Unternehmen nur als kooperatives Unterfangen aller Beteiligten längerfristig erfolgreich sein kann.  

Allerdings: Neben diesen unfairen Benachteiligungen von Genossenschaften bringt die genossenschaftliche Form tatsächlich gewisse interne Nachteile mit sich, die sie etwas weniger produktiv machen als kapitalistische Betriebe. Das hat unter anderem mit der Effizienz von dynamischen Kapitalmärkten zu tun, die es in einer Welt aus Genossenschaften natürlich so nicht mehr gäbe. Aber diesen partiellen Nachteil muss man im Kontext der sittlichen Gesamtbilanz betrachten: Man muss sich klarmachen, dass diesen möglichen Effizienzverlusten entscheidende sittliche Vorteile gegenüberstehen, und von diesen sogar mehr als aufgewogen werden. 

Ein weiterer Einwand gegen eine Genossenschaftsökonomie lautet, dass die Trennung von Kapital und Arbeit, bei allen Nachteilen, immerhin den Vorteil hat, in jedem Betrieb ein institutionalisiertes und mächtiges Interesse an Wachstumseffekten zu erzeugen. Wenn etwa Rationalisierungsinvestitionen zu Produktivitätsfortschritten führen, aber dadurch Arbeitsplätze überflüssig würden, kann, ja muss der Kapitalist diese moralische Seite der Frage ignorieren. Gibt es in Genossenschaften ein funktionales Äquivalent? Traut sich dort noch jemand, unbequeme Entscheidungen zu treffen? 

Hier kommen auch in meinem Modell wieder Märkte ins Spiel. Auch in einer Welt voller Genossenschaften wäre die Konkurrenz zwischen den Betrieben nicht vollständig ausgeschaltet. Das heißt, diejenige Genossenschaft, die sich für Investitionen entscheidet und dadurch effizienter wirtschaftet, wird mittelfristig Konkurrenzvorteile haben und dadurch auch Druck auf ihre Mitbewerber ausüben. Und aus der empirischen Forschung wissen wir, dass es gute Möglichkeiten gibt, innerhalb der genossenschaftlichen Betriebsführung durch die Art und Weise der Gewinnauszahlung Investitionsinteressen zu schaffen.  

Hinzu kommen natürlich die sittlichen Vorteile, dass im Gegensatz zum kapitalistischen Betrieb in Genossenschaften gleich die negativen Externalitäten solcher Investitionen diskutiert und kompensiert werden, ohne dass der Staat einspringen muss, der womöglich überfordert ist und einen signifikanten Teil der Beschäftigten einfach bedenkenlos in strukturelle Arbeitslosigkeit schickt. 

Nun übt aber doch wieder derselbe Markt Konkurrenzdruck aus, der ja, laut Ihrer eigenen Analyse, das solidarische Ethos der Bürgerschaft untergräbt. 

An dieser Stelle kommen in meinem Konzept intermediäre Marktstrukturen ins Spiel. Auch hier knüpfe ich an Hegels Begriff der Korporation an. Diese sind ja als Zusammenschluss aller Betriebe eines Wirtschaftszweiges gedacht – mit der Macht, Normen und Mindeststandards zu setzen, an die sich alle Konkurrenten halten müssen. Auch das kennen wir zum Teil bereits in unserer Gegenwart. Man denke nur an Ärzte- oder Anwaltskammern; selbst Tarifverträge kann man so verstehen.  

Ich plädiere dafür, diese Idee weiterzutreiben. Solche intermediären Institutionen haben das Potenzial, die inhärente Feindlichkeit und damit einhergehenden geistigen Übel der bestehenden Konkurrenzverhältnisse zu überwinden. Und sie können die materiellen Übel der Konkurrenz eindämmen, indem sie verhindern, dass Wettbewerb zum Unterbietungswettbewerb wird oder sogar in einen Kampf um Leben und Tod ausufert. Trotzdem soll Konkurrenz nicht vollständig verschwinden, da die privaten Interessen der Akteure durchaus ihren legitimen Platz haben. Diese Überlegungen lassen natürlich einen großen Spielraum, wie genau die Marktverhältnisse zu gestalten sind. Aber diesen Umstand empfinde ich als etwas Positives: Erfahrung und pragmatische Abwägung sollen sich geltend machen können. Kein Wirtschaftssystem kann im Vorhinein am Schreibtisch bis ins letzte Detail perfekt durchgeplant werden. 

Wenn man Ihr Buch liest, ergeht es einem nicht wie bei anderen Formen utopischer Literatur. Man glaubt nicht weniger, sondern eher stärker an die Machbarkeit einer besseren Welt – gerade weil Sie abwägend und realistisch an Organisationsfragen herangehen. Wie optimistisch sind Sie persönlich, dass Ihre Konzeption in zwei oder drei Generationen mehr geblieben sein wird als eine schöne Utopie? 

Tatsächlich habe ich mir auch beim Schreiben immer wieder die Zeitfrage gestellt. Geht es um einen Horizont von zehn, von zwanzig oder von hundert Jahren? Und nicht nur das: Die negativen Entwicklungen unserer Gegenwart erzeugen immer stärkeren Druck, die existenziellen Probleme schnell zu lösen. Vorsichtig optimistisch bin ich schon deswegen, weil geschichtliche Verläufe typischerweise unvorhersehbar sind. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass es so ein Phänomen wie die Trump-Präsidentschaft geben kann? Wer hätte sich in Großbritannien einen Labour-Vorsitzenden wie Corbyn vorstellen können oder die Popularität von Bernie Sanders in den USA? Und auch wenn die Entwicklungen heute zunächst überwiegend ins Negative gehen, kann genauso schnell ein Umschlag ins Positive stattfinden. Wichtig ist, über eine bessere, machbare Zukunft nachzudenken – für den Fall, dass sich das historische Gelegenheitsfenster wieder öffnet.

Vielen Dank für das Gespräch!