Ist Eigentum begründbar?
Im großen Kant-Jahr blieb eine der folgenreichsten Revolutionen des kantischen Denkens unbeachtet: seine Eigentumstheorie. Kant zeigt, dass das Privateigentum kein natürliches individuelles Recht darstellt, sondern nur als Folge der Einigung einer Gemeinschaft gedacht werden kann – die Freiheit des einen steht unter der Bedingung der Freiheit aller.
Um etwas Äußeres als mein Eigentum zu haben, muss ich es zunächst erwerben. In den Paragraphen §10–17 der Rechtslehre legt Kant die sozialen und normativen Bedingungen für den rechtmäßigen Erwerb von Sachen (Eigentumsrechte), Taten (Vertragsrechte) und Personen (Statusrechte) dar. 1 Kants Rechtslehre wird gemäß dem Standardgebrauch der Akademieausgabe referenziert: 6:203–6:372 Ich werde mich in diesem Beitrag auf das Problem des ursprünglichen und einseitigen Erwerbs von Rechten an Sachen konzentrieren, die traditionell als Eigentumsrechte bezeichnet werden. 2 Die andere Art, Sachenrecht zu erwerben, ist bilateral und derivativ, durch die Entscheidungen anderer, d. h. als Vertragsrechte (§18–21) und Statusrechte (§22–30).
Kant definiert das Recht an einer Sache zunächst kontraintuitiv: Es ist ein Recht an einer Sache gegen jeden Besitzer derselben. 3 6:260 Aber ist nicht der Besitzer der Träger des Rechts? Wir können diese Definition besser nachvollziehen, wenn wir zwischen einem Eigentümer und einem Besitzer oder zwischen Eigentum und Besitz unterscheiden. Ein Eigentümer hat gesetzmäßig ein Recht auf eine Sache als sein Eigentum, während ein Besitzer die Sache in seinem Besitz hält. Wie Kant in § 7 klarstellte, muss das Halten scharf vom Haben unterschieden werden. Für Kant sind erworbene Eigentumsrechte im Wesentlichen negativ, da sie den rechtmäßigen Eigentümer dazu berechtigen, andere vom Gebrauch einer Sache auszuschließen. Das bedeutet, dass niemand mein Eigentum ohne meine Zustimmung benutzen kann, dass jeder andere sogar die Pflicht hat, es nicht zu benutzen, und dass jeder, der es ohne meine Zustimmung benutzt, gegen seinen Willen gezwungen werden kann, es zu unterlassen und mein Eigentum in meine Hände zurückzugeben. So weit klingt das nach einer klassisch liberalen Theorie des Eigentums als Recht auf Ausschluss. Aber Kant hat einen anderen Standpunkt. Indem er das Eigentum durch die Linse der universell bindenden Rechte des Eigentümers gegen jeden anderen Besitzer analysiert, stellt Kant die Frage, woher die entsprechende Pflicht eines anderen nicht zu benutzen, was mir gehört, kommt?
Jacob Blumenfeld
Zunächst einmal geht diese Pflicht nicht von der Sache aus. Kant kritisiert ausdrücklich Eigentumstheorien, die das Verhältnis zwischen Personen und Dingen fetischisieren, als ob die Dinge selbst Pflichten gegenüber ihren Besitzern enthielten, wie ein »bewahrenden Genius«, oder Schutzgeist, die sie beschützen. 4 6:260 Für Kant können Dinge keine Pflichten haben, denn Rechte gelten nur zwischen Personen. Als Träger der Vernunft und Agent der Willkür kann nur eine Person für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen und für deren Auswirkungen auf die Freiheit anderer verantwortlich gemacht werden. 5 6:223 Rechte an einer Sache lassen sich daher nicht durch eine wie auch immer geartete Beziehung zwischen Personen und Dingen – seien sie materiell, geistig oder intellektuell – erklären, sondern nur in sozial-normativen Begriffen. 6 Es gibt einige philosophische Traditionen, die diesen Drang zur Entmystifizierung des Eigentums teilen: Humes sozialer Konventionalismus, Benthams Rechtspositivismus und Marx’ ökonomische Kritik, um nur einige zu nennen. So ist für Kant die Locke’sche Vorstellung, dass ein Individuum und ein Ding durch die geistige Verbindung der Arbeit verbunden sein können, unsinnig.
Doch wenn Dinge andere Personen nicht dazu verpflichten können, sie nicht unrechtmäßig zu benutzen, was dann? Kant behandelt diese Frage in ähnlicher Weise, wie er das Problem des Moralgesetzes in seinen ethischen Schriften behandelt. Während die Autorität der moralischen Gesetzgebung auf der Idee beruht, dass ich nur durch Gesetze gebunden sein kann, die ich mir selbst auferlege (d. h. durch meine Autonomie), beruht die Autorität der rechtlichen Gesetzgebung auf der Idee, dass wir nur durch Gesetze gebunden sein können, die wir uns selbst als Ganzes auferlegen (d. h. durch unseren vereinigten Willen). In der Tat können wir nur durch Verpflichtungen gebunden sein, die wir uns kollektiv selbst geben. Aber wie können wir uns kollektiv die Macht geben, uns gegenseitig in Bezug auf individuelle Handlungen des Erwerbs einzuschränken, wenn wir nicht bereits durch wechselseitig zwingende Gesetze des Rechts aneinander gebunden sind?
Um es direkter auszudrücken: Wenn Sie und ich nicht bereits vereinbart haben, durch gegenseitige Rechtsnormen gebunden zu sein, wie könnte dann mein einseitiger Akt des Erwerbs irgendeine Verbindlichkeit für Sie haben? Eine der wichtigsten Behauptungen von Kants Lehre vom Privatrecht ist, dass keine derartigen vorherigen Vereinbarungen erforderlich sind. Bereits mit seinem Erlaubnisgesetz (lex permissiva) hat Kant das Haben von Dingen als vernünftig und rechtmäßig erachtet. 7 Kant schlägt zunächst ein rechtliches Postulat der praktischen Vernunft vor, das besagt, dass es kein Gesetz gegen Personen geben kann, die externe Objekte als ihr Eigentum betrachten (was Kant als intelligiblen Besitz bezeichnet). Zweitens kategorisiert er dieses Postulat als ein Erlaubnisgesetz, das Handlungen, die weder verboten noch vorgeschrieben sind, wie einseitige Aneignungsakte, normative Gültigkeit und rechtliche Kraft verleiht. Kant »leitet« den intelligiblen Besitz somit als apriorisches Rechtskonzept ab und rechtfertigt ihn als ein Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft. Obwohl das Recht auf Privateigentum theoretisch allein durch Vernunft gerechtfertigt ist, ist jede einzelne Aneignung nur vorläufig rechtmäßig, bis sie durch einen geeinten Willen in einem bürgerlichen Zustand öffentlich genehmigt wird. Mehr zum rechtlichen Postulat und zum Erlaubnisgesetz, siehe Jacob Blumenfeld, The Concept of Property in Kant, Fichte and Hegel, Routledge, 2024, S. 57-61. Doch obwohl das Recht auf Privateigentum allein durch Vernunft theoretisch gerechtfertigt ist, ist jede Aneignung nur vorläufig rechtmäßig, bis sie durch einen geeinten Willen in einem bürgerlichen Zustand öffentlich genehmigt ist. Demnach scheint der ursprüngliche Erwerb von Eigentum und die damit verbundene einseitige Auferlegung von Pflichten zur Selbstbeschränkung aller anderen nicht zu rechtfertigen zu sein, wenn man sich nicht auf eine zuvor konstituierte Gemeinschaft mit Normen für den Eigentumserwerb beruft. Denn jeder Erwerb in einer solchen Gemeinschaft wäre von den Normen der Gemeinschaft abgeleitet. Wie aber kann der Eigentumserwerb sowohl originär als auch derivativ sein? Und wenn der abgeleitete Eigentumserwerb nicht auf einen ursprünglich rechtmäßigen Erwerb zurückgeführt werden kann, ist er letztendlich nicht doch ungerechtfertigt?
Ursprünglicher Gesamtbesitz
Wir befinden uns in einem Dilemma. Das individuelle Recht auf eine Sache setzt eine kollektive Erlaubnis voraus, unter der ich sie mir aneignen könnte, und doch muss es mir erlaubt sein, Dinge zu benutzen und zu besitzen, ohne zuvor die kollektive Erlaubnis dafür einzuholen. Damit ich in der Verfolgung meiner Ziele frei handeln kann, indem ich dies erwerbe und jenes kontrolliere, muss ich in meinen Entscheidungen von anderen Menschen ihrem Willen sowohl unabhängig als auch abhängig sein. Einige Kommentatoren sehen in diesem Dilemma einen Widerspruch in Kants Rechtsdenken, oder besser gesagt, sie nehmen es als Hinweis auf seine unverkennbar bürgerliche Position. Andererseits wird argumentiert, dass Kant die Heuchelei der modernen Eigentumsrechte entlarvt. Denn während solche Rechte im Prinzip einvernehmlich vereinbart werden müssen, um gerecht zu sein, werden uns die Eigentumsrechte faktisch ohne jedes Mitspracherecht aufgezwungen. Dennoch werden wir aufgefordert, sie zu rechtfertigen, als ob sie für unsere eigene individuelle Freiheit gemacht wären, obwohl sie nichts anderes bewirken, als unsere Wahlmöglichkeiten einzuschränken.
Nach meiner Lesart hat Kant diese Behauptung mit seiner Idee des »ursprünglichen Gesamtbesitz« in Frage gestellt. Es ist nicht notwendig, einen vorherigen Konsens zu schließen, damit individuelle Eigentumsrechte gelten können. Vielmehr geht es darum, einseitige Erwerbshandlungen so zu konzipieren, dass sie unter der Idee einer universellen Gemeinschaft von Menschen und ihres gemeinsamen Schicksals auf Erden bereits stattfinden. Einseitige Erwerbshandlungen haben normative Geltung nur vor dem Hintergrund einer unterstellten Absicht aller Menschen, die Erde zu nutzen und zu besitzen, das heißt, einer »a priori vereinigten Willkür«. Diese ursprüngliche Willkür bindet alle Menschen zu einer universellen Gemeinschaft von potenziellen Besitzern zusammen. Wie Kant es ausdrückt: »Durch einseitige Willkür kann ich keinen andern verbinden, sich des Gebrauchs einer Sache zu enthalten, wozu er sonst keine Verbindlichkeit haben würde: also nur durch vereinigte Willkür aller in einem Gesamtbesitz.« 8 6:261, Hervorhebung von mir
Der ursprüngliche Gesamtbesitz ist das, was mich dazu ermächtigt, durch die »vereinigte Willkür aller« andere dazu zu verpflichten, das, was mir gehört, nicht zu benutzen. Es ist weder die Sache selbst (metaphysisch falsch), noch mein individueller Wille (moralisch falsch), noch ein breiter Konsens (politisch falsch), die oder der sie dazu verpflichtet. Damit es überhaupt möglich ist, dass Sie etwas unerlaubt benutzen, das mir gehört, und umgekehrt, müssen wir unsere gemeinsame Teilnahme an einer Gemeinschaft voraussetzen, die etwas gemeinsam besitzt. Um Sie von der Nutzung dieser Sache ausschließen zu können, müssen Sie bereits mit mir verbunden sein – sonst könnte ich Sie gar nicht ausschließen. Wenn Sie nicht bereits mit mir in einer Besitzgemeinschaft wären, dann stünden Sie außerhalb des Verhältnisses von Pflicht und Recht. Folglich müssen sie schon in derselben Rechtsgemeinschaft wie ich sein, damit ich Sie durch das Recht vom Recht auf diese Sache ausschließen kann. Das ist ein Paradoxon: Man muss schon eingeschlossen sein, um ausgeschlossen werden zu können, innen sein, um außen sein zu können.
Dieses Paradoxon wird aufgelöst, wenn man Kants »ursprünglichen Gesamtbesitz« als eine Idee der Vernunft versteht: nicht als einen apriorischen Rechtsbegriff wie den intelligiblen Besitz, sondern als eine regulative Norm wie die Idee des ewigen Friedens. Damit ein System der Freiheit Sinn macht, damit eine Rechtsgemeinschaft funktioniert, müssen wir eine Bedingung voraussetzen, die wir nicht beweisen können, und selbst wenn wir es könnten, wäre der Beweis egal. Kants Idee des ursprünglichen Gesamtbesitz bezieht sich nicht auf ein theologiegeschichtliches Stadium in der Vergangenheit, sondern auf ein normatives Prinzip für einseitigen Erwerb in der Gegenwart, welches erst in Zukunft erfüllt werden kann. Die Idee des ursprünglichen Gesamtbesitzes kann andere dazu verpflichten, meinen privaten Erwerb zu respektieren, weil sie voraussetzt, dass unser individueller Wille bereits in einem gemeinsamen Zustand mit Rechtsfolgen verbunden ist: ein vereinigter Wille, die Erde gemeinsam zu besitzen.
Dieser vereinigte Wille, die Erde gemeinsam zu besitzen, ist eine materialistische Aufforderung der praktischen Vernunft, die sich aus der Konfrontation unseres angeborenen Rechts auf Freiheit mit der Besonderheit unserer räumlichen und pluralen Bedingung ergibt: Da wir auf einem kugelförmigen Planeten der endlichen Ressourcen leben, müssen wir in der Lage sein, an der einen oder anderen Stelle mit anderen zu koexistieren, was bedeutet, dass wir in der Lage sein müssen, die Partikularisierung der Erde zu wollen, damit alle einen Ort haben, an dem sie frei von zwischenmenschlicher Herrschaft handeln können. 9 6:267 Aber das Ziel, das Land für jeden zu teilen, setzt einen vereinigten Willen voraus, der die Erde ursprünglich gemeinsam besitzt und der die Autorität hat, sie zu teilen. Der vereinigte Wille und der ursprüngliche gemeinsame Besitz sind Ideen der Vernunft, keine historischen Tatsachen, sondern normative Prinzipien, die unsere Praxis in der Gegenwart in einen verständlichen, kohärenten Rahmen der Rechtmäßigkeit einordnen.
Auf den Punkt gebracht: Rechte an einer Sache werden zwar privat erworben, aber öffentlich genehmigt. Das individuelle Recht, eine Sache exklusiv zu erwerben, zu nutzen und als sein Eigentum zu besitzen, wird durch die Idee eines vereinigten Willens bedingt, die Erde gemeinsam zu besitzen, eine regulative Norm, nach der wir handeln müssen, wenn wir uns auf diesem Planeten als äußerlich frei verstehen. Ein vereinigter Wille aber kann nur in Form von Institutionen des öffentlichen Rechts vorhanden sein. Wenn es solche Institutionen in der Realität nicht gibt, dann bedeutet etwas rechtmäßig zu erwerben nur, dass man sich verpflichtet, diese Institutionen zustande zu bringen. Kant geht sogar so weit zu sagen, dass es so etwas wie ein (unmittelbares) Recht an einer Sache eigentlich nicht gibt. 10 6:261 Privateigentumsrechte richten sich ausschließlich gegen andere Individuen, mit denen man die Erde gemeinsam besitzt und somit bestimmte Erwartungen teilt, wie man sich unter einem universellen Gesetz der Freiheit zu verhalten hat. Das heißt, die privaten Eigentumsrechte setzen eine Gemeinschaft von Individuen voraus, die durch die Verletzung einer universellen Norm gegenseitig geschädigt werden können und von denen erwartet werden kann, dass sie diesen Schaden öffentlich wiedergutmachen. Dabei handelt es sich nicht um einen physischen, sondern um einen rechtlichen Schaden, eine Verletzung der Freiheit. Rechte an einer Sache zu erwerben bedeutet, dass man nach der Idee des ursprünglichen Gemeinschaftsbesitzes berechtigt ist, sich durch den unerwünschten Gebrauch einer anderen Sache verletzt zu fühlen – und zwar durch den Verletzer selbst.
Boden und vereinigter Wille
Kants Paradigma für den ursprünglichen Erwerb von Eigentum ist der Boden. Boden ist die Substanz allen Besitzes, der sichere Grund, auf dem bewegliche Dinge ruhen (§ 12). Wie Kant argumentiert, kann Grund und Boden ursprünglich nur in Übereinstimmung mit dem Prinzip des ursprünglichen Gesamtbesitz erworben werden, ein Prinzip, das wir annehmen müssen, um zwei unbedingten Naturtatsachen und einer materiellen Bedingung der Freiheit Rechnung zu tragen: erstens der Tatsache, dass wir an einem bestimmten Ort geboren werden, ohne dass wir eine Wahl haben; zweitens der Tatsache, dass die Orte, an denen Menschen geboren werden und leben, alle miteinander verbunden und aufgrund der kugelartigen Form des Planeten begrenzt sind; sowie drittens der Bedingung, dass alle menschlichen Handlungen einen bestimmten Ort erfordern, an welchen sie ausgeführt werden. Wie bringt der ursprüngliche gemeinschaftliche Besitz diese Tatsachen und Bedingungen in einen Rechtsrahmen, und was hat dies mit dem ursprünglichen Erwerb von Grund und Boden zu tun? Die Kernaussage findet sich in § 13 11 6:262 :
Alle Menschen sind ursprünglich (d.i. vor allem rechtlichem Akt der Willkür) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d.i. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat. Dieser Besitz (possessio)… ist ein gemeinsamer Besitz, wegen der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche, als Kugelfläche; weil, wenn sie eine unendliche Ebene wäre, die Menschen sich darauf so zerstreuen könnten, daß sie in gar keine Gemeinschaft mit einander kämen, diese also nicht eine notwendige Folge von ihrem Dasein auf Erden wäre.
Die Tatsache, dass wir irgendwo existieren, bevor wir selbst wählen können (und damit ein Recht darauf begründen), dass wir aufgrund der Kugeloberfläche der Erde gezwungen sind, aufeinander Rücksicht zu nehmen (und damit Gemeinschaften bilden müssen), bedeutet, dass jeder Mensch unabhängig von seinem eigenen Willen ein Recht darauf haben sollte, irgendwo zu existieren; außerdem entspringt dieses Recht nicht einer individuellen Handlung, sondern dem gemeinsamen Zustand aller, die auf der Erde existieren. Da aber ein gemeinsamer anthropologischer Zustand kein Recht auf irgendetwas gewähren kann — Rechte entstehen nur nach den Freiheitsgesetzen der praktischen Vernunft —, subsumiert die Idee des ursprünglichen gemeinsamen Besitzes diesen Zustand unter ein Prinzip der Vernunft. Dieses Prinzip autorisiert rückwirkend das nicht gewählte Zusammenleben auf der Erde als eine kollektive Entscheidung, den Planeten in einem System gleicher Freiheit mit allen zu teilen.
Der ursprüngliche Gesamtbesitz ist »ein praktischer Vernunftbegriff, der a priori das Prinzip enthält, nach welchem allein die Menschen den Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen können.« 12 6:262 . Welches Prinzip? Obwohl es hier nicht direkt erwähnt wird, muss es die Idee eines vereinigten Willens sein, denn der gemeinsame Besitz setzt einen gemeinsamen Willen voraus, der in seiner Absicht vereint ist, den individuellen Willen zu ermächtigen, die Erde in Übereinstimmung mit ihren Normen zu nutzen, zu erwerben und zu besitzen. Der ursprüngliche gemeinsame Besitz bietet somit einen möglichen sozialen Rahmen, der dem individuellen Bedarf, einen Ort auf dieser Erde zu nutzen, Rechnung tragen kann, bevor irgendeine Bedingung des Rechts festgelegt wird.
Die Idee eines vereinigten Willens gewährt eine vorläufige Ermächtigung – rückblickend begründet durch den gemeinsamen Besitz der Erde und prospektiv ausgerichtet auf eine potenzielle normative Ordnung – für jeden, einen anderen durch einen einseitigen Akt des Erwerbs privat von einem Stück der Erde auszuschließen. Der einseitige Erwerb von etwas wird normativ dadurch ermöglicht, dass wir als vernunftbegabte Wesen auf einem endlichen Planeten a priori einem gemeinsamen Willen angehören, der den Individuen das Recht einräumt, sich innerhalb einer kollektiven Ordnung der gegenseitigen Abhängigkeit voneinander zu trennen. Der Wille des Einzelnen, einseitig Land zu erwerben, ist also durch seine Zugehörigkeit zu einem a priori geeinten Willen gerechtfertigt, einer imaginierten Gemeinschaft aller, die die Erde vor jeglicher Festlegung von Rechten gemeinsam besessen hat und die den ersten Landerwerb durch Einzelne genehmigen könnte.
An dieser Stelle kann man fragen: Ist das nicht ideologisch? Ist diese Darstellung des apriorischen vereinigten Willens nicht einfach eine rückwirkende Rechtfertigung der individuellen Aneignung von Gemeindeland, der gewaltsamen privaten Enteignung von Gemeinschaftseigentum, der illegalen Eroberung und des Raubes von indigenem Territorium? Wie kann sich ein Volk gegen den Anspruch eines Einzelnen auf den exklusiven Erwerb eines Grundstücks wehren, wenn der vereinigte Wille einen solchen Erwerb zulässt oder ihn sogar um des Rechts willen fordert? Gibt es ein Besetzungsrecht als Gegengewicht zum Eigentumsrecht? Es gibt hier zwei Möglichkeiten, Kant zu lesen. Man kann Kant als Verfechter des bürgerlichen Eigentums lesen, wie Locke, dessen Eigentumstheorie eine Begründung für die koloniale Aneignung Amerikas liefert. Diese Lesart halte ich für zweifelhaft, da sich Kant in diesem Text ausdrücklich gegen kolonialen Landraub ausspricht, wie ich in meinem Buch erörtere. 13 Siehe Blumenfeld 2024, S. 84–89. Wenn er nicht glaubt, dass seine eigene Theorie eine solche Behauptung stützt, dann sollten wir sie wahrscheinlich anders lesen. Das bedeutet, dass wir das Recht, Land zu erwerben, bei Kant nicht als das Recht einer Einzelperson betrachten, irgendwo hinzugehen und etwas gegen alle anderen als sein Eigentum zu beanspruchen, sondern vielmehr als ein Recht innerhalb einer Gemeinschaft, die Erde so aufzuteilen, dass die Individuen die materielle Fähigkeit erhalten, ihre Freiheit auszuüben. Dieser letzteren Lesart folge ich hier.
Etwas Äußeres als mein Eigentum zu besitzen, wurde bereits durch das Postulat des Rechts und das Erlaubnisgesetz für möglich gehalten. Aber der Akt, etwas Äußeres tatsächlich zu erwerben, kann nur insofern rechtmäßig sein, als ich mich verpflichte, einen vereinigten Willen herbeizuführen, der meinen Akt als mit der Freiheit der anderen vereinbar autorisieren kann. Das heißt, obwohl Individuen durch einseitige Handlungen des Erwerbs keine Gesetze für andere schaffen können, können sie kollektiv ermächtigt werden, ihr Recht auf Besitz einseitig auf äußere Dinge zu übertragen. Die Quelle dieses Rechts liegt zwar in den Grundsätzen der praktischen Vernunft, seine Autorität muss jedoch von öffentlichen Rechtsinstitutionen ausgehen. Anstatt meine Aneignungshandlung als einen isolierten Akt zu begreifen, der gegen den Willen aller anderen vollzogen wird, sollten wir diese Handlung als individuelle Ausübung einer gemeinsamen Macht in Bezug auf eine äußere Sache verstehen. Diese gemeinsame Macht entsteht durch die Vereinigung unserer individuellen Willen zu einem omnilateralen Willen, d. h. zu einer verallgemeinerten öffentlichen Autorität, die in Übereinstimmung mit der Freiheit aller Gesetze erlassen und Zwang ausüben kann. Innerhalb dieser Ordnung können private Erwerbshandlungen öffentlich als für alle legitim anerkannt werden. Dieser einheitliche Wille ist keine einmalige historische Schöpfung, sondern eine rationale Norm, die durch die Verbindung unserer Rechtsprinzipien mit unseren materiellen Existenzbedingungen vorausgesetzt wird; diese Norm eines geeinten, allseitigen Willens wirkt somit als regulatives Ideal, nach dem die Legitimität der privaten Aneignung der Erde in der Gegenwart zu beurteilen ist.
Die unfreien Bedingungen der Freiheit
Ich möchte nun einige Konsequenzen aus diesen Thesen ziehen. Erstens: Um eine freie und eigenständige Person zu sein, muss man zunächst die gemeinsame Unfreiheit anerkennen, die mit der Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft einhergeht. Man ist auf einem Planeten gefangen, auf dem die Ressourcen begrenzt sind, und auf dem man gezwungen ist, mit anderen zu interagieren – im Prinzip ist jedes Individuum mit allen anderen durch den vereinigten Willen einer ursprünglichen Besitzgemeinschaft verbunden, die das Recht jeder Person a priori anerkennt, hier oder dort zu sein. Dieses Recht auf einen Platz auf Erden ist weder angeboren noch erworben, sondern ein Ergebnis unserer nicht gewählten Freiheitsbedingungen: die spezifischen, sozialen und materiellen Beziehungen von Land und Gemeinschaft, die unsere Wahlmöglichkeiten, unsere Besitznormen und unsere Erwerbsobjekte einschränken und auch ermöglichen. Indem wir diesen ursprünglichen Unfreiheitszustand nachträglich als unsere eigene Willensentscheidung reklamieren, interpretieren wir unsere kollektive Abhängigkeit voneinander als Bedingung für individuelle Freiheit und unsere einseitige Trennung als Ergebnis unseres gemeinsamen Besitzes neu.
Kants Argument setzt jedoch etwas »Natürliches« voraus – unsere kontingente Geburt auf einem kugelförmigen Planeten. Diesen Umstand integriert er begrifflich in den Rahmen des Rechts, was ein paar philosophische Zwischenschritte voraussetzt. Der erste ist die Behauptung, dass Menschen ein nicht dauerhaftes Recht haben, das Land zu besitzen, auf dem sie geboren sind 14 6:262 . Ohne ein solches Recht, wären Menschen der Gnade derjenigen ausgesetzt, die diesen Raum schon besitzen. Es könnte Menschen verwehrt bleiben, den Raum zu nutzen, in welchen sie hineingeboren wurden. Das »Geburts«-Recht ist zwar nicht das Ergebnis unserer Freiheit, kann aber vorläufig als Teil unserer Freiheit anerkannt werden, wenn wir uns darauf in einer Weise beziehen können, die eine öffentliche Rechtsordnung hervorbringt. Die Idee ist, dass wir alle frei sein müssen, um zu handeln, bevor wir wählen können, wo wir handeln, und das bedeutet, dass wir in der Lage sein müssen, den Raum der Freiheit zu besitzen.
Es gibt ein Problem mit diesem Argument. Geht Kant davon aus, dass Individuen abstrakt an einem Ort X auf die Welt kommen, damit sie ihre Freiheit gegen andere Individuen in der Umgebung dieses Ortes nutzen können? Offensichtlich werden die Menschen in Gemeinschaften geboren, die von sozialen Bindungen, familiären Bindungen und Abhängigkeitsverhältnissen geprägt sind. Die Notwendigkeit, den eigenen Lebensraum von Geburt an zu »schützen«, klingt wie ein hobbesianischer Alptraum, nicht wie ein Fakt der Natur. Was ist also der Zweck dieses ursprünglichen Besitzes von Land? Kants Argument ist eher theoretischer als praktischer Natur; es geht ihm nicht um die mythische Vergangenheit, sondern um unsere gegenwärtige Rechtfertigung des Erwerbs. Da jeder Erwerb in der Gegenwart von einem ursprünglichen Erwerb von Land abhängt, muss er zeigen, wie dieser ursprüngliche Erwerb vom Standpunkt des Rechts aus gerechtfertigt war. Der zweite Schritt besteht darin, den Standpunkt des Rechts von der Betrachtung rein formaler Verhältnisse der Willkür zwischen Personen, die unter einem universellen Freiheitsgesetz koexistieren, auf eine umfassendere Perspektive zu erweitern, die die materiellen Bedingungen der Willkür von Gemeinschaften einschließt, die auf einem runden Planeten zusammen miteinander koexistieren müssen. Interaktionen sind eine unvermeidliche Tatsache unserer Existenz, da die Oberfläche der Erde begrenzt und kontinuierlich ist.
Mit anderen Worten: Aufgrund einer kontingenten Tatsache über die Form der Erde sind wir gezwungen, mit anderen in Gemeinschaft zu treten. Das bedeutet, dass jeder, der individuell frei sein will, einen Weg finden muss, die Erde kollektiv zu bewohnen. Die Annahme von Normen für den ursprünglichen Erwerb von Land sollte es jedem ermöglichen, einen angemessenen Raum zu haben, in dem er seine Freiheit ausüben kann. Dazu müssen die Menschen ihre Verpflichtungen untereinander so umgestalten, dass im Prinzip jeder ein Stück Land erwerben kann, so dass jeder sein eigener Herr sein kann, indem er Ziele verfolgt und Mittel seiner Wahl an einem Ort einsetzt, den er sein Eigen nennen kann. Andernfalls gäbe es, gleich was man tut, keinen Ort, an dem man es rechtmäßig tun könnte. Das bedeutet nicht, dass Privateigentum die einzige Möglichkeit ist, das Rechtsverhältnis zu anderen hinsichtlich der Nutzung von Land und Gütern zu gestalten, sondern nur, dass ein solches Verhältnis nicht ausgeschlossen ist. Unabhängig davon, welche Eigentumsrechte und -verhältnisse entwickelt werden, muss es Wege geben, die es dem Einzelnen erlauben, externe Gegenstände als Mittel zu nutzen, um gemeinsam mit und unabhängig von anderen Menschen seine Ziele zu verfolgen.
Kant hat also recht, wenn er die normativen Konsequenzen unseres unfreiwilligen Zusammenlebens auf der Erde betont, und er hat recht, wenn er hervorhebt, wie die Freiheit unter bestimmten materiellen Grenzen, insbesondere räumlichen, Gestalt annimmt. Er irrt jedoch, wenn er behauptet, dass die unvermeidliche soziale Interaktion ein Nebenprodukt der Form der Erde ist, einer begrenzten und kontinuierlichen kugelförmigen Oberfläche, anstatt eine Bedingung des Menschseins an sich. 15 Siehe Kant, Rechtslehre §13 (6:272): „Alle Menschen sind ursprünglich (d.i. vor allem rechtlichem Akt der Willkür) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d.i. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat. Dieser Besitz (possessio), der vom Sitz (sedes), als einem willkürlichen, mithin erworbenen, dauernden Besitzunterschieden ist, ist ein gemeinsamer Besitz, wegen der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche, als Kugelfläche; weil, wenn sie eine unendliche Ebene wäre, die Menschen sich darauf so zerstreuen könnten, daß sie in gar keine Gemeinschaft mit einander kämen, diese also nicht eine notwendige Folge von ihrem Dasein auf Erden wäre.“ Rationalität ist keine präsoziale Fähigkeit des Individuums, sondern entsteht in Sprachgemeinschaften, die durch soziale Normen gebunden sind und kooperative Tätigkeiten ausüben. Der Mensch ist nicht nur für sein Überleben, sondern auch für sein Handeln auf die Gemeinschaft angewiesen. Es gibt kein a priori isoliertes Individuum, das von Geburt an in der Lage ist, allein zu denken und nur dann an einer Gemeinschaft teilnimmt, wenn es durch territorialen Zwang dazu gebracht wird. Mit anderen Worten: Die Gemeinschaft sollte die Voraussetzung und nicht das Ergebnis der Freiheit sein. Dies ist genau das Thema, das Hegel in seiner Kritik an Kants und Fichtes Theorie des Rechts entwickelt.
Doch Kants Argument könnte noch einen tieferen Sinn haben, nämlich den, dass es, obwohl Individuen in Gemeinschaften mit allen möglichen sozialen Bindungen und gemeinschaftlichen Normen hineingeboren werden, keine »natürliche« Rechtsgemeinschaft gibt. Eine Rechtsgemeinschaft ist überhaupt keine gegebene Gemeinschaft, sondern ein öffentliches, institutionelles Gefüge, in dem verschiedene Individuen und Gemeinschaften in gleicher Freiheit unter wechselseitig verbindlichen Gesetzen koexistieren können. Der einseitige Erwerb von Land durch Einzelpersonen in nicht-rechtlichen Gemeinschaften entspricht zwar der Form des Rechts, wird aber erst dann als Recht anerkannt, wenn sich diese Gemeinschaften in politische, rechtlich gebundene Körperschaften verwandeln. Bis dahin ist der Erwerb nur provisorisch.
Eine proto-sozialistische Sichtweise
Es gibt drei Hauptinterpretationen der von Kant vorgeschlagenen politischen Ordnung: einen libertären (oder klassisch liberalen) Minimalstaat, einen sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat und eine Art Sozialismus.
Die sozialistische Interpretation von Kant war unter den Neokantianern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts weit verbreitet, obwohl es auch einige zeitgenössische Interpretationen gibt, etwa Allen Wood, Kevin Dodson und Lea Ypi. Philosophen wie Hermann Cohen und Friedrich von Lange interpretierten Kants ethischen Imperativ, andere als Zweck und nicht als Mittel zu behandeln, im Einklang mit der wachsenden sozialistischen Arbeiterbewegung der damaligen Zeit; diese Bewegungen verteidigten die angeborene Würde der Arbeiter gegen ihre instrumentelle Nutzung durch Kapitalisten für Profit. Wie dies mit Kants tatsächlicher Staatstheorie in seiner Rechtslehre zusammenpasste, ist unklar.
Nach dem doppelten Niedergang der Arbeiterbewegung und der Neokantianer verlor diese Interpretation weitgehend an Bedeutung und wurde durch liberalere Lesarten Kants ersetzt, die ihn vor allem als Verteidiger des Privateigentums sahen. Mary Gregors einflussreiche Übersetzung und Interpretation der Metaphysik der Sitten ins Englische wurde zum Standard, während Wolfgang Kerstings umfassende Behandlung auf Deutsch den Ton für die dortige Wissenschaft angab. Zeitgenössische Libertäre wie B. Sharon Byrd und Joachim Hruschka haben diese Tradition durch exegetische Arbeit an Kants Rechtsquellen fortgesetzt.
Im Gegensatz zu diesen engen Rechtsauffassungen lesen Kant-Forscher wie Alexander Kaufmann, Paul Guyer und Arthur Ripstein, die vom Rawls’schen Liberalismus beeinflusst sind, die Rechtslehre nun im Einklang mit der sozialdemokratischen Theorie. Themen wie Wohlfahrt, Armut und Gleichheit werden nicht mehr als Fremdkörper in Kants Denken angesehen, sondern auf subtile, aber überzeugende Weise in die Struktur des Rechts integriert.
Was meine Interpretation von Kants Werk so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass ich glaube, dass sich aus Kants Werk eine eher proto-sozialistische Sichtweise ableiten lässt, und zwar nicht aus seiner Moraltheorie, sondern aus seiner Rechtstheorie. Kants Rechtstheorie des Eigentums legt eine offenere, provisorische Art von Politik nahe, die implizit, wenn nicht sogar explizit, auf einer Theorie der gegenseitigen Anerkennung beruht und nicht nur eine liberale Wirtschaftsordnung, sondern auch eine sozialistische begründen kann, in der Eigentumsverhältnisse nicht so festgeschrieben sind, wie wir es für gewöhnlich annehmen, da ihre Legitimität einem höheren Standard der Freiheit für alle entsprechen muss. Kant war ein merkwürdiger Revolutionär, der gegen die Revolution war. Ich denke, wir können ihn auch als merkwürdigen Liberalen lesen, der über den Liberalismus hinausweist.