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Keine Alternative?

War der Aufstieg des Neoliberalismus in den 1980er Jahren alternativlos? Und können wir etwas von seiner Geschichte für die Herausforderungen im 21. Jahrhundert lernen? In seinem Beitrag über das Buch »The Triumph of Broken Promises« von Fritz Bartel setzt Max Krahé sich mit diesen Fragen auseinander.

»The Triumph of Broken Promises« von Fritz Bartel erzählt uns eine neue Geschichte vom Ende des Kalten Krieges. Es stellt herkömmliche Darstellungen, die sich auf Reagans militärisch-ideologisches Bestreben oder Gorbatschows Offenheit für Reformen konzentrieren, in Frage. Stattdessen liefert das Buch eine materielle und strukturelle Erklärung für den Sieg des Westens und die Niederlage des Ostens. 1 In diesem Beitrag verwende ich »der Osten« oder »der Ostblock« und »der Westen« oder »westliche Staaten« usw., um die sieben europäischen RGW-Mitglieder (die UdSSR, Polen, Rumänien, Ostdeutschland, die Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien) bzw. die G7 (die sieben größten Marktwirtschaften der 1970er und 1980er Jahre, die Vereinigten Staaten, Japan, Westdeutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich, Italien und Kanada) und die kleineren demokratischen kapitalistischen Staaten wie Australien oder die Benelux-Staaten zu bezeichnen. Diese ist faszinierend: Finanz- und Energiewirtschaft entpuppen sich als stille, aber entscheidende Schlachtfelder, unerwartete Verbindungen – wie die zwischen japanischen Investoren und ungarischen Zentralbankern – treten in den Vordergrund, und einige Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West überraschen den Leser.

Das Buch ist jedoch mehr als nur faszinierende Geschichtsschreibung, es leistet auch einen tiefgründigen theoretischen Beitrag. Es zeigt die Bedeutung von zwei institutionellen Eigenschaften des demokratischen Kapitalismus auf, die im Staatssozialismus fehlten: die Trennung von Politik und Ökonomie und freie demokratische Wahlen. Außerdem wird die Bedeutung des Neoliberalismus als Ideologie hervorgehoben. Diese bot bestimmten westlichen Politikern den nötigen Rahmen, innerhalb dessen die Auflösung des sozialdemokratischen Keynesianismus gerechtfertigt, ja sogar zelebriert werden konnte. Die Anführer der staatssozialistischen Regime hingegen suchten vergeblich nach einer Erzählung, die vergleichbare Austeritäts- und Umstrukturierungspolitik hätte legitimieren können.

Diese Faktoren machen begreiflich, warum der Westen den Kalten Krieg gewann und warum dieser Sieg mit dem Aufstieg des Neoliberalismus zusammenfiel – und zum Teil durch ihn befeuert wurde. Darüber hinaus spricht das Buch eine Reihe weitergehender Fragen an: Was ist das Wesen der jüngsten Krisen des Kapitalismus? Was sind die Auswirkungen auf progressive Politik heute? Und ist die Gegenüberstellung von Kapitalismus und Sozialismus überhaupt ein sinnvoller Rahmen für die Erörterung dieser Fragen? 

Max Krahé

Max Krahé ist politischer Theoretiker und Ökonom. Er forscht zu Ideengeschichte, Arbeitsteilung und der Beziehung zwischen Demokratie und Kapitalismus. Max ist Postdoc am Institut für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen sowie Mitgründer und Forschungsdirektor des Dezernats Zukunft, einem deutschen Think Tank für Makrofinanzen.

Versprechen mussten gebrochen werden

Warum endete der Kalte Krieg mit der friedlichen Ausbreitung des liberalen Kapitalismus? Warum geschah dies 1989-91 und nicht ein Jahrzehnt früher oder später? Zur Beantwortung dieser Fragen stellen einige Historiker Präsident Reagans Konfrontationskurs mit der UdSSR oder das »Neue Denken« Michail Gorbatschows in den Vordergrund. Andere »konzentrieren sich auf die wirtschaftliche Stagnation des Ostblocks in den 1970er und 1980er Jahren«, getrennt von und im Gegensatz zu einem prosperierenden, dynamischen Westen. 2 Bartel, Fritz. 2022. The Triumph of Broken Promises: The End of the Cold War and the Rise of Neoliberalism. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, S. 11. Übersetzung der Zitate aus dem englischen Original durch Otmar Tibes.

Bartel erzählt uns eine andere Geschichte. Er stützt sich dabei auf neues Archivmaterial aus Westdeutschland, Großbritannien und den USA auf der einen Seite, und auf neues Archivmaterial aus Polen, Ungarn, Ostdeutschland und der Sowjetunion auf der anderen. Seine Darstellung betont die gemeinsamen (ökonomischen) Probleme, eher als die einzigartigen (westlichen) Stärken. Er betont strukturelle Faktoren – Wachstum, Finanzen, Energie – und weniger die Kontingenz individueller Entscheidungen. 

»Entgegen zuversichtlicher Vorhersagen sowohl des demokratischen Kapitalismus als auch des Staatssozialismus«, heißt es in der Einleitung, »stagnierte das Wirtschaftswachstum in beiden Systemen« in den 1970er und 1980er Jahren. 3 Bartel, S. 10, Kursivschrift im Original.  Tatsächlich, so erinnert uns das Buch, war es der Westen, der zeitgenössischen Beobachtern ökonomisch schwächer erschien: »Würde es den demokratischen Regierungen gelingen, das Rätsel der Stagflation zu lösen, wenn dies bedeutete, dass sie den Regierten schmerzhafte Entscheidungen zumuten mussten? Private Finanzexperten und -investoren sagten: nein.« 4 Bartel, S. 24.  Mit einem Fokus auf die Ökonomie sowie den gemeinsamen Herausforderungen in Ost und West ist dies eine neue und erfrischende Sicht auf die Dinge. Denn sowohl der Osten als auch der Westen standen vor ähnlichen Herausforderungen. Sogar ihre jeweiligen Analysen und Reaktionen darauf waren ähnlich. 

Anhand der Analyse von Politbüroprotokollen und internen Vermerken zeigt Bartel, wie beide Seiten zur selben Diagnose gelangten: Jahrzehntelange politische Versprechen hatten ein dichtes Geflecht von Verträgen, Vereinbarungen und Erwartungen geflochten, die alle auf hohen künftigen Wachstumsraten beruhten. In Anbetracht der Tatsache, dass die Wachstumsraten zurückgegangen waren, stellten regierende Politiker auf beiden Seiten fest, dass die darauf aufbauenden politischen Versprechen nicht mehr haltbar waren. Die Konsequenz: Versprechen mussten gebrochen werden. 

Auf Grundlage dieser Diagnose zeigt Bartel, dass es auch »eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen dem Kernprojekt neoliberaler Reformen, dem Thatcherismus, und dem bahnbrechenden Projekt der sozialistischen Erneuerung, der Perestroika« gab. 5 Bartel, S. 334.  Beide zielten darauf ab, »harte Wirtschaftsreformen im Inland durchzusetzen, in der Hoffnung, dadurch das Wirtschaftswachstum wieder anzukurbeln«. 6 Bartel, S. 13-14.

Dass der Thatcherismus einen »Rückgang des Lebensstandards sowie noch mehr Arbeitslosigkeit« und eine direkte Konfrontation mit den Gewerkschaften 7 Bartel, S. 78.  bedeutete – in der Hoffnung, dass »zehn Jahre knallharter Wirtschafts- und Industriepolitik« die Investitionen ankurbeln und neuen Wohlstand bringen würden 8 Bartel, S. 346.  -, ist allgemein bekannt. Überraschend ist jedoch Bartels Feststellung, dass der Osten ein ähnliches Projekt verfolgte: Sowjetische Ökonomen erklärten unverblümt, dass die Perestroika den »staatlichen Zwang« durch den »wirtschaftlichen Zwang« des Marktes ersetzen müsse. 9 Bartel, S. 185.  Sie »beklagten die ‚strukturelle Erschöpfung‘ ihrer industriellen Wirtschaft und die ‚egalitäre Stimmung‘ in der Bevölkerung«. 10 Bartel, S. 346. 11 Nicht nur Sowjetische Ökonominnen vertraten diese Diagnose. Ungarische staatssozialistische Wirtschaftswissenschaftler fanden ebenso deutliche Worte: »Wenn sich das Land erholen soll, müssen Partei und Regierung ineffiziente Unternehmen schließen, den Forint konvertierbar machen, Importe liberalisieren, Unternehmenssteuern und Subventionen kürzen, eine restriktive Geldpolitik betreiben und eine größere Lohnungleichheit zwischen den Arbeitnehmern je nach ihrer Produktivität zulassen.« (S. 237)  Gewiss suchten Gorbatschow und andere Regierungsvertreter in der Sowjetunion zunächst nach einem Weg, das Wachstum anzukurbeln, ohne soziale Härten in Kauf nehmen zu müssen: »Als ein Land, in dem die Macht in den Händen der Arbeiter liegt, ist es nur natürlich, dass wir keine Arbeitslosigkeit haben wollen.« Da aber keine Lösung gefunden wurde, musste Gorbatschow selbst zugeben, dass »Arbeitslosigkeit … im Zuge der Perestroika unvermeidlich sei«. 12 Bartel, S. 188.

Sowohl die Perestroika als auch der Thatcherismus standen folglich für eine Politik, nach welcher soziale und ökonomische Sicherheit zurückgefahren werden musste, um Effizienzgewinne zu erzielen und absteigende Wirtschaftszweige wieder in prosperierende zu verwandeln. Diese Gemeinsamkeit zwischen Ost und West mag für heutige Leser ungewöhnlich und kontraintutiv klingen. Doch wie Bartels Archivarbeit belegt, wurde sie bereits damals hinter verschlossenen Türen als solche erkannt. 13 „Auch sie führen eine Perestroika durch“, sagte Gorbatschow 1987 auf einer Politbürositzung über Margaret Thatcher und ihre Regierung. Bei einem bilateralen Treffen 1989 drückte die Eiserne Lady ihrerseits ihre Empathie „für die Ungeheuerlichkeit von [Gorbatschows] Herausforderung“ aus, denn da sie zu Hause „eine analoge Perestroika“ eingeleitet hatte, wusste sie, wie schwierig seine Aufgabe war (S.13).

Leichter gesagt als getan

Die Umsetzung von Perestroika und Thatcherismus war jedoch leichter gesagt als getan. Während beide Seiten zu dem Schluss kamen, dass es keine Alternative zum Bruch mit alten politischen Versprechen gab (insbesondere durch Verringerung des Lohnwachstums und Abbau ökonomischer Sicherheit), konnte nur der Westen diesen Bruch politisch umsetzen. Warum dies so war, ist vielleicht die zentrale Frage des Buches, vor allem weil starke Gewerkschaften, demokratische Wahlen, steigende Inflation und ein allgemeines Unbehagen damaligen Politikerinnern und Politikern noch wie unüberwindbare Hindernisse schienen.

Zwei institutionelle Eigenschaften des demokratischen Kapitalismus spielen in Bartels Geschichte eine zentrale Rolle: die Trennung von Politik und Ökonomie und freie demokratische Wahlen. Sie machten das westliche System im Vergleich zum östlichen flexibler. Neoliberale Denker und Politiker konnten Ausgabenkürzungen und eine Verringerung ökonomischer Sicherheit damit rechtfertigen, dass sie unternehmerische Energien freisetzen und dies wiederum die Freiheit der Bürger erweitern würde. Ideologisch war dies ein klarer Bruch mit der keynesianischen Nachkriegsordnung. Zugleich war der Neoliberalismus aber mit dem demokratischen Kapitalismus ideologisch vereinbar. Er ermöglichte die »legitime Auffassung«, dass sie das Richtige taten, was »entscheidend« war, als westliche Regierungen dazu übergingen, mit bestehenden politischen Versprechen zu brechen und alte Erwartungen zu enttäuschen. 14 Bartel, S. 14.

Demokratische Wahlen wiederum ermöglichten es, dass der Ärger über enttäuschte Erwartungen in einen systeminternen Wettbewerb mündete und nicht in Forderungen nach einem Systemwechsel. In Bezug auf den Thatcherismus »ermöglichten es ihr die Wahlen, glaubhaft zu behaupten, dass sie keine Verantwortung für die vergangene Regierungspolitik trage, und flößten den meisten Briten das Vertrauen ein, dass ihre Politik legitim sei«, selbst als Thatcher das Versprechen der Vollbeschäftigung auflöste, Sparbudgets verabschiedete und brutal gegen die Gewerkschaften vorging. 15 Bartel, S. 76-7.

Im Gegensatz dazu, so Bartel, »ergab der Kommunismus … in einer Ära gebrochener politischer Versprechen keinen Sinn« mehr. 16 Bartel, S. 347.  Da der Staatssozialismus die ökonomische Sphäre in die politische vollständig integrierte, konnten die Regierungen die Verantwortung für die wirtschaftliche Misere nicht von sich weisen. An einer Wirtschaftskrise war zwangsläufig immer das politische Regime schuld. Natürlich gab es Versuche führender Politiker einen Bruch mit bestehenden Versprechen zu legitimieren: Károly Grósz, Ungarns vorletzter kommunistischer Führer, argumentierte etwa, dass »der Marxismus nie für Gleichheit stand, sondern für das Postulat der Chancengleichheit«. Doch seine unorthodoxe Argumentation verfing nicht: Im Dezember 1986 musste er feststellen, dass die ungarische Gesellschaft die zunehmende Ungleichheit »immer noch kaum toleriere«. 17 Bartel, S. 237. 18 Auch Gorbatschow „versuchte, die kommunistische Ideologie zu reformieren, um sie mit einem fordernden Gesellschaftsvertrag in Einklang zu bringen“. Doch auch sein Versuch scheiterte: Er „sah sich außerstande, das … ideologische Erbe des Marxismus-Leninismus zu überwinden.“ (S. 170)

Das Fundament von TINA: die Trennung von Politik und Ökonomie

Die vielleicht wichtigste Eigenschaft, die es dem demokratischen Kapitalismus ermöglichte, bestehende Versprechen zu brechen, ohne dadurch das System zu sprengen, war die Trennung von Politik und Ökonomie. Diese für den Kapitalismus charakteristische Eigenschaft hatte zwei Auswirkungen. Erstens bedeutete sie, dass westliche Regierungen immer nur versprochen hatten, die wirtschaftlichen Ergebnisse zu beeinflussen, aber nie, die Ökonomie vollständig zu kontrollieren. Dies wiederum bedeutete, dass westliche Regierungen, selbst auf dem Höhepunkt des sozialdemokratischen Modells, nie die gleichen ehrgeizigen Versprechen gemacht hatten wie der Kommunismus, der seinerseits Planwirtschaft und eine vollständige Sozialisierung der Lebens- und Wirtschaftsrisiken versprochen hatte: »Demokratische kapitalistische Regierungen machten ihren Bürgern weniger politische Versprechen, und das bedeutete, dass sie weniger politische Versprechen brechen mussten«. 19 Bartel, S. 18.

Zweitens schuf die Trennung von Politik und Ökonomie einen Begriff, bzw. ein diskursives Objekt – nämlich die unpolitische Wirtschaft –, auf das sich die westlichen Eliten berufen konnten, um das Brechen von Versprechen zu rechtfertigen. Wenn im Westen Wirtschaftsreformen eingeleitet wurden – seien es keynesianische Konjunkturprogramme oder Sparmaßnahmen, Steuererhöhungen oder -senkungen, Deregulierung oder Neuregulierung -, konnten die anschließenden Entwicklungen wie Inflation, Arbeitslosigkeit, Streiks, Wachstumsraten oder Währungsschwankungen als Indikatoren für den Erfolg oder Misserfolg dieser Maßnahmen gewertet werden. Die Wechselwirkung von Politik und diesen ökonomischen Indikatoren war zwar komplex und unscharf, aber da im Kapitalismus, so die Logik, »die Wirtschaft unpolitisch ist«, war die grundsätzliche Integrität dieser Indikatoren unabhängig von der Glaubwürdigkeit der Regierung. Allein mit ihrer Rhetorik hätte Margaret Thatcher wohl keine Mehrheiten von der Notwendigkeit ihrer Sparmaßnahmen und der Konfrontationspolitik mit den Gewerkschaften überzeugen können. Im Zusammenspiel mit hoher Inflation, hoher Arbeitslosigkeit und geringem Wachstum hingegen schon.

Die Funktionsweise dieses Mechanismus lässt sich am besten anhand eines Beispiels nachvollziehen. Bartel verweist auf den Fall des konservativen Premierministers Ted Heath. Diesem gelang es nicht, eine Mehrheit für das Brechen bestehender politischer Versprechen aufzubringen: eine »politics of breaking promises«, wie Bartel sie nennt. Als er sich 1974 mit den Gewerkschaften anlegte und zur Bekämpfung der Inflation auf ein geringeres Lohnwachstum drängte, verlor er die nächste Wahl. 20 Ähnliche Wahlniederlagen erlitten auch andere westliche Regierungschefs, die als erste versuchten, eine Politik der gebrochenen Versprechen umzusetzen, z. B. US-Präsident Gerald Ford bei den Zwischenwahlen 1974 und den Präsidentschaftswahlen 1976 oder der französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing 1981.  Dieser Fall bestätigte die Überzeugung der Tory-Granden, dass es besser sei, den mächtigen britischen Gewerkschaften entgegenzukommen, anstatt sich mit ihnen anzulegen. Selbst nachdem Thatcher 1975 die Wahl um den Vorsitz der konservativen Partei gewann, »begruben die Tory-Granden, die überlebt hatten, indem sie einen Konflikt mit den Gewerkschaften vermieden«, Thatchers gewerkschaftsfeindliches, monetaristisches und ausgabenkürzendes Programm »unter ohrenbetäubendem Schweigen«. 21 Bartel, S. 81.

Wäre diese »Beerdigung durch ohrenbetäubendes Schweigen« weitergegangen, hätten selbst demokratische Wahlen nicht dazu beigetragen, eine Politik gebrochener Versprechen im Vereinigten Königreich umzusetzen, denn weder die Tory noch die Labour Partei hätten der Bevölkerung diese politische Option angeboten. Die wirtschaftlichen Indikatoren der Jahre 1976 bis 1979 – die anhaltende Stagflation, die Währungskrise von 1976 und die Rettungsaktion des IWF sowie der »Winter of Discontent« von 1978/79 – überzeugten die britische Öffentlichkeit jedoch davon, dass die bisherigen politischen Versprechen nicht mehr einlösbar waren. Thatcher verursachte diesen Meinungsumschwung nicht, sondern folgte ihm. Erst nachdem die öffentliche Meinung hinsichtlich der Einhaltbarkeit bisheriger politischer Versprechen sich geändert hatte, konnte sie die Tory-Granden davon überzeugen, mit ihrem Hardline-Programm in den Wahlkampf zu ziehen. Damit trat die Partei 1979 schließlich an – zugespitzt auf Wahlsprüche wie »Labour funktioniert nicht« und »Es gibt keine Alternative« – und gewann die Wahl.

Die zentrale Bedeutung der Trennung von Politik und Ökonomie für diesen Meinungsumschwung wird in einem Kapitel deutlich, in dem Bartel die Versuche Polens und des Vereinigten Königreichs, die Wirtschafts- und Legitimationskrisen der 1970er Jahre zu überwinden, miteinander vergleicht. Auch führende polnische Politiker gingen von der Notwendigkeit aus, Spar- und Umstrukturierungsmaßnahmen durchsetzen zu müssen, und glaubten, dass sie eine kritische Masse der polnischen Bevölkerung vorher von dieser Notwendigkeit überzeugen mussten, ehe sie ihre Politk in die Tat umsetzen konnten. Während in Großbritannien aber die Eskalation der dortigen Wirtschaftskrise eine Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugte, dass es keine Alternative zum Bruch mit den bisherigen politischen Versprechen gab – weil Inflation, Arbeitsunruhen und andere wirtschaftliche Signale als objektive Beweise des Scheiterns der alten Wirtschaftspolitik betrachtet wurden -, wurden ähnliche Entwicklungen in Polen als Versagen des politischen Regimes gedeutet.

Aufgrund der Trennung von Politik und Ökonomie wurden die westlichen Versuche, die Vereinbarungen und Erwartungen der Goldenen Ära des Kapitalismus aufrechtzuerhalten, als weitgehend unpolitische und objektive Misserfolge verstanden, da sie zu Inflation, Streiks und Währungskrisen geführt hatten. Diese Deutung unterstützte anschließend die Demontage des sozialdemokratischen Keynesianismus. Im Gegensatz dazu wurden Versuche, ähnliche Versprechen im Osten aufrechtzuerhalten, als rein politische Misserfolge verstanden als sie zu wachsender Verschuldung, Knappheit und steigenden Schwarzmarktpreisen führten. Diese untergruben daher die Unterstützung für die staatssozialistischen Regime.

Im Inland Versprechen brechen, im Ausland Macht aufbauen

Gestützt von neoliberaler Ideologie, freien demokratischen Wahlen und der Trennung von Politik und Ökonomie konnten die westlichen Regierungen bisherige politische Versprechen also brechen, während die östlichen Regime sich nur noch Zeit erkaufen konnten. Dadurch wurde der Kalte Krieg auf den Kopf gestellt. Nach einer Serie von Krisen in den 1970er Jahren führte der Westen schließlich eine »kapitalistischen Perestroika« – eine von Bartels vielen geschickten Formulierungen – durch. Diese bestand aus drei Säulen: dem Bruch bisheriger politischer Versprechen im eigenen Land, der Umkehrung der Zahlungsbilanz im Außenhandel und der Umkehrung internationaler finanzieller Abhängigkeiten zum Vorteil westlicher Staaten.

Die erste Säule war von zentraler Bedeutung: Im Vereinigten Königreich verabschiedete Margaret Thatcher 1981 ihren ersten harten Sparhaushalt, »den entscheidenden Meilenstein in der fiskalischen Geschichte des Thatcherismus«, und setzte sich im Machtkampf gegen die National Union of Mineworkers durch. 22 Bartel, S. 92.  In den USA brach Ronald Reagan den PATCO-Streik, setzte Jimmy Carters Deregulierungskurs in Bezug auf das Finanzwesen, den Telekommunikationssektor und das Transportwesen fort, halbierte den effektiven Steuersatz auf Kapitalerträge und lieferte Paul Volcker die politische Rückendeckung, um die Zinssätze auf das »höchste Niveau seit der Geburt von Jesu Christi« zu erhöhen. 23 Bartel, S. 117.  

Der Bruch mit den alten Versprechen aus den Wirtschaftswunderjahren (insbesondere Vollbeschäftigung und der Vorrang von Arbeitnehmerinteressen gegenüber Kapitalanlegern) »schuf eine perfekte Konstellation attraktiver Bedingungen für das Kapital«. 24 Bartel, S. 124. Die Anleger wussten nun, dass ihre Interessen Vorrang haben würden. Als die alten politischen Versprechen im Westen gebrochen wurden, strömte das Kapital, das zuvor in den globalen Süden und die staatssozialistischen Länder geflossen war, plötzlich zurück in den globalen Norden und ließ sowohl den Süden als auch den Osten zurück.

Hierauf basierten die zweite und dritte Säule der »kapitalistischen Perestroika«. Während öffentliche Haushaltsdefizite zuvor für Anzeichen gefährlicher Zugeständnisse westlicher Regierungen an die Interessen der Gewerkschaften und der Arbeitnehmerinnen gehalten wurden, die unweigerlich zu einer Inflation führen würden, sahen die selben Haushaltsdefizite plötzlich wie attraktive Investitionsmöglichkeiten aus. So konnte die Reagan-Regierung plötzlich alles haben: Waffen und Butter, Verteidigungsausgaben und Steuersenkungen; beides konnte gleichermaßen finanziert werden, ohne den US-Dollar zu schwächen oder die Inflation zu erhöhen.

Auch die internationalen Folgen waren gravierend. Als die USA (und in geringerem Maße das Vereinigte Königreich) dem Rest der Welt Kapital entzogen, mussten die Schuldnerländer um jeden Dollar kämpfen. Dies ermöglichte der US-Regierung, der Federal Reserve und dem IWF, die gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisse abzuwickeln, die zuvor zwischen Schuldnern und Gläubigern bestanden hatten. Indem sie finanziell labileren US-Kreditgebern genügend Zeit einräumten, ihr Engagement zu reduzieren und abzusichern, wurde die Abhängigkeit einseitig. Auf diese Weise konnte »die Reagan-Regierung und der IWF dem Rest der Welt ihre ökonomische Vision aufzwingen«. 25 Bartel, S. 125.

Ende des Kalten Krieges

Damit kam ein Ende des Kalten Krieges in Sicht. Dank der vorigen Disziplinierung der amerikanischen Arbeiterinnen und Arbeiter und dank des Volcker-Schocks erreichte Reagan mit seinen massiven und ungeplanten Haushaltsdefiziten das, was seine Außenpolitik nicht vermochte: das Austrocknen der Kreditvergabe an den Ostblock. 26 Als Ronald Reagan an die Macht kam, versuchte er, den Ostblock mit traditionellen außenpolitischen Mitteln unter Druck zu setzen: Sanktionen gegen sowjetische Energieexporte und den Zugang der östlichen Regierungen zu den Finanzmärkten. Dieser Versuch schlug fehl: Ein großes sowjetisch-deutsches Pipeline-Projekt, das er zu blockieren versuchte, wurde dennoch durchgeführt. Ähnliche Bemühungen, den Zugang der östlichen Regierungen zu den internationalen Kapitalmärkten zu sanktionieren, blieben unvollständig.  Bartel bezeichnet diese Defizite daher als eine »finanzielle Aufrüstung«: eine äußerst treffende Formulierung.

Diese war für den Ostblock auf unerwartete Weise verheerend. Eine der faszinierendsten Nebenhandlungen des Buchs ist die zentrale Bedeutung der internationalen Kapitalmärkte für das Ende des Kalten Krieges. Als das Wachstum in den 1970er Jahren zurückging, reagierten sowohl der Osten als auch der Westen zunächst mit Kreditaufnahmen: »Der Impuls, weiterhin Versprechen zu machen, war ganz natürlich«, und »die Regierungen fanden im Finanzkapital einen Rettungsanker, der es ihnen ermöglichte, weiter Versprechen zu machen«. 27 Bartel, S. 345.  Dieser Rettungsanker war verfügbar, weil die Petrostaaten im Zuge der Ölkrisen riesige Exportüberschüsse angehäuft hatten, die nun für internationale Kredite zur Verfügung standen.

Die Abhängigkeit von diesem Rettungsanker war jedoch asymmetrisch. In den frühen 1970er Jahren wirkte der Westen instabil und stagflationär. Vor dem Aufkommen des Neoliberalismus untergrub der keynesianische Konsens die Ansprüche des Kapitals. Infolgedessen verloren die Investoren relativ bald ihre Geduld. Im Vereinigten Königreich war dies bereits 1976 der Fall, in den USA 1978-79, in Frankreich 1981-83. Als dies geschah, hatten die jeweiligen Länder keine andere Wahl mehr, als bestehende Versprechen zu brechen.

Im Gegensatz dazu war der Osten mit »Energie, Autoritarismus und ausbleibender Inflation« gesegnet. 28 Bartel, S. 24.  Dies ermöglichte es den Regimen im Osten, sich in großem Umfang auf den internationalen Kapitalmärkten zu verschulden. 29 Bartel, Abbildung 1.2, S. 46.  Erst als der Westen seine Versprechen zuhause brach, und damit wieder attraktiv für Investoren wurde, konnte der Osten keine Kredite mehr aufnehmen. Dies stürzte den Ostblock in eine Krise und zwang seine Regime, ebenfalls alte politische Versprechen zu brechen.

Dies wurde ihnen zum Verhängnis. Zwar hatten die sowjetischen Regime versucht, Sparmaßnahmen friedlich umzusetzen, doch gelang es nicht, die Bevölkerung von der Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu überzeugen. Angesichts der ideologischen Erschöpfung des Staatssozialismus war jedoch auch Gewalt keine Option mehr. Brutalität verschreckte westliche Gläubiger, wie die polnische Regierung nach 1981 schmerzlich erfuhr. Selbst bestehende Kredite konnten dann nicht mehr verlängert werden und wurden stattdessen vollständig fällig, so dass Gewaltanwendung letztlich noch stärkere Sparzwänge verursachte.

Als weder friedliche Sparmaßnahmen noch Gewalt in Frage kamen, entschieden die östlichen Regierungen sich schließlich für eine Aufgabe von Macht. In Osteuropa »gaben sie ihre Macht auf … um die politische Legitimität zu erlangen, die sie für notwendig hielten, um das Brechen alter politischer Versprechen in ihren Ländern durchzusetzen«, schreibt Bartel. 30 Bartel, S. 17.  Die Sowjetunion übernahm die Sinatra-Doktrin und beendete damit das Satellitenstaatensystem. Auch in Ostdeutschland, dem Juwel in der sowjetischen Krone, zog Gorbatschow eine Aufgabe von Macht gegenüber Gewalt oder ökonomischer Disziplinierung vor. Er entschied sich für den »Reichtum des Rückzugs«, 31 Bartel, S. 237.  über zwanzig Milliarden D-Mark aus westdeutschen Zuschüssen und subventionierten Krediten, die an einen friedlichen Abzug der Roten Armee aus Ostdeutschland gekoppelt waren. 32 Bartel, S. 295.

Die osteuropäischen Revolutionen von 1989-1990 hatten also »ihren Ursprung nicht in der sozialistischen Welt mit der Perestroika«, wie gemeinhin angenommen wird. 33 Bartel, S. 200.  Ebenso wenig hatten sie ihren Ursprung in »Wandel durch Handel« oder in den weicheren, kulturellen Komponenten der Ostpolitik. Stattdessen, so Bartel, wurden sie von einem Peitscheneffekt angetrieben, bei dem Energie, Finanzen und Politik auf unerwartete Weise zusammenwirkten: Anfang der siebziger Jahre ermöglichten die neu erschlossenen Energievorkommen des Ostens eine (nach außen) stabile Politik und eine umfangreiche Kreditaufnahme aufgrund guter Kreditwürdigkeit. Die Abhängigkeit des Westens von Energieimporten sowie das mangelnde Vertrauen von Finanzinvestoren und (scheinbare) politische Unfähigkeit, Versprechen zu brechen, bedeuteten wiederum, dass es weniger leicht war, einfach Zeit zu erkaufen und abzuwarten. Entscheidende Konfrontationen zwischen der Finanzwelt und den westlichen Regierungen fanden deshalb vergleichsweise früh statt. 

Doch als die Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre dazu beitrugen, Mehrheiten im Westen davon zu überzeugen, dass alte politische Versprechen tatsächlich gebrochen werden mussten, wendete sich das Blatt. Nachdem die Arbeiterinnen und Arbeiter diszipliniert waren, kam das Kapital zurück. 

Gerade weil sich die Regime zuvor so viel Geld geliehen hatten, war der Osten nun exponiert. Und da die östlichen Regierungen nicht in der Lage waren, politische Versprechen im eigenen Land zu brechen, ohne große Gegenreaktionen auszulösen, und auch nicht mehr davon überzeugt waren, dass gewaltsame Unterdrückung die Lösung sei, gaben sie angesichts der revolutionären Wellen nach. Im Grunde war das Ende des Kalten Krieges also eine »ökonomische Anpassung«, die im Westen mit großer politischer Anstrengung gelang, im Osten hingegen scheiterte. Im Osten war sie ein »ökonomischer Umbau, getarnt als politische Revolution«. 34 Bartel, S. 199.

Zeit erkaufen oder Versprechen brechen? Implikationen für die Krisentheorie

Die Implikationen von Bartels Buch sind bemerkenswert. Sie untergraben jegliche Vorstellung von westlichem Triumphalismus. Für Bartel »hat der demokratische Kapitalismus den Kalten Krieg gewonnen, weil er sich als fähig erwies, alte politische Versprechen zu brechen und ökonomische Disziplin durchzusetzen. Der Kommunismus kollabierte, weil er das nicht konnte.« Indem es veranschaulicht, wie das „Brechen von Versprechen“ in der politischen Praxis aussah, stellt das Buch unweigerlich die Frage, wer eigentlich genau den Kalten Krieg gewonnen hat: ein allgemeiner »Westen« oder ganz bestimmte Untergruppen dort und anderswo? Diese Frage bleibt offen, doch wird umso klarer, dass Kompetenzen im Brechen alter politischer Versprechen und das Gewinnen auf Kosten anderer einem westlichen Triumphalismus nicht zuträglich sind.

Auch äußert sich Bartel kritisch gegenüber den Ergebnissen der friedlichen Revolutionen in Osteuropa: Als demokratische Wahlen und die neoliberalen Märkte nach Osteuropa kamen, schrieb er, »wurde die politische Macht nur deshalb an das Volk zurückgegeben, damit die Macht des Volkes, sich der Regierung zu widersetzen, überwunden werden konnte«. 35 Bartel, S. 344-5.  Volkssouveränität in Osteuropa war kein Mittel, sich der ökonomsichen Alternativlosigkeit à la Thatcher zu widersetzen, sondern ein Mittel, sie umzusetzen.

Der theoretische Rahmen von gekaufter Zeit und gebrochenen Versprechen adressiert aber noch weitere Fragen, die über den Kalten Krieg und seine Nachwirkungen hinausgehen. Was die Dynamik des demokratischen Kapitalismus betrifft, so stellt »The Triumph of Broken Promises« die jüngsten Krisentheorien in Frage, die einen unvermeidlichen Zusammenbruch vorhersagen. Vertreter dieser Theorie betonen angesichts stagnierender Wachstumsraten die Unzulänglichkeiten des strategischen »Zeitkaufs«. Mit Problemen wie Staatsverschuldung, Inflation und andere Mechanismen kann man vielleicht eine Weile davon ablenken und Zeit gewinnen, am Ende des Tages werden Wähler:innen oder Investoren aber bitter enttäuscht werden. Wenn dieser Tag kommt, bricht der demokratische Kapitalismus zusammen.

»The Triumph of Broken Promises« hält dieser Theorie entgegen, dass es der Ostblock und nicht der Westen war, der politisch auf einen Zeitgewinn setzen musste. Während man sich im demokratischen Kapitalismus die Trennung von Politik und Ökonomie zunutze machen konnte, um alte politische Versprechen zu brechen, war dies im Staatssozialismus nicht möglich.

Zugegeben, die Bedingungen für das Brechen alter politischer Versprechen haben sich mittlerweile geändert. Auch nähern sich die ideologischen Ressourcen des Neoliberalismus heute der Erschöpfung, insbesondere seit 2008. Unsicherheit und Ungleichheit haben allgemein zugenommen, in der englischsprachigen Welt auf dramatische Art und Weise. Auch das Vertrauen in die Fairness von Wahlen ist gesunken und der demokratische Charakter westlicher Regierungen wird vielerorts angezweifelt. All das wirft die Frage auf, inwieweit Wahlen noch eine Legitimation für schmerzhafte politische Entscheidungen bieten können.

Nicht nur die Umstände, auch die Substanz einer »Politik der gebrochenen Versprechen« könnte für den demokratischen Kapitalismus heute zu einer ungleich größeren Herausforderung werden, als sie es nach 1979 war. Während man nach den 1970er Jahren vor allem Versprechen an die Arbeitnehmer:innenschaft brach, drehen sich die Krisen seit 2008 um Finanzialisierung, Ungleichheit, mangelnde Gesamtnachfrage und Umweltzerstörung. Dies deutet darauf hin, dass es dieses Mal Versprechen an CO2-Milliardäre und -Millionäre gebrochen werden müssen – ein potenziell schwierigerer Auftrag.

Die Trennung von Politik und Ökonomie könnte eine entsprechende Anpassung trotzdem abermals erleichtern. Der Neoliberalismus ist schließlich nur eine Variante des demokratischen Kapitalismus. Andere Modelle wie der technokratische Keynesianismus, der demokratische Keynesianismus mit Vollbeschäftigung oder ein »Big Green State« stehen in den Startlöchern. Die Trennung von Politik und Ökonomie kann ähnliche Feedbackschleifen zu Problemen und politischen Reaktionen (sei es in Bezug auf Arbeitslosigkeit, Streiks oder Inflation) ermöglichen wie in den 1970er und 1980er Jahren – und wieder einmal den von den Krisentheoretikern vorhergesagten Zusammenbruch umgehen.

Man könnte argumentieren, dass genau das in den letzten fünfzehn Jahren in den USA passiert ist, von der Großen Finanzkrise bis zum Inflation Reduction Act. Auch in der EU sind ähnliche, vielleicht langsamere Lernprozesse erkennbar, von der ersten Griechenlandkrise bis zum NextGenEU-Programm. Auch hier war der Mechanismus wie folgt: Ein erschöpftes politisches Paradigma wurde über seine Grenzen hinausgetrieben; ökonomische Indikatoren (in diesem Fall geringes Wachstum, niedrige Inflation und niedrige Zinsen) deuteten auf sein Scheitern hin; die Überzeugungen der Bevölkerung über machbare Alternativen änderten sich; und die Politik folgte der Meinung und änderte die Politik. Wie in den siebziger und achtziger Jahren war auch dieser Prozess langsam und schmerzhaft. Es war ein kontingenter Prozess, der auch anders hätte verlaufen können. 36 Das nahezu katastrophale Verhalten der Republikanischen Partei im US-Kongress im Jahr 2008, das in Adam Tooze’s »Crashed« beleuchtet wird, kommt einem sofort in den Sinn.  Dennoch scheint der demokratische Kapitalismus sich nach über einem Jahrzehnt der Krise eher in Richtung Anpassung als in Richtung Selbstzerstörung zu bewegen. Auch wenn die Dauerhaftigkeit und Zukunft dieser Gesellschaftsform eine offene Frage bleibt, deutet doch vieles darauf hin, dass das Brechen von Versprechen kein einmaliger Trick war.

Utopien der Vergangenheit und Gegenwart

Bartels Buch stellt nicht nur die jüngste Krisentheorie in Frage, es hat auch weitreichende Implikationen für progressive Politik heute: Wie kann man sich ein Ende des Kapitalismus überhaupt vorstellen? Wenn sich die Utopie erschöpft hat (Habermas), die Geschichte zu Ende ist (Fukuyama), der Kapitalismus alleine dasteht (Milanovic) und »kapitalistischer Realismus« vorherrscht (Fisher), welche Art von alternativer Zukunft können wir uns dann noch glaubhaft ausmalen? Für diejenigen von uns, die progressiv-politische Vorstellungen in die historische Forschung über die 1970er und 1980er Jahre einbringen, verknüpft sich dies mit der Frage: Was war der nicht eingeschlagene Weg? Wenn es damals wirklich keine Alternative gab, sind wir uns sicher, dass es heute eine gibt? 

Indem Bartel detailliert zeigt, wie alle zur Verfügung stehenden Alternativen von sozialistischen Anführern ausgeschöpft wurden – vom Zeiterkauf bis zum Streben nach Wachstum, von der Abrüstung bis zum Abbau des Sowjetimperiums -, fordert er uns auf, die Wohlstand-durch-Produktions-Utopien, die dem staatssozialistischen Projekt und einigen seiner westlichen Vettern zugrunde lagen, loszulassen. Die kommunistischen Regime waren bei ihrer Suche nach Alternativen zum Neoliberalismus und zur Austerität hoch motiviert. Und sie waren damals in einer guten Ausgangslage, um nach Alternativen zu suchen – schließlich waren sie ein großer, geopolitisch unabhängiger und energieautarker Block. Wenn selbst sie keine Alternative finden konnten und vor dem gleichen Problem standen wie der Westen – dann war das Modell des Staatssozialismus tatsächlich zum Untergang verurteilt. 37 Bartel, S. 185.  Dass sich dies mit den Erfahrungen der britischen Labour Party reimt, die 1976 versuchte, eine Rettung durch den IWF zu vermeiden, und auch mit den turbulenten ersten beiden Amtsjahren des französischen Präsidenten Mitterrand 1981-83, und schließlich auch mit der Entwicklung der US-Energiepolitik im Laufe der 1970er Jahre, ist ein starkes Argument für die Alternativlosigkeit – also TINA. 38 TINA steht für “There is no alternative”, sprich Alternativlosigkeit. Siehe dazu auch Meg Jacobs, Panic at the Pump.

Wie die Jahre 1989-91 gezeigt haben, bedeuten mangelnde Alternativen zur ökonomischen Disziplinierung nicht, dass es keine sinnvollen politischen Alternativen gab. Im Gegenteil, es gab welthistorische Entscheidungen darüber zu treffen, welche Politikform und welche Wirtschaftsordnung Deindustrialisierung und Disziplinierung koordinieren und legitimieren konnten. Diese Entscheidungen falsch zu treffen, bedeutete einen Regimezusammenbruch zu riskieren. Sie richtig zu treffen, ermöglichte es, eine erfolgreiche Anpassung zu bewerkstelligen.

Im Lichte von Bartels und Isabella Webers jüngstem Buch muss man sich außerdem fragen, ob gezielte Reformen in der Landwirtschaft und im Energiesektor anstelle einer gesamtwirtschaftlichen Perestroika für den Ostblock ein vernünftigerer Ansatz gewesen wäre. Hier, wie auch beim Recylingprozess von Petrodollars, lässt Bartels Buch bestimmte Eventualitäten untererforscht. 39 Wäre die Wiederverwendung der Petrodollars über den IWF erfolgt, hätte Osteuropa vielleicht weniger Kredite in harter Währung aufnehmen können, oder sie wären früher mit härteren politischen Auflagen verbunden gewesen. Im Westen hätte der Übergang von der sozialdemokratischen Ordnung zur neoliberalen Disposition vielleicht eine andere Form angenommen, mit weniger Einfluss der privaten Finanzmärkte als Schiedsrichter der nationalen Wirtschaftspolitik. Dieser Episode widmet das Buch allerdings nur zwei Absätze.

Ungeachtet dieser politischen und sektorspezifischen Alternativen scheint es jedoch keine Alternativen dazu gegeben zu haben, die Versprechen der Nachkriegszeit (ständig wachsender Wohlstand und wirtschaftliche Sicherheit) zu brechen. 40 Siehe hierzu auch die Beiträge von Robert Brenner, The Economics of Global Turbulence, und Robert Gordon, The Rise and Fall of American Growth.  Wenn es eine Alternative gegeben hätte, kann man davon ausgehen, dass eine solche wahrscheinlich gefunden worden wäre – von den Regimen des Ostblocks, die verzweifelt an der Macht bleiben wollten, von französischen Sozialisten, die versuchten, ihre Wahlversprechen einzulösen, von der britischen Labour Party, die ein IWF-Programm unbedingt vermeiden wollte, oder von US-Politikern, die versuchten, die Energiekrise der 1970er Jahre im Einklang mit den egalitären Präferenzen ihres Wahlvolks zu bewältigen.

Dies anzuerkennen ist zunächst schmerzhaft, kann aber befreiend sein. Denn indem Bartel aufzeigt, dass die Überflussideale der Wirtschafswunderzeit sehr wahrscheinlich unerreichbar waren, und dass es damals also keine Alternative gab – »There Was No Alternative – TWNA« -, kann »The Triumph of Broken Promises« heute neue Denkhorizonte eröffnen. Verlockende Utopien wie der vollautomatische Luxuskommunismus stehlen sich leicht ins Rampenlicht. Bartels Buch rät uns aber dazu, nach anderen Utopien Ausschau zu halten, die weniger glänzend und überflussfokussiert sind, dafür aber umso politischer. Zwei solcher Alternativen liegen bereits in der Luft: eine stramme Kalecki-inspirierte Alternative, in der die Wirtschaft auf Hochtouren gefahren wird, um die politischen Widersprüche zu provozieren, die in Kaleckis berühmten Papier von 1943 über Vollbeschäftigung identifiziert wurden; 41 Diese Strategie ähnelt übrigens der Methode von Hoskyn und Thatcher, um eine Mehrheit für ihr Programm zu gewinnen (siehe Kapitel 3 von Triumph of Broken Promises): Auch dort ging es darum, eine Konfrontation zu provozieren, um einen latenten Konflikt an die Oberfläche zu bringen, in der Erwartung, ihn auf diesem offeneren Schlachtfeld zu gewinnen. Im Fall von Kalecki hofft man, mit Hilfe einer expansiven Steuer- und Geldpolitik den Arbeitsmarkt zu straffen, die Verhandlungsmacht zu stärken, eine gleichmäßigere Vorverteilung zu erreichen und so tief in den Kapillaren der Gesellschaft positive Veränderungen zu bewirken, ohne sich auf mikroökonomische staatliche Institutionen zu verlassen. Sobald der bestehende makroökonomische Spielraum ausgeschöpft ist, wird dies eine Konfrontation mit den Investoren auslösen, deren Lösung der Dreh- und Angelpunkt dieses Projekts ist.  sowie ein tiefgründigeres, hoffnungsvolleres, historisch ehrgeizigeres Projekt, welches Überfluss als soziales und nicht als materiell-technisches Projekt zu reformulieren versucht. 42 Dieses Projekt steht in einer langen Tradition, die von Thomas Morus Utopia von 1516 über Edward Bellamys Looking Backward von 1888 bis zu zeitgenössischen Beiträgen reicht. Zu den neueren Vertretern, die argumentieren, dass »Überfluss eine soziale Beziehung« ist, so dass »Knappheit und die sie begleitende Mentalität« durch die Neuorganisation von Eigentum, Produktion und Austauschbeziehungen überwunden werden können, gehören Aaron Benanav (S. 89) sowie Drew Pendergrass und Troy Vettese.

Dekarbonisierung der Industriegesellschaft 

Abgesehen von den reichhaltigen Anstößen zu Krisentheorie und Utopie wirft Bartels Buch noch ein drittes großes Thema auf: Indem er hervorhebt, dass Ost und West vor ähnlichen Herausforderungen standen und mit dem gleichen Instrumentarium und Antworten arbeiteten, eröffnet »The Triumph of Broken Promises« erneut die Frage, ob die Unterscheidung Kapitalismus versus Sozialismus der produktivste Rahmen ist, um die politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Vielleicht, so schwingt subtil mit, »wird die Debatte, die Kapitalismus und Sozialismus als sich gegenseitig ausschließende und polare Gegensätze gegenüberstellte, von künftigen Generationen als ein Relikt der ideologischen Kalten Religionskriege des zwanzigsten Jahrhunderts angesehen werden«, wie Eric Hobsbawm 1994 schrieb. 43 Hobsbawm, Eric. 1994. The Age of Extremes: The Short Twentieth Century, 1914-1991. London Abacus. S. 564.  Vielleicht bietet das Konzept »Industriegesellschaft« einen besseren analytischen Rahmen. 44 Siehe hierzu auch Gellner (1983).

Mit dieser Frage wird ein Latour’scher Punkt berührt: Was den Industriegesellschaften in beiden Ausprägungen begegnete, war die enorme Schwierigkeit, große moderne Volkswirtschaften zu steuern. Wenn ihr »wahrer Zustand« nie ganz durchsichtig ist, weil unser Wissen über sie stets vermittelt und konstruiert bleibt, und wenn unser vermitteltes Wissen immer politisch anfechtbar ist, dann ist die Durchsetzung politischer Reformen, die bestimmten Gruppen wirtschaftlichen Schmerz auferlegen, ein enorm schwieriger Akt. Denn wer würde akzeptieren, dass er seinen oder ihren Wohlstand wegen einer nebulösen Notwendigkeit, die nie bewiesen werden kann, einschränken muss? TINA, das wäre aus diesem Umstand zu schlussfolgern, ist niemals offenkundig – auch dann nicht, wenn es tatsächlich keine Alternative gibt!

Dies bringt uns, wie auch Latour in seinem späteren Werk, zur Politik der Dekarbonisierung. Es gibt keine Alternative zu einer grünen Transformation. Aber wenn auch die Dekarbonisierung das Brechen politischer Versprechen erfordert – nicht zwangsläufig der Fall, aber durchaus möglich -, könnten wir mit Schwierigkeiten konfrontiert werden, die an die von Bartel geschilderten Probleme erinnern.

Als abschließende Überlegung lohnt es sich daher, über die beiden sehr unterschiedlichen Mechanismen nachzudenken, mit welchen in Bartels Erzählung Versprechen erfolgreich gebrochen werden konnten, sowie darüber, wie und ob diese Mechanismen in der Klimapolitik einsetzbar wären. Beim »westlichen« Mechanismus haben Mehrheiten schmerzhafte politische Entscheidungen akzeptiert, weil sie zu der Überzeugung gelangten, dass es keine Alternative zu ihnen gab. Beim »östlichen« Mechanismus waren die Mehrheiten erst dann bereit, schmerzhafte politische Entscheidungen zu akzeptieren, als sie glaubten, dass es ihre Regierung sei, die sie trifft.

Der erste Mechanismus beruht auf der Schaffung eines Eindrucks objektiver Notwendigkeit. Angewandt auf den Klimawandel würde das bedeuten, dass zur Legitimierung von Degrowth-Maßnahmen erst gezeigt wird, dass grünes Wachstum unmöglich sei. So wie Großbritannien eine Rettung des IWF und den sogenannten »Winter of Discontent« durchlaufen musste, bevor sich Mehrheiten für die Deindustrialisierung fanden, müssten Gesellschaften, die fossile Brennstoffe benutzen, das Scheitern von grünem Wachstum einsehen, bevor Mehrheiten Degrowth-Maßnahmen in Erwägung ziehen.

Es ist unklar, ob das gelingen kann. Die Überzeugung, dass Deindustrialisierung und wirtschaftlicher Schmerz tatsächlich notwendig waren, wurde durch Phänomene wie Inflation, Arbeitslosigkeit, Haushaltsdefizite, Währungskrisen, stagnierende Wachstumsraten und leere Einkaufsregale hervorgerufen. Diese Phänomene traten in Zeiträumen von Monaten oder wenigen Jahren auf. Bis sich der Glaube an die Notwendigkeit von Degrowth-Maßnahmen durchsetzt, könnten die Menschen Jahrzehnte brauchen. Wenn die Menschen aber Jahrzehnte brauchen, um eine Notwendigkeit von Degrowth-Maßnahmen einzusehen, könnte es längst zu spät sein, bis sie so weit sind. In den 1970er Jahren waren die politischen Feedbackschleifen schlicht kürzer.

Der zweite, Ostblock-Mechanismus folgte einer radikal anderen Logik. Hier fußte die Akzeptanz schmerzhafter politscher Entscheidungen darauf, dass man diese als selbst auferlegt empfand. Es mag unterschiedliche Wege geben, um das Gefühl von Selbstbestimmung im Zusammenhang mit der Dekarbonisierung zu erzeugen, aber ein auf den ersten Blick plausibler Weg könnte darin bestehen, mehr demokratische Partizipation zuzulassen und sich bei der Koordinierung der grünen Transformation mehr auf staatliche Planung als auf die spontane Ordnung des Markts zu verlassen. 

Könnte mehr demokratische Selbstbestimmung funktionieren? Auch hier bleibt die Antwort unklar. Es ist nicht offensichtlich, ob es ein Mehr an Selbstbestimmung per se war, das das Brechen bestehender Versprechen im Ostblock ermöglichte, oder ob es der Übergang zu mehr Selbstbestimmung war. Ersteres wäre vielversprechend für eine spezifisch demokratische Klimapolitik. Zweiteres wäre problematisch, denn obwohl die Länder des Globalen Nordens heute demokratische Defizite aufweisen, sind sie deutlich demokratischer als die Länder des Ostblocks es waren. Es gäbe schlicht weniger Freiheit zu gewinnen, mit der man den Bruch bestehender Versprechen aufwiegen könnte.

Bartels Buch liefert keine Antworten auf diese Fragen. Es ist ein Geschichtsbuch. Aber sein theoretischer Rahmen erweist sich als überaus fruchtbar für die Analyse heute dringlicher Fragestellungen. Vielleicht sollten industrielle Überflussutopien heute über Bord geworfen werden, zusammen mit der Hoffnung auf einen Untergang des Kapitalismus. Vielleicht sollte dafür die soziale Herstellung von Knappheit und die Frage, wie sie vermieden werden kann, in den Mittelpunkt gerückt werden. Und vielleicht besteht die größte politische Herausforderung heute nicht darin — während die Dekarbonisierung immer dringlicher wird — einer fiktiven Alternativlosigkeit zu entkommen, sondern darin, klug zu handeln, wenn es tatsächlich keine Alternativen gibt.

Dieser Beitrag erschien auch in englischer Sprache auf Phenomenal World. Übersetzung von Otmar Tibes und Max Krahé.