Kritik und Krise – Reinhart Koselleck liest Karl Marx
Karl Marx war mehr als ein Geschichtsphilosoph. In seinem Beitrag führt Gennaro Imbriano aus, wie der Kritiker aller Geschichtsphilosophie, Reinhart Koselleck, die marxschen Analysen zu schätzen lernte.
«9.9.46. Koselleck Frankfurt/Oder» – Auf dem Schmutztitel des Manifest der kommunistischen Partei hält Reinhart Koselleck im Besitzvermerk seines Exemplars den historischen Moment fest: «Tag der Rückkehr aus der russ. Gefangenschaft». 1 Es geht um die Ausgabe vom «Neuen Weg Verlag»: Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der kommunisti- schen Partei (1848), Berlin 1946, in: Bibliothek Reinhart Koselleck, BRK 1.7: Kps, 201110334. Der besiegte Soldat erhielt das Manifest zum Abschied von einem Funktionär aus der Ostzone. 2 Vgl. Reinhart Koselleck: Vielerlei Abschied vom Krieg, in: Brigitte Sauzay, Heinz Ludwig Arnold, Rudolf von Thadden (Hg.): Vom Vergessen, vom Gedenken. Erinnerungen und Erwar- tungen in Europa zum 8. Mai 1945, Göttinger Sudelblätter, Göttingen 1995, S.19–25, hier S. 25. Der Tag der Befreiung aus der sowjetischen Gefangenschaft steht im Lektürezeichen von Karl Marx. Und die Auseinandersetzung mit Marx sollte Koselleck keine Ruhe mehr lassen – auch nicht, als er nach Deutschland zurückkehrte und sein Studium der Geschichte und Philosophie in Heidelberg aufnahm.
Welche Rolle spielte Marx für Koselleck? In seiner Dissertationsschrift über Kritik und Krise beleuchtet Koselleck in den frühen 50er Jahren die «Pathogenese der bürgerlichen Welt». Die geschichtsphilosophische Hybris der Moderne habe zu einer Weltbürgerkriegs-Situation geführt, deren «dualistische Struktur» sich im «planetarischen» Gegensatz zwischen den Blöcken des Kalten Krieges zeige. 3 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959), Frankfurt/M. 1973, S.1–2. Die Marxsche Philosophie ist für den jungen Koselleck die weltanschauliche Quelle des Ostblocks. In einem unveröffentlichten frühen Manuskript aus dem Nachlass zeichnet er «Marxens Weg zum Kommunismus» nach:
«Heute hat sich der universale Klassenkampf marxscher Observanz für den Marxisten durch die Front der beiden Weltmächte gleichsam zusätzlich in der Vertikalen verschärft. Damit ist der faktische Charakter des sogenannten letzten Klassenkampfes der Geschichte freilich ein anderer, aber der geschichtsphilosophische Dualismus der Marxschen Konzeption hat damit nicht seine politische Aktualität verloren. Somit auch nicht die Frage des Kommunismus, der aus diesem letzten Ringen hervorgehen soll, und der als ‹Zielsetzung und die Waffe selbst› (Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein [1922], 83) von Asien in diesem Kampf gebraucht wird.» 4 Reinhart Koselleck: Marxens Weg zum Kommunismus, in: Nachlass Koselleck (fortan: A:Koselleck)/Konvolut: «Texte und Notizen zu Kant, Hobbes und Marx», S. 2.
Gennaro Imbriano
Die Kritik der Geschichtsphilosophie und ihres «dualistischen Weltbildes» 5 Vgl. Kritik und Krise. Eine Untersuchung der politischen Funktion des dualistischen Weltbildes, Diss. Phil. Fakultät, Universität Heidelberg, 20. November 1954. – so der ursprünglich 1954 von Koselleck gewählte Untertitel der Heidelberger Dissertation – klammerte für Koselleck zwangsläufig die Kritik an Marx mit ein.
Aufklärung und Dialektik
In Kosellecks Dissertationsschrift wird Marx selbst nur einmal zitiert. Seine historische Methode wird als Geschichtsphilosophie markiert – und zwar als «demokratische Kritik» gegen die Hobbes’sche «Trennung» von Mensch und Bürger: Marx habe «den absoluten Souveränitätsbegriff von Hobbes» übernommen, ihn aber «in den Dienst des ‹Menschen›» gestellt. «Damit war die Grenze zum Utopismus überschritten.» 6 Koselleck: Kritik und Krise, S. 168. Marx nimmt damit für Koselleck Partei für die «dualistische» Philosophie, die die «Krise» der Moderne perpetuiere. Für den jungen Koselleck ist nicht weniger als die «Dialektik» – das methodische Herzstück des Marxismus – der eigentliche intellektuelle Brandbeschleuniger der Krise. Wird die Geschichte erst einmal als dialektischer Prozess der Selbstverwirklichung der Vernunft betrachtet, so Koselleck, dann könne die Dialektik sich als Avantgarde darstellen und ihren Gegner – den Liberalismus – beliebig als konservativ diskriminieren. In einer Rezension zu Russel Kirks Studie The Conservative Mind notiert Koselleck:
«Die liberale Internationale, in deren Zeichen der angelsächsische Verfassungsstaat seinen Siegeszug über den Globus gehalten, und deren Erbe heute die USA angetragen haben, ist durch den russisch-asiatischen Typus der Volksdemokratie plötzlich in eine nichtrevolutionäre, in eine ‹konservative› Rolle gedrängt worden.» 7 Reinhart Koselleck: Rezension zu Russel Kirk, The conserva- tive Mind, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 42 (1956), S. 113–116, hier S. 116.
Im Mai 1954 schreibt er an seinen Mentor Carl Schmitt: In der Tat «ist der politische Sinn des britischen Fortschritts total verschieden von dem des Kontinents». 8 Reinhart Koselleck an Carl Schmitt, 28. Mai 1954, in: Nachlass Carl Schmitt, RW 265, 8136. Die Angelsachsen, deren politische Existenz von der Seenahme und der puritanischen Revolution bestimmt sei, sind für Koselleck – wie er in einer kleinen Skizze über Bristol schreibt, wo er Mitte der Fünfzigerjahre als Dozent an der Universität lehrte – Träger eines «moralischen» Fortschrittsbegriffs. 9 Vgl. Reinhart Koselleck: Bristol, die «zweite Stadt» Englands. Eine sozialge- schichtliche Skizze, in: Soziale Welt 6 (1955), S.360–372, besonders S.362, S.365, S.366, S.368, S.373. In einer anderen Rezension aus jenen Jahren schreibt er über die «puritanische Revolution»:
«Die puritanische Revolution war die erste Etappe jener historischen Bewegung, die in dem weltgeschichtlichen Führungsanspruch der Angelsachsen münden sollte. Eine Beschäftigung mit dem politischen Aspekt des Puritanismus ist daher von zumindest ähnlicher Aktualität wie eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus für das Verständnis Sowjet-Asiens.» 10 Reinhart Koselleck: Zwei Denker der puritanischen Revolution, in: Neue politische Literatur II (1957), S. 288–293, hier S. 288.
Was Russland nun mit dem Westen verbindet, ist für Koselleck eben die «dualistische» Struktur ihrer Geschichtsphilosophie. Treten die einen unter dem Banner des Guten gegen das Böse an, so die anderen unter dem der Vernunft gegen die Feinde des Fortschritts. Die «Krise» und Weltbürgerkriegssituation speist sich für den jungen Koselleck genau aus dieser Spannung zwischen «Moral» und «Dialektik». An Carl Schmitt schreibt Koselleck im Juni 1959:
«Die Geschichte ist dialektisch: aber wird sie dialektisch erfasst, so führt sie die Russen nach Ungarn oder die Chinesen nach Tibet. Ebenso ist die Geschichte moralisch, das heißt jede Situation hat eine Moral, die es zu leisten gilt: wird aber die Geschichte moralisch erfasst, so führt sie die Angelsachsen nach Yalta oder Suez. Es ist die Grundlosigkeit der Geschichte, dass sie dialektisch und moralisch ist und zugleich nie dialektisch oder moralisch ‹aufgeht›.» 11 Reinhart Koselleck an Carl Schmitt, 3. Juni 1959, in: Nachlass Schmitt, RW 265, 8150.
Ursprünglich hatte Koselleck sich in den Nachkriegsjahren selbst vorgenommen, an einer «Dialektik der Aufklärung» zu schreiben 12 Vgl. Reinhart Koselleck: Dankrede am 23. November 2004, in: Stefan Weinfurter (Hg.): Reinhart Koselleck (1923-2006). Reden zum 50. Jahrestag seiner Promotion in Heidelberg, Heidelberg 2006, S. 33–60, hier S.34. – bevor er den Titel nach Erscheinen des berühmten Buches von Adorno und Horkheimer in Kritik und Krise umwandelte. Indem Koselleck den Ursprung des Bürgerkriegs in der Triade Absolutismus-Aufklärung-Krise aufspürt, besteht seine Methode genau in der politischen Umcodierung der dialektisch-marxistischen Geschichtsauffassung.
Auch Carl Schmitt hebt in seiner kleinen Rezension der 1959 publizierten Dissertationsschrift hervor, dass es bei Koselleck um «eine nicht marxistisch dialektische Leistung» 13 Carl Schmitt an Reinhart Koselleck, 9. Juni 1959, in: Nachlass Schmitt, RWN 260-386, 18. Vgl. auch Carl Schmitt: Rezension zu Reinhart Koselleck, Kritik und Krise, in: Das historisch-poli- tische Buch, S. 301–302, hier S. 302. gehe. Die schon in Kritik und Krise aufblitzende Begriffsgeschichte wird durch den Gegensatz zur Marxschen Ideologiekritik konturiert: Den politischen Charakter der Begriffe zu untersuchen, bedeutet für Koselleck, der sich auch hier an seinen Inspirator Schmitt hält – «die politische Sinnfälligkeit der Ideen herauszupräparieren», das heißt «ihren politischen Akzent sichtbar machen zu lassen». 14 Koselleck: Kritik und Krise, S.4. Anders als für Marx sind die Begriffe nicht allein ein Spiegel sozialer Konflikte und Interessen. Sie sind immer auch und primär politisch gebunden.
Die Begriffsgeschichte, die in Kritik und Krise nur skizziert und später systematisch in den Geschichtlichen Grundbegriffen ausgearbeitet wird, spricht der ökonomischen Disposition keine übergeordnete Stellung zu. Zum «Stichwort: Begriffsgeschichte» notierte Koselleck 2002 in einem Überblicksband lexikalisch: «Als ‹Begriffsgeschichte› (engl. conceptual history) bezeichnet man seit den 1950er Jahren ein Konzept geschichtswissenschaftlicher Forschung, das Sprache nicht als Epiphänomen der sogenannten Wirklichkeit (‹Das Sein bestimmt das Bewußtsein›, Karl Marx), sondern als methodisch irreduzible Letztinstanz versteht, ohne die keine Erfahrung und keine Wissenschaft von der Welt oder von der Gesellschaft zu haben sind.» 15 Vgl. Reinhart Koselleck: Stichwort: Begriffsgeschichte [2002], in: Ders.: Begriffsge- schichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt/M. 2006, S. 99–102, hier S. 99. In Kritik und Krise beleuchtete Koselleck die politischen Folgekosten der dialektischen Methode. Es ist kein Zufall, dass Koselleck seine «Dialektik der Aufklärung» durch die Schwächung zweier strategischer Begriffe der marxistischen Tradition aufbaute: Die «Kritik» wird auf einen Moralismus reduziert und der «Krisenbegriff» wird von einem die kapitalistische Gesellschaft kennzeichnenden Klassenkonflikt zu einem sich stets wiederholenden anthropologischen Konflikt ummoduliert.
Preußische Reform und liberales Geschichtsdenken
Nach dem Abschluss der Dissertationsschrift wechselte Koselleck, auch unter dem Einfluss Werner Conzes, das Pferd – von der politischen Ideengeschichte zu einer verfassungsgeschichtlich angereicherten Sozialgeschichte. Die Frucht ist die Habilitationsschrift «Preußen zwischen Reform und Revolution», die am Vorabend der Studentenrevolte 1967 als Buch erschien. Kosellecks Argumentation ist hier kurz skizziert. Am Anfang des 19. Jahrhunderts befolgten die preußischen Reformatoren von Stein und Hardenberg den Weg einer liberalen Transformation der ständischen Gesellschaft. 16 Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967, S.305 ff. So entwickelte sich die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts noch – ganz wie sie Hegel in seiner Rechtsphilosophie beschrieben hatte 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), in: Ders.: Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt/M. 1969ff., Bd.7 (1986). – als «Kampfplatz […] auf dem besondere gesellschaftliche Interessen und allgemeine staatliche Gesetze sich miteinander messen», ein «Kampfplatz», auf dem die «Interessen der Allgemeinheit» mit dem «Beamtentum» zusammenfielen. 18 Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 263.
In den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts kehrte sich für Koselleck die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft immer mehr um: Der alte liberale Verwaltungskörper brach zusammen, und die Gesellschaft wurde infolge der staatlichen Reformen immer moderner, zumal sich der Stand, «wie Marx bemerkte, schon innerhalb der Gesellschaft […] in eine ‹soziale Stellung› verflüchtigte». 19 Ebd., S. 390. Koselleck bezieht sich hier auf: Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843), in: Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA), Berlin 1975 ff., Band I/2, Berlin 20092, S.3–140. So wurde «die Bindung der Stände an den Grundbesitz […] immer fraglicher, je mehr die staatlich geförderte Industrialisierung und die Beweglichkeit des Bodenmarktes ihre Wirkungen zeitigten.» 20 Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 356. Die Ständeverfassung wurde von der Entwicklung der Gesellschaft überholt, und zwar von einer «staatsbürgerlichen Gesellschaft», die jetzt die Verwirklichung der liberalen Konstitution verlangte. 21 Ebd., S. 367. So war «der Impuls der Reform, die einst von der Verwaltung ausgelöst worden war, in das Lager der neuen Gesellschaft übergewechselt». 22 Ebd., S. 524.
Aber nicht nur die «Reform» wanderte ins andere Lager – mit der Arbeit am Preußen-Buch verschob sich auch Kosellecks Blick auf Karl Marx. Da Marx «eine größere geschichtliche Erfahrung» als Hegel hatte, schreibt er an einer Stelle, konnte er nachvollziehen, dass die Bürokratie nun «als rückständig oder, wenn man so will, als ein vergangenes Ideal» anzusehen war. 23 Ebd., S. 392, S. 391. Die Kritik, «die der junge Marx 1842 an der Hegelschen Staatsphilosophie übte», formuliert er an einer anderen Stelle, kann «den geschichtlichen Ort […] verdeutlichen, den die Beamtenschaft in der preußischen Ständeverfassung eingenommen und jetzt verloren hatte.» 24 Ebd., S. 388.
Am 9. Oktober 1967 – im Jahr seiner Veröffentlichung von Preußen zwischen Reform und Revolution – hält Koselleck einen Vortrag über «Staat und Gesellschaft» im «Ebracher Ferienseminar», das von dem Verfassungsrechtler und alten Schmitt-Schüler Ernst Forsthoff organisiert wurde. 25 Ferienseminar Ebrach, Vortragsfolge, in: A:Koselleck/ Konvolut zum Thema: «Staat» 01/Ferienseminar Ebrach 1967 Dokumente. Zum Ebracher Seminar vgl. Florian Meinel: Die Heidelberger Secession. Ernst Forsthoff und die «Ebracher Ferienseminar», in: ZIG 2 (2011), S.89–108. Mit Blick auf Marx führt er anerkennend in diesem konservativen Gesprächszirkel aus, dass «man nicht nur seine Hegel-Kenntnisse sondern auch seine historische Kenntnis bewundern muß – die ist tatsächlich erstaunlich – er hat ein historisches Bewußtsein in seinen Argumenten, das rechtsgeschichtlich gar nicht so sehr üblich war». 26 Reinhart Koselleck: Staat und Gesellschaft, in: A:Koselleck/ Geschichtliche Grundbegriffe/ Konvolut zum Thema: «Staat» 01, p. 23. Was Marx zum Thema Staat und Gesellschaft in Preußen sage, sei «ganz richtig». 27 Ebd. Zurecht sehe Marx eine Spaltung zwischen Staat und Gesellschaft, gleichzeitig aber auch, dass das Beamtentum ein residualer politischer Repräsentant der ständischen Gesellschaft war: «Der Beamtenstand – sagt Marx – […] war der letzte Stand, in dem Staat und Gesellschaft noch identisch waren, in dem also der soziale und politische Status in eins fielen. Alle übrigen Stände Preußens, sagte er, seien in die soziale Zufälligkeit entlassen, je nach dem Beruf, den man ergreift, und je nach der Situation, in der man seine Arbeit aufnehmen muß.» 28 Ebd., S. 23–24.
Genau hier markiert Koselleck aber auch das politische Eingreifmoment des Geschichtsphilosophen Marx, der eine neue, in der Revolution zu realisierende Identität zwischen Staat und Gesellschaft imaginiere. «Das Postulat von Marx ist wenn ich überspitzt formulieren darf – er sagt es nicht selber – den letzten Stand aufzuheben, um alle Bürger der bürgerlichen Gesellschaft zu Staatsbeamten zu machen. Das ist sozusagen das erste Emanzipationsmodell – wenn Sie so wollen – das in der Logik seines Gedankengangs liegt […]. Damit würde also die Identität von Staat und Gesellschaft, das wirkliche Staatsbürgertum, wie Marx sagt, verwirklicht werden.» 29 Ebd., S. 24. So auch Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, S.391–392.
Wichtiger als diese Fluchtpunkte, die wieder zur Dissertation zurückführen, ist für uns aber die mit dem Preußen-Buch einsetzende Neuentdeckung von Marx als historischem Analytiker. Weniger in der geschichtsphilosophischen Hybris als in der Aufhebung der Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft sieht Koselleck nun den Ursprung der modernen «Krise». Die Krise sei in erster Linie eine «soziale Krise», die die Begleiterscheinung der modernen, vom Staat getrennten kapitalistischen Gesellschaft ist. «Die Revolution von 1848 war nicht nur das Ergebnis einer politischen Krise, sondern diese speiste sich unmittelbar aus einer sozialen Krise – teilweise ein Ergebnis der liberalen Arbeitsverfassung der großen Güter.» 30 Ebd., S. 500. Vgl. dazu auch Reinhart Koselleck: Das Zeitalter der europäischen Revolution 1780–1848 (mit Louis Bergeron und François Furet), Frankfurt/M. 1969, Kapiteln 7–10, S. 199–319, hier S. 262–263.
Die Pointierung der sozialen Dimension der Krise geht einher mit einer Aufwertung von Marx. Auch in der politischen Selbstverortung setzt Koselleck nun neue Akzente. Wenn seine Moderne-Diagnose in den Fünfzigerjahren noch weltanschaulich eng an Carl Schmitts Vorbehalte gebunden war, so schildert er nun die liberale Selbstaufklärung durchaus mit Sympathie. Koselleck notiert jetzt, dass sich der Liberalismus von seinem utopischen Ursprung im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr emanzipiert habe: «Gemessen an der Ausgangssituation, hatte der Liberalismus seine Zukunftsdimensionen eingebüßt.» 31 Reinhart Koselleck: Liberales Geschichtsdenken (1979), in: Ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Frankfurt/M. 2010, S. 198-227, hier S. 212.
So seien die liberalen Voraussetzungen mehr «als geschichtsphilosophisch drapierte Hoffnungen oder klassengebundene Interessensicherungen: Das liberale Erbe gehört zu unseren gesellschaftlichen Lebensbedingungen, ohne das wir die Herausforderungen nicht beantworten können, die täglich an uns gestellt werden». 32 Ebd., S. 226–227.
Marx als Historiker
Für Koselleck ist das Marx’sche Denken von unauflösbarer Zweideutigkeit gekennzeichnet. Mit anderen Worten: Marx ist für Koselleck zwischen Geschichtsphilosophie und Theorie der Geschichte selbst «dualistisch» gespalten. Einerseits bleibt er für Koselleck ein Geschichtsphilosoph, auch wenn Marx historisch argumentiert. Seine historischen Untersuchungen seien nämlich immer auf die Zukunft ausgerichtet – auch wenn sie «ganz richtig» sind. 33 Koselleck: Staat und Gesellschaft, S.23. So ist etwa die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, wie Koselleck in seinem Ebracher Vortrag ausführt, innerhalb eines emanzipatorischen Modells gedacht: «Marx leistete mit seiner Kritik an Hegel eine geschichtsphilosophische Ableitung der wahren Legitimität […]. Der erste Stand des Staates wurde durch die philosophische Kritik zum letzten Stand der Geschichte.» 34 Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 391. Obwohl Marx «den Ausdruck ‹Emanzipation› auch als eine gesellschaftskritische und diagnostische Kategorie» verwende, «gewinnt sie die Funktion einer utopischen Zielkategorie»: Der «Rekurs auf den universellen Begriff ‹Mensch›» und seine «Einsetzung als kommendes Subjekt seiner Geschichte» liefern der «Zielkategorie ‹Emanzipation› den Charakter eines geschichtsphilosophisch deduzierten Erlösungsbegriffes, der die endgültige Aufhebung von Entfremdung überhaupt verheißt». 35 Reinhart Koselleck: Emanzipation (mit Karl Martin Grass), in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bd., Stuttgart 1972–1997 (fortan: GG), Band 2 (1975), S. 153-197, hierS. 174. Vgl. auch ebd., S. 193–194.
«Emanzipation» werde von Marx mit einer Theorie des Fortschritts zusammen gedacht, in der «die aufklärerische Rückversicherung einer Hintergrundgeschichte» immer wieder «bemüht» wird: Dieser Fortschritt hat «seine Kehrseite, die er mit produziert», aber trotzdem wird er sich «immer wieder zum Besseren wenden». 36 Reinhart Koselleck: Fortschritt [I, III-VI], in GG, Band 2 (1975), S. 351–353, 363–423, hier S. 418. Die Idee eines progressiven Fortschritts werde so bei Marx «als ideologische Waffe, als geschichtsphilosophisches Axiom und als theoretische Kategorie» verwendet. 37 Ebd., S. 420. Marx und Engels, so Koselleck, «kämpfen mit Hegel gegen die fixe Idee des Fortschritts, der eine naive lineare Linie in eine bessere Zukunft auszieht», in dem Maße, als er «zum Epiphänomen der Geschichte als Kampf der Klassen» wird: «Der Kampf des Weltgeistes mit sich selbst wird zum Kampf der Klassen.» 38 Reinhart Koselleck: Fortschritt Hegel/Marx, in: A:Koselleck/ Geschichtliche Grundbegriffe/ Konvolut zum Thema: «Fortschritt» 07. Trotzdem werde der Fortschritt auch bei Marx «eine Richtungskategorie der Geschichte»: Es gehe einfach darum, eine «Denkstruktur, die seit Turgot, Kant und Hegel bekannt ist, […] nur auf die materiellen Produktionsverhältnisse» zu beziehen. 39 Ebd. Im Horizont dieses Fortschreitens wird das Axiom der «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen» zur Grunderfahrung der Geschichte. Vgl. Reinhart Koselleck: «Neuzeit». Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe (1977), in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979 (fortan: VZ), S. 300–348, hier S. 325. Marx habe folglich nur ein altes geschichtsphilosophisches Muster mit neuen empirischen Belegen gefüllt. In seinem Manuskript zu «Marxens Weg zum Kommunismus» notiert Koselleck:
«Was Marx vollzogen hat, war keineswegs eine totale Umkehrung der Hegelschen Philosophie, wie er in seiner Nahkampfpolemik behauptet hat. Vielmehr hat er den geschichtlichen Horizont, den Hegel aus der Erfahrung der französischen Revolution seiner Philosophie gesetzt hat, in vollem Masse beibehalten. Sein Neuansatz besteht in der existenziellen Erfassung der Arbeit. Die Arbeit des Geistes wurde in die Arbeit der proletarischen Klasse umgewandelt und in ihr komprimiert, um die Klasse des Bourgeois ihres geschichtlichen Zukunftsrechtes zu berauben und als dialektisches Resultat des Klassenkampfes das Reich erstehen zu lassen, in dem das ‹Ich das Wir und das Wir das Ich ist›, den Kommunismus. […] Hier liegt für Marx selber das Arcanum seiner ‹rationalen› Selbstgewissheit, mit der er den Kommunismus kommen sah.» 40 Koselleck: Marxens Weg zum Kommunismus, S.15.
«Geschichte» werde so für Marx selbst zu einem Bewegungsmodus – mit dem Ziel der Auflösung aller Widersprüche, wobei der Sieg der Revolution stets rückversichert sei. 41 Vgl. Reinhart Koselleck: Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg [I, IV-VII], in: GG, Band 5 (1984), S. 653–656, S. 689–788, hier S. 753–54. Ders.: Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs (1969), in: VZ, S. 67–86, hier S. 81–83. Deshalb steht Marx für Koselleck, wie er in einem anderen Beitrag für die Geschichtlichen Grundbegriffe ausführt, «unbeschadet seiner neuen, nämlich ökonomisch begründeten, Geschichtsphilosophie weiterhin in der Tradition der deutschen Spätaufklärung und des Idealismus». 42 Reinhart Koselleck: Staat und Souveränität [Vorbemerkung, III], in: GG, Band 6 (1990), S. 1–4, 25–64, hier S. 43.
Mit dem Preußen-Buch schält sich aber auch ein anderer Marx heraus – der historische Analytiker, der Begriffe als Erkenntniskategorien nutzt und auf politische Forderungen weitgehend verzichtet. Es ist dieser Marx, den Koselleck produktiv findet. So habe Marx «darauf verzichtet, den Ausdruck ‹Emanzipation› in seinem theoretischen Werk zentral zu verwenden: er blieb in erster Linie ein politischer, propagandistisch wirksamer Leitbegriff geschichtsphilosophischer Herkunft». 43 Koselleck: Emanzipation, zit. S. 194. In diesem «theoretischen Werk» wird die Geschichte dagegen als komplexe und nichtlineare Verbindung objektiver und subjektiver Faktoren interpretiert.
Die Marxsche Geschichtsauffassung fordere immer ihre «empirische Ausfüllung», weil «Produktionskräfte, gesellschaftliche Beziehungen und Bewußtsein miteinander in – wechselnde – Beziehung gesetzt werden müssen». 44 Reinhart Koselleck: Geschichte, Historie [I, V– VII], in: GG, Band 2 (1975), S. 593–595, S. 647–717, hier S. 710. In dieser Sicht ist Geschichte nicht einfach machbar und verfügbar, 45 Vgl. Reinhart Koselleck: Über die Verfügbarkeit der Geschichte (1977), in: VZ, S.260–277, hier S. 272–273. sondern von objektiven Kräften bestimmt: «Damit hat Marx jene beiden Pole zusammengedacht, die im üblichen Sprachgebrauch immer wieder ideologisch vereinseitigt und strapaziert wurden: die Machbarkeit der Geschichte und deren Übermacht über die Menschen.» 46 Koselleck: Geschichte, Historie, S.710–711.
Für den Theoretiker Marx sind wie für den reflektierten Begriffshistoriker Koselleck Begriffe erst einmal nicht ideologische Instrumente, sondern Kategorien zur Erkenntnis: Sie werden nicht mehr als Mittel für Prophezeiungen, sondern für empirische Prognosen verwendet. Darin besteht für Koselleck die redliche Aufgabe der Historiographie: Liefert die Geschichtsphilosophie utopische Zukunftsvorstellungen, so könne die Theorie der Geschichte nur etwas zur Zukunft beitragen, sofern diese nicht prophetisch konditioniert sei. Wie Koselleck mit Lorenz von Stein wiederholt, «ist [es] möglich, das Kommende vorherzusagen, nur dass man das einzelne nicht prophezeien wolle». 47 Lorenz von Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850), Darmstadt 1959, Bd. III, S. 194, zit. in: Reinhart Koselleck: Geschichtliche Prognose in Lorenz von Steins Schrift zur preußischen Verfassung (1965), in: VZ,S. 87–104, hier S. 87. Dazu auch Reinhart Koselleck: Darstellung, Ereignis und Struktur (1973), in: VZ, S. 144–157, hier S. 156 und ders.: Neuzeit, S. 335–336.
Bei Marx findet sich beides etwa in seiner Analyse des Zirkulationsprozesses des Kapitals nebeneinander – revolutionärer Zukunftsanspruch und prognostische Orientierung. Wie Koselleck 1986 in einem Aufsatz zum Begriff der «Krise» ausführt, ist er so «in einer Zwischenposition hängengeblieben»: Einerseits «erwartete er mit Sicherheit, dass die letzte Krise des Kapitalismus den kommenden Zustand der Herrschaftsfreiheit und der Beseitigung von Klassenunterschieden mit sich bringe», andererseits « sah er sich nicht imstande, die Krisen des Kapitalismus so zu interpretieren, dass sie das System – statt es zu erhalten – zwangsläufig sprengen müssten». 48 Reinhart Koselleck: Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von «Krise» (1986), in: Ders.: Begriffsgeschichten, S.203–217, hier S.213.
So arbeitete Marx «mit einem systemimmanenten Krisenbegriff, indem er die iterative Struktur ökonomischer Krisen aufzeigte», gleichzeitig aber «kannte er einen systemsprengenden Krisenbegriff, den er aus anderen – ehedem theologischen – Prämissen ableitete und der die Weltgeschichte auf eine letzte große Krise zutreiben ließ»: Bei ihm vollzieht sich «der vermeintliche letzte Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie […] zweifellos in den Dimensionen eines Jüngsten Gerichtes, das rein ökonomisch zu begründen ihm nicht gelungen ist». 49 Ebd.
Eigene Erfahrung und universale Emanzipation
Im Juli 1975 schreibt Koselleck Heinz Dieter Kittsteiner einen Brief. Kittsteiner arbeitete in jenen Jahren an einer Dissertationsschrift über Marx, die er 1978 bei Jacob Taubes unter dem Titel Karl Marx und der Ausgang der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie. Auch ein Beitrag zur Rekonstruktion des historischen Materialismus verteidigte. 50 Die Dissertation wurde 1980 unter dem Titel «Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens» (Frankfurt/M.) veröffentlicht.
Wie der Titel anzeigt, rekonstruierte Kittsteiner den historischen Materialismus als Antwort auf die «bürgerliche Geschichtsphilosophie». «Als Nicht-Geschichtsphilosophie ist sie eine Theorie des historischen Prozesses und geht selbst aus einer Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens hervor.» 51 Kittsteiner: Naturabsicht und Unsichtbare Hand, S.13. In dem Brief an Koselleck pointierte Kittsteiner – der später in den Achtzigerjahren akademischer Mitarbeiter von Koselleck in Bielefeld werden sollte – die Hauptthese seiner Arbeit:
«Ich versuche in meiner Arbeit zu zeigen, dass dem Kantischen Begriff der ‹Naturabsicht› die historisch-gesellschaftliche Erfahrung der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse entspricht. Um dies zu verdeutlichen, stelle ich einen Vergleich mit Adam Smiths ‹invisible hand› an. Das Hauptproblem sehe ich darin, dass beide Termini nicht nur die Vorstellung ausdrücken, ‹die Geschichte› werde von einer fremden Macht beherrscht, sondern zugleich unterstellen, dass dieser hinter dem Rücken der agierenden Individuen sich konstituierende historische Prozeß auf ein den Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zuträgliches Ziel hinausläuft. In dieser Überlagerung der erfahrbaren Verkehrung von Subjekt und Objekt mit einem bestimmten (‹vernünftigen›) Inhalt sehe ich ein zentrales Merkmal des Wissenschaftstypus ‹Geschichtsphilosophie›. Mit dem Zerfall der Illusionen dieser Gesellschaft über sich selbst – exemplarisch zu verfolgen an Marx’ ‹Kritik des Hegelschen Staatsrechts› – endet zugleich die klassische Epoche des geschichtsphilosophischen Denkens.» 52 Kittsteiner an Koselleck, 02.07.1975, in: A: Koselleck/ Kittsteiner, Heinz Dieter an Koselleck (1975–1988).
In Kittsteiners Sicht geht für Koselleck die dualistische Spannung zwischen Geschichtsphilosophie und historischem Denken, die sich durch das Marxsche Denken zieht, verloren. Im September 1975 antwortet Koselleck auf Kittsteiner:
«Sie nehmen Marx völlig aus der Tradition in der klassischen Geschichtsphilosophie heraus: das gilt nur teilweise, da bestimmte Axiome der aufklärerischen Geschichtsphilosophie ungebrochen in der Marxschen Geschichtsphilosophie weiterleben. Ohne aufdringlich zu sein, darf ich Sie auf meine Analysen der Illuminaten hinweisen, die ich in Kritik und Krise versucht habe, und die in vieler Hinsicht in das Schema der Marxschen Geschichtsphilosophie, wenn auch in sehr naiver Weise, vorwegnehmen.» 53 Koselleck an Kittsteiner, 23.09.1975, in: A:Koselleck/ Koselleck an Kittsteiner, 1975–1987.
Die Marxsche Philosophie bleibt für Koselleck ein Zwitter – einerseits ein geschichtsphilosophisches Konstrukt, andererseits eine fundierte, theoretisch durchformte Analyse der Geschichte: Was Kittsteiner von Marx denkt, «gilt» für Koselleck so «nur teilweise». In seinem Aufsatz zu «Marxens Weg zum Kommunismus» bindet Koselleck die Marxsche Philosophie mit dem Schlüsselwort der «Entfremdung» zurück an die unmittelbare Lebenswelt und die existentiellen Grundspannungen des jungen Marx.
«Die Unmöglichkeit für Marx, sich der ‹christlich-germanischen› und bourgeoisen Umwelt zu entledigen, sich von ihr zu emanzipieren, wird umgedreht in die Unmöglichkeit solcher Zustände, die ihn an der intendierten Emanzipation hindern. […] Alle Spannungen des jungen Marx mit dem Vater und der deutschen Welt der 30er Jahre sind totalisiert und mit der fixierten Lösung zeichnet sich bereits die kommunistische Gesellschaft ab, in der individuelle Existenz und Gattung zusammenfallen.» 54 Koselleck: Marxens Weg zum Kommunismus, S. 5–6.
Durch die Emigration kapsele Marx sich endgültig von seiner ursprünglichen deutschen Herkunftswelt ab. Jetzt erst kann er die Auflösung aller Konflikte in der Revolution sehen.
«Die ursprüngliche Konfliktsituation des jungen Marx mit seinem Vater und seiner Umwelt hatte ihn existenziell entortet. Die Ablösung von allen bestehenden Zuständen war so radikal, dass Marx die Lösung des Konflikts nur in einer radikalen Umwälzung dieser Zustände sah. Die Absolutheit der eigenen Position sollte zur Absolution der Welt werden. Die Emanzipationsprognosen zur Lösung der Judenfrage und des deutschen Problems trugen daher universalen Charakter, waren aber wesentlich dialektisches Postulat geblieben. Marx wurde Demokrat und emigrierte gleichsam als das verkörperte Postulat nach einer totalen Revolution.» 55 Ebd., S. 15–16.
Marx als Besiegter
In einem Axiom – dessen Spuren sich von Carl Schmitt über Tocqueville bis Thukydides in der Ideengeschichte zurückverfolgen lassen – 56 Siehe die Ausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte über den «Besiegten». Vgl. ZIG VI/1 (Frühjahr 2012). hat Koselleck einmal notiert, dass die «Besiegten» die besseren Geschichtsschreiber seien als die Sieger. «Die besseren Historien, die es gibt, [stammen] im allgemeinen von den Besiegten und nicht von den Siegern.» 57 Reinhart Koselleck: Arbeit am Besiegten (1984–1985), in: Zeitschrift für Ideengeschichte VI 1 (2012), S. 5–10, hier S. 5–6. Der «Historiker auf Seiten der Sieger» sei «leicht geneigt, kurzfristig erzielte Erfolge durch eine langfristige Ex-post-Teleologie auf Dauer auszulegen. Anders die Besiegten», die erklären müssen, warum «alles anders gekommen ist als geplant oder erhofft». 58 Reinhart Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze (1988), in: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2000, S. 27–77, hier S. 68. So «mag eine Suche nach mittel- oder längerfristigen Gründen in Gang gesetzt werden, die den Zufall der einmaligen Überraschung einfasst und vielleicht erklärt». Koselleck notierte bündig: «Mag die Geschichte – kurzfristig – von Siegern gemacht werden, die historischen Erkenntnisgewinne stammen – langfristig – von den Besiegten.» 59 Ebd. Auch Marx war für Koselleck in dieser Linie ein Besiegter. Auch seine historischen Erkenntnisgewinne beruhten darauf, dass er aus dem Erfahrungsschatten des Besiegten schrieb:
«Seine spezifisch historischen Schriften, zur Revolution von 1848/49 und zum Kommuneaufstand, schrieb er als Besiegter, wenn auch nicht wie ein Besiegter. Er suchte aus der situativ einmaligen Niederlage, die er als intellektueller Sprecher des Proletariats hinzunehmen hatte, langfristige Erklärungen zu gewinnen, die einen künftigen Erfolg geschichtlich sicherstellen sollten.» 60 Ebd., S. 76. Dazu auch Koselleck: Arbeit am Besiegten, S. 9.
Gegen alle allgemeinen normativen Zugriffe auf die Geschichte hat Reinhart Koselleck stets das «Veto» der eigenen Erfahrung stark gemacht. Darin spiegelt sich nicht zuletzt seine eigene existentielle Grunderfahrung – die des Besiegten im Kriege. 61 Dazu siehe Jan Eike Dunkhase: Absurde Geschich- te. Reinhart Kosellecks historischer Existentialismus, Marbach am Neckar 2015. Ginge es für Marx, mit Engels gesprochen, darum, den «Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reiche der Freiheit» zu fördern, 62 Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. «Anti-Dühring» (1878), in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke (MEW) Berlin 1956 ff., Band 20 (1962), S. 264. so für Koselleck, «alle Kräfte darauf zu richten, den Untergang zu verhindern. Das Katéchon ist auch eine theologische Antwort auf die Krisis.» 63 Koselleck: Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von «Krise» (1986), S. 216.
Kritik und Krise – Reinhart Koselleck liest Karl Marx, in: Zeitschrift für Ideengeschichte Heft XI/3 Herbst 2017, S. 97-112