Bild: DHI Rom/Giulia Comito

Lars Döpking: „Fiskalische Herrschaft lässt sich demokratisieren.“

Lars Döpking untersucht das Zusammenspiel von fiskalischer Herrschaft, Politik und Demokratie. In seinem neuen Buch entwirft er eine historische Soziologie des Steuerstaats und analysiert die jüngeren Entwicklungen in Italien. Unser Herausgeber Otmar Tibes hat mit ihm über die Geschichte des Fiskus seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gesprochen.

Herr Döpking, Sie haben eine Geschichte der italienischen Demokratie seit 1945 aus der Sicht des Steuerstaates geschrieben. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen? 

Mir ging es um zwei Punkte: Zunächst um die Vergangenheit und Zukunft Europas sowie der Eurozone. Hier bin ich ein Kind der sogenannten Eurokrise der Jahre 2011/2012, in welcher der demokratische Staat gerade aufgrund seiner Finanzen verletzlich wie selten zuvor wirkte. Italien stand damals, wie die anderen Länder Südeuropas, im Auge des Sturms, war aber, im Gegensatz zu Griechenland, gleichsam too big to fail wie too big to bail. Diese Krise führte vielen die polit-ökonomische Bedeutung Italiens als drittgrößte Volkswirtschaft Europas und Gründungsmitglied der EWG deutlich vor Augen. Während meiner Arbeit fiel mir aber dann immer mehr auf, dass sich an Italien die Entwicklung europäischer Steuerstaatlichkeit wie im Brennglas rekonstruieren lässt.

Das war insoweit hilfreich, als dass es mir zugleich um die Stellung demokratischer Staatlichkeit im frühen 21. Jahrhundert geht. Mich überzeugt weiterhin die Beobachtung, dass Steuern das, was der Staate heute ist, wie kaum ein anderes soziales Phänomen engführen: Die fiskalischen Beziehungen, die mit Steuern zwischen den Bürgerinnen und Bürgern auf der einen sowie ihnen und dem Staat auf der anderen Seite gestiftet werden, beinhalten und gestalten die Sozialstruktur demokratischer Staatlichkeit. Zudem stecken sie das staatliche Potenzial in die Welt einzugreifen ab. Steuern stellen Handlungsmacht zur Verfügung – der Staat setzt sie ein, um etwas in die Wege zu leiten – und markieren zugleich die Grenzen staatlicher Ordnungsstiftung: Der Bereich oder das Milieu, in dem Steuerevasion möglich ist, kann als Frontier demokratischer Staatlichkeit begriffen werden.

Lars Döpking

Lars Döpking ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere und Neueste Geschichte am Deutschen Historischen Institut in Rom. Zuvor war er Mitglied in der Forschungsgruppe Demokratie und Staatlichkeit am Hamburger Institut für Sozialforschung. Sein Buch zur historischen Soziologie des italienischen Steuerstaats (»Fiskalische Herrschaft«) erschien im Mai 2023 in der Hamburger Edition.

Der Verlauf des Frontiers demokratischer Staatlichkeit wandelt sich allerdings. Sie bemerken in Ihrem Buch, dass in den ersten Nachkriegsjahrzehnten ein tiefer Glaube an die Fortschrittskräfte des besteuernden Staates dominierte. Nicht nur in Italien, sondern auch in ganz Westeuropa und in den USA. Worauf beruhte dieser Glaube und wann begann sich das zu wandeln?

Tony Judt schreibt in seiner Geschichte Europas, dass die Briten das progressive Steuersystem der Nachkriegsjahrzehnte, das Spitzensteuersätze von über 90% vorsah, intuitiv als fair empfanden. Damit standen sie keineswegs alleine dar – viele Staaten Kontinentaleuropas wie die Bundesrepublik oder Italien verfügten über ähnliche Systeme. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika kannten solche Steuersätze. Hier wie dort fanden sich engagierte Verteidiger des Systems, die die hohen Einkommens- und Erbschaftssteuertarife mit unterschiedlichen Argumenten rechtfertigten. 

Wichtig ist bei diesem Punkt aber, dass nur sehr wenige Steuerzahler diese hohen Tarife tatsächlich zahlten. Die meisten theoretisch betroffenen konnten dem Zugriff des Fiskus ausweichen und ihr Einkommen verschleiern, weshalb politischer Widerspruch häufig gar nicht notwendig war. Das gestaltete sich für Prominente natürlich schwierig. Die Steuerfahndung begriff schnell, dass bei ihnen mehr zu holen war. 

Es gab also auch in den Nachkriegsjahrzehnten eine Kultur, das eigene Einkommen gegenüber den Finanzbehörden nicht wahrheitsgemäß anzugeben? 

Richtig, und das ist vielleicht eine universalhistorische Konstante. Bestimmte Personenkreise kamen damit aber nicht durch. Zum Beispiel Musiker oder Filmstars. Diese verdächtigte die Steuerfahndung schnell und häufig zu Recht, mehr Einkommen erzielt als angegeben zu haben. Auch standen sie im Falle dessen schnell am Pranger. In Italien gab es z.B. in den frühen 1960er Jahren viele berühmte Filmstars, die aufgrund von Steuerhinterziehung ihre Namen in der Presse wiederfanden. Und in Großbritannien griff die Steuerfahndung auch bei den Beatles durch, was sie in dem Song »Taxman« künstlerisch verarbeiteten. In ihm spiegelt sich, wie der Zugriff des Steuerstaates auch Widerspruch und Protest erzeugte. Und dieser machte bei den Ämtern nicht halt, sondern richtete sich rasend schnell gegen die polit-ökonomische Ordnung der Nachkriegsjahrzehnte insgesamt.

Eine Möglichkeit, die Erosion dieses Glaubens an den Steuerstaat zu erzählen, besteht also darin, die Widerspiegelung fiskalischer Herrschaft in der Popmusik der 1960er Jahre zu suchen. Ich gehe in meinem Buch dieser Spur nicht im Detail nach, doch ist es auffällig, dass Künstler wie Jimi Hendrix, The Who oder Johnny Cash zu dieser Zeit allesamt Stücke gegen den besteuernden Staat veröffentlichten. Ob dies ursächlich den Glauben an die Fortschrittskräfte des Steuerstaats erodieren ließ, wäre zu diskutieren.

Die Nachkriegsjahrzehnte werden allerdings häufig eher als »goldene Jahre des Kapitalismus« bezeichnet. Manche Theoretiker führen sie auf einen potenteren Steuerstaat zurück, der später jedoch einer neoliberalen Revolution zum Opfer fiel. Damit scheint doch alles gesagt?

Prinzipiell ist das Narrativ eines Bruchs erst einmal plausibel und an vielen Stellen zutreffend, nur würde ich bestreiten, dass der Steuerstaat einer solchen Revolution zum Opfer fiel und in ihrer Folge unterging. Das Ausmaß von Besteuerung ging seither ja nicht zurück, vielmehr verlagerte sich die Besteuerung. Von einer Krise des Steuerstaats im Sinne des steuererhebenden Staates lässt sich kaum sprechen.

Wieder andere argumentieren, dass der Steuerstaat sich in den Jahren der »Trente Glorieuses« immer weiter aufgebläht hatte und gezähmt werden musste. Das »Biest« musste ausgehungert werden, um zu einer wahren Demokratie mit wahrer Freiheit für alle Bürgerinnen und Bürger zu kommen.

Das ist das konkurrierende Narrativ, in dem die normativen Vorzeichen der Beschreibung wechseln. Die kritische Rückfrage an es lautet, wer denn genau die Bürgerinnen und Bürger sind, die heute in den Genuss einer solchen Zähmung kommen. Für einen Großteil der Bevölkerung in der westlichen Welt gilt das sicherlich nicht – von der Reduzierung der Spitzensteuersätze, der Senkung von Unternehmenssteuertarife oder der Einführung dualer Einkommensbesteuerung profitierten sie kaum. Zu fragen wäre deshalb, wie weitgehend diese Zähmung war und wer von ihr profitiert hat. Das ist politisch keine unbedeutende Frage, weil fiskalische Herrschaft sich durchaus demokratisieren lässt. Die Frage ist nur, in welche Richtung das passiert.

Aber trotzdem bezeichnen sie die These eines Bruches als plausibel. Weshalb? 

Ja, man kann und sollte die 1970er Jahre als Zäsur des Steuerstaates verhandeln. Seither können wir jedenfalls massive strukturelle Verschiebungen in der Steuerquote beobachten. Sinkende Einnahmen aus Kapital- und Unternehmenssteuern wurden aber durch die steigenden Einkünfte aus Mehrwert- und Einkommensteuern überkompensiert. Im Ergebnis stieg deshalb die Steuerquote in vielen Ländern bis zum heutigen Tage weiter an. Bereinigt von Sozialversicherungsbeiträgen wuchs das Steueraufkommen im Verhältnis zum BIP seit 1970 in Belgien um 8, Frankreich um 7 und in Italien um 12 Prozentpunkte. In der BRD pendelte sich es hingegen auf niedrigerem Niveau ein, gleiches gilt für die Niederlande. Einzig in Großbritannien ging es nachhaltig zurück.

Die europäische Bevölkerung zahlt heute also mehr Steuern als jemals zuvor?

Sicherlich, und das selbst dann, wenn man den britischen Fall als Modellfall kapitalistischer Entwicklung heranzieht. Denn auch dort stiegen die Steuereinnahmen real, also inflationsbereinigt seit den 1970er Jahren an. 2019, also vor der Corona-Pandemie, entsprachen sie etwa 580 Mrd. Pfund. 1978, im Jahr bevor Margaret Thatcher zur Premierministerin ernannt wurde, waren es ca. 193 Mrd. Pfund. Auf dem Kontinent sind die Entwicklungen, eben weil der Anteil am BIP in der Regel nicht ab-, sondern zunahm, noch eindrücklicher. Allein in Italien verfünffachte sich das reale Steueraufkommen seit 1970. Gemessen an dieser Kenngröße wirken die Steuerstaaten Westeuropas heute quicklebendig.

Der richtige Reflex vieler Kommentatoren besteht darin, solche Zahlen ins Verhältnis zum BIP zu setzen und sie so zu relativieren. In dem damit gezeichneten Bild, das eher Statik als Dynamik vermittelt, geht dann allerdings schnell verloren, dass fiskalische Herrschaft kontinuierlich expandiert ist, wenn auch nicht für alle im gleichen Maße. Angesichts dieser kontinuierlichen Expansion halte ich für problematisch, wenn wir so tun, als wäre nicht viel passiert und alles sei wie gehabt. Auch darum ging es mir in meinem Buch.

Wie kam es denn zu der von Ihnen beschriebenen Expansion fiskalischer Herrschaft?

Die wichtigste Innovation des besteuernden Staates im 20. Jahrhundert war die umfassende Einführung des Quellenabzugsverfahrens, d.h. dem Vorgang, in dem der Arbeitgeber die fälligen Steuern für den Fiskus vor Auszahlung der Löhne einbehält und an ihn überweist. Der Steuerstaat griff dabei auf die Kapazitäten privater Buchhaltungen und Verwaltungen zurück und stellte mit ihrer Hilfe eine Situation her, in der die meisten Menschen steuerlichen Forderungen nur mit Gehorsam begegnen können. Es ist ihnen nicht mehr oder kaum noch möglich, unter Einsatz von Macht die Höhe der fälligen Steuern auszuhandeln, Zahlungstermine zu verschieben usw. Dies ist der Kern dessen, was ich als fiskalische Herrschaft bezeichne. Sie basiert auf den umfassenden infrastrukturellen Machtkapazitäten, die private Verwaltungen dem Fiskus im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Verfügung stellten.

»Fiskalische Herrschaft –
Steuern, Staat und Politik in Italien seit 1945« ist im Mai 2023 in der Hamburger Edition erschienen

Gilt das für alle im selben Maße?

Nein, denn offensichtlich unterliegen nicht alle Bevölkerungsschichten fiskalischer Herrschaft im gleichen Maße. Die prominentesten Beispiele stellen dabei sicherlich multinationale Konzerne dar, die in den vergangenen Jahrzehnten exorbitant fiskalisch privilegiert wurden. Doch auch natürliche Personen mit hohem Vermögen und/oder hohem Einkommen konnten von den Transformationen europäischer Steuerstaaten profitieren – denken wir an die Steuerskandale um Lionel Messi oder die vielen Leaks brisanter Steuerdaten aus Luxemburg oder Steueroasen, über die in den Medien breit berichtet wurde. Fiskalische Herrschaft expandierte selektiv – was wie gesagt aber weder in das Narrativ einer neoliberalen Erosion noch einer demokratischen Zähmung des Steuerstaats so recht passen will.

Dass vermögende Personen und Unternehmen von dieser Entwicklung übermäßig profitiert haben, wird natürlich auch normativ viel kritisiert. 

Das kann man normativ sicher tun, aber es geht auch funktional: Argumentiert wurde ja, dass die sinkenden Steuern für die Angebotsseite dazu führen würden, dass es mehr Wirtschaftswachstum gäbe und dadurch alle Beteiligten etwas davon haben würden. Hier scheint mir aber nicht geliefert worden zu sein.

In Italien wurden in den Jahren der »Trente Glorieuses« deutlicher weniger Steuern als andernorts gezahlt. Erfolgte die Expansion fiskalischer Herrschaft dort ebenfalls selektiv? 

Italien stellt keine Ausnahme von dieser übergreifenden Entwicklungstendenz dar. Auch hier finanzierten vor allem die Lohnabhängigen den Aufstieg des Steuerstaats, während der Anteil den Unternehmen oder Vermögende erbrachten, besonders seit den 1990er Jahren, zurückging. Eine Besonderheit des italienischen Falls lautet nun aber, dass dort der Anteil der Selbstständigen an der Gesamtbevölkerung enorm hoch war und weiterhin ist. In den 1980er Jahren notierte er mit 30% dreimal höher als in der Bundesrepublik. Diese Selbstständigen, also all die Besitzer kleiner Lebensmittelgeschäfte, Tabakläden, etc., wurden nie fiskalischer Herrschaft unterworfen. Sie können ihre fiskalischen Beziehungen weiterhin mit Macht gestalten, ihre Umsätze frisieren, keine Kassenzettel ausgeben usw. Sie sind eine verhältnismäßig große Gruppe, die ein vitales Interesse daran hat, dass fiskalische Herrschaft nicht weiter expandiert. An ihnen sieht man, dass diese eben auch immer eine politische Größe ist.

Sie schreiben, dass auch »fiskalische Klassenkämpfe« in Italien stattfinden, weil zum Beispiel Selbstständige und Kleinunternehmer gegenüber normalen Angestellten fiskalisch privilegierte Gruppen sind. Wie kam es zu dieser Privilegierung?

Eine der zentralen Thesen meines Buches lautet, dass die fiskalischen Beziehungen, die Steuerstaaten unermüdlich zu ihren Bürgerinnen und Bürgern stricken, sich nicht auf die Frage reduzieren lassen, inwiefern in ihnen die Steuerordnung tatsächlich gilt, also inwiefern sie ihr Handeln an dieser Ordnung wirklich orientieren. Fiskalische Privilegierung ob nun im positiven oder im negativen Sinne hat darüber hinaus aber auch politische Konsequenzen. In Italien beförderte in den 1980er Jahren die selektive Expansion fiskalischer Herrschaft die Konstitution zweier Fiskalklassen, die fortan miteinander und mit dem Parteiapparat um die Verteilung der Steuerlast rangen. Während u.a. die Gewerkschaften mit Streiks etc. auf eine effektive Bekämpfung von Steuerevasion drängten und dabei gerade die Selbstständigen ins Visier nahmen, versuchten jene ebenfalls unter Rückgriff auf Massenproteste ihre Evasionschancen zu bewahren und somit ihre Machtbeziehungen zum Fiskus aufrechtzuerhalten. Darin waren sie bis heute zumindest zum Teil erfolgreich.

Solche Handlungsmuster sind fiskalsoziologisch betrachtet naheliegend. Wer fiskalischer Herrschaft unterworfen ist, für den spielt der politisch beeinflussbare Inhalt einer Steuerordnung eine größere Rolle als für jemanden, der davon ausgehen kann, dass ihre Normen ihm gegenüber keine Geltung beanspruchen. Die Qualität fiskalischer Beziehungen, die Frage ob ich fiskalischer Herrschaft unterworfen bin oder ob ich fiskalische Machtspiele initiieren kann, präfiguriert die Politisierung des Steuerstaats.

Eine Besonderheit in Italien ist auch, dass diese »fiskalischen Klassenkämpfe« nicht unbedingt zwischen arm und reich ausgetragen werden. 

Richtig. In Italien zählt nicht unbedingt zu den Reichen, wer fiskalisch privilegiert ist. Das sieht man schnell, wenn man in ein kleines Lebensmittelgeschäft oder in eine Bar geht. Die Eigentümer dort sind oft alles andere als reich. Ihre Möglichkeit selbstständig zu sein beruht umgekehrt darauf, dass sie bestimmte Formen ihres Einkommens nicht versteuern und abseits des Steuerstaates Waren beziehen und verkaufen können. Das ist deshalb bemerkenswert, weil die Gegenüberstellung von reich und arm hier ein Stück weit ihren Sinn verliert. Daran ließe sich die Frage anschließen, ob die Ausweitung fiskalischer Herrschaft immer progressiv sein muss. Beispielsweise könnten diese Läden sich dann zur Schließung gezwungen und ihre ehemaligen Besitzer:innen sich veranlasst sehen, ihre Arbeitskraft großen Supermarktketten feilbieten zu müssen.

Man kann an ihrem Buch sehr gut nachvollziehen, dass Steuerstaaten permanentem Wandel unterworfen sind. Wie sehen Sie die Zukunft des italienischen Steuerstaats? Wird es vielleicht zu einer weiteren Transformation desselben kommen? 

Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Was die Sache im Falle des Steuerstaats zusätzlich noch verkompliziert, dass sich seine Entwicklung nicht auf einen zentralen, entscheidenden Prozess reduzieren lässt. Vielmehr müssen stets vier Prozesse beobachtet werden, um sein Wesen und seinen Wandel nachzuvollziehen: Der Auf- und Abbau von Machtkapazitäten innerhalb von Steuerverwaltungen ist mindestens ebenso wichtig wie die Qualität der konkreten fiskalischen Beziehungen zu den verschiedenen Bevölkerungsgruppen; die sub- supra- und internationalen Beziehungen, die der Fiskus zu anderen seiner Art knüpft; oder die politischen Konflikte um seine Institutionen. Ob es in Italien demnächst zu einer weiteren Transformation kommen wird, lässt sich angesichts dieser prozessualen Verschlungenheit kaum sagen. Als Beobachter der aktuellen politischen Lage würde ich aber sagen, dass derzeit eher die Muster des fiskalischen Klientelismus der frühen 2000er Jahre wiederbelebt werden, als dass mehrere der zentralen Prozesse plötzlich eine andere Richtung einschlagen. Aber wenn die Verhandlungen um den Next Generation EU Fond so weiterlaufen wie bisher, will ich nichts ausschließen.

Entgegen hartnäckigen Vorurteilen ist der italienische Steuerstaat heute einer der effizientesten der Welt. Zugleich leidet Italien seit Jahren an stagnierenden Wachstumsraten. Hängen die Raten vielleicht mit der Expansion fiskalischer Herrschaft zusammen?

Wenn man jetzt ja antwortet, macht man sich direkt politisch verdächtig. Grundsätzlich wird man die Misere der italienischen Wirtschaft auch anderen Faktoren zuschreiben müssen als der Steuerpolitik – denken wir an Demographie, institutionelle Reformen oder die Integration in die europäische Gemeinschaftswährung. Doch vollkommen losgelöst von Steuern ist die kapitalistische Entwicklungsdynamik in Italien keinesfalls. Wenn man sich auf negative Momente beschränken will, fallen unmittelbar zwei Episoden ins Auge. Der wirtschaftliche Schock der 1990er Jahre, als in kürzester Zeit das Haushaltsdefizit reduziert werden musste, um den Euro pünktlich einzuführen, wurde auch mit den Mitteln des Steuerstaats herbeigeführt. Einige Jahre später mobilisierte dann der damalige Premierminister Mario Monti die Kräfte des Fiskus, um der sogenannten Eurokrise entgegenzutreten. Er kürzte nämlich nicht nur Ausgaben des Staates, sondern verschärfte zeitgleich die steuerliche Abschöpfung der Bevölkerung. Die Folgen waren katastrophal und Italien hat sich bis heute davon wirtschaftlich kaum erholt.

Welche Bedeutung würden Sie sagen, hat die wirtschaftliche Erholung von Italien für die Eurozone? Hängt gar das Schicksal der EU davon ab?

Dario Guarascio et al. ist sicherlich zuzustimmen, wenn sie Italien als die Achillessehne bzw. den verwundbarsten Punkt der Eurozone bezeichnen. Ich wäre allerdings skeptisch, noch einen Schritt weiter zu gehen, und die wirtschaftliche Erholung auf der Halbinsel zur Schicksalsfrage der EU zu erklären. Nicht, weil ich die Bedeutung von Italien im Besonderen oder wirtschaftlicher Entwicklung im Allgemeinen herunterspielen will, sondern weil ich der Rhetorik von Schicksalsfragen nicht traue. Unstrittig scheint mir allerdings, dass es kein Europa ohne Italien gibt und dass dieses Europa der italienischen Bevölkerung mehr als nur Rezessionen und hohe Steuern anbieten muss. Das sind Fragen, die weit über das Feld der Fiskalsoziologie hinausreichen. Klar ist in diesem Zusammenhang, dass eine neue Politische Ökonomie für Europa, die solche Fragen erörtern würde, auch darüber nachdenken müsste, was es heißt, in einem europäischen Steuerstaat zu leben. Dieser Debatte wird niemand ausweichen können.

Wenn man allgemein über die Auswirkungen fiskalischer Herrschaft auf Demokratie nachdenkt, gibt es etwas Besonderes, was man von Italien lernen kann? 

Italien bildet keinen Sonderfall in der Geschichte des westeuropäischen Steuerstaats. Sicherlich weist es Eigenheiten auf, wie die rasche Abfolge zentraler Reformen oder die moderate bis hohe Steuerhinterziehung. Aber die sind nicht entscheidend, um den Zusammenhang zwischen Demokratie und fiskalischer Herrschaft auszuleuchten. Italien macht eher plastisch deutlich, dass Demokratien informelle fiskalische Privilegierung nicht bis zum äußersten treiben können, da diese den Zusammenhalt ihrer politischen Gemeinschaft zu sprengen drohen. Vor die Alternative gestellt, fiskalische Herrschaft weiter auszuweiten oder umfassend zurückzubauen, sollte jedoch eines bedacht werden: Fiskalische Herrschaft lässt sich demokratisieren – das gilt für fiskalische Machtbeziehungen nur eingeschränkt.

Vielen Dank für das Gespräch!