Liberalismus mit der Kettensäge

Viele Liberale sind überzeugt: Die Antwort auf die Krise des Liberalismus kann nur mehr Liberalismus sein. Aber was ist, wenn noch mehr Liberalismus denselben immer autoritärer werden lässt? Warum autoritärer Liberalismus und Liberalismus keine Gegensätze sind, sondern das eine aus dem anderen hervorgeht, schreibt Otmar Tibes.

Freihandel, Vielfalt und Toleranz. Für Jahrzehnte haben diese Werte den Liberalismus bestimmt. Mit der Globalisierung würde es immer mehr Wirtschaftswachstum und auch immer mehr Wohlstand auf der Welt geben, glaubten Liberale. Automatisch würde dann auch die Akzeptanz für fremde Kulturen und individuelle Lebensentwürfe steigen. Mehr noch: Letztendlich würde der globale Kapitalismus alle Menschen miteinander verbinden und sämtliche Staaten der Welt in liberale Demokratien verwandeln. 

So haben Liberale sich in den 1990er Jahren die Zukunft vorgestellt. Doch der optimistische Liberalismus der »fröhlichen 1990er« ist heute tot. Von dem Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahrzehnte haben nur wenige profitiert. Die meisten Menschen in der liberalen Hemisphäre mussten sich mit einem Rückbau sozialer Sicherungssysteme, stagnierenden Reallöhnen und prekären Beschäftigungsverhältnissen zufrieden geben. Über die Jahre hat das für immer mehr Unzufriedenheit gesorgt, die politisch aber nicht auf der Linken eingezahlt hat, sondern ihren Ausdruck in beispiellosen Wahlerfolgen rechter und rechtsextremer Parteien fand. 

Diese Entwicklung hat viele Ursachen, es drückt sich darin aber auch die Enttäuschung vieler Wähler*innen über die sogenannten Mitte-Links-Parteien aus. Insbesondere in den 1990er Jahren sind viele dieser Parteien, entgegen ihrer ursprünglichen politischen Position, immer liberaler geworden. In Europa kann diese Entwicklung am sogenannten »Third Way« nachvollzogen werden, als sozialdemokratische Parteien sich vom Keynesianismus verabschiedeten. In den USA schlugen die »New Democrats« denselben Weg ein. 

Otmar Tibes

Otmar ist Gründer vom Politik & Ökonomie Blog. Nach dem Abschluss seines VWL-Studiums war er jahrelang bei einem privaten Bildungsträger in der freien Wirtschaft tätig. Heute arbeitet er im politischen Bereich.

In Alternativlosigkeit sterben

Die Wahlerfolge rechter Parteien zeigen: Rechtspopulisten wussten die Frustration der Menschen für ihre Zwecke zu nutzen. Mit globaler Finanzkrise, Eurokrise und dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs begann ihr politischer Aufstieg. Es folgten das Brexit-Referendum sowie der erste Wahlsieg von Donald Trump. Heute, fast zehn Jahre später, regiert Donald Trump die USA erneut und diesmal baut er den Staat mit seinen MAGA-Mitstreitern radikal um. Die liberale Demokratie gerät von allen Seiten enorm unter Druck und die utopische Kraft des Liberalismus erschöpft sich. Mit anderen Worten: die liberale Geschichtsphilosophie gelangt an ihr Ende. 

Wie reagieren Liberale heute auf diese Krise? Nicht wenige begegnen ihr mit Ratlosigkeit. Sie sehen, dass alles immer schlimmer wird und doch soll alles so bleiben, wie es ist. Es gibt zum Status quo nun mal keine Alternative. Wie dieser Status quo die heutige Krise erzeugt hat, wird von Liberalen nicht problematisiert. Rechtspopulismus und Faschismus werden selbst nicht als Problem der liberal-demokratischen Ordnung verstanden, sondern als das komplett Andere dieser Ordnung. Auf diese Weise externalisieren Liberale die Krisenursachen, weshalb von einem blinden Fleck in der Krisenanalyse gesprochen werden muss. Dieser ist zu einem intellektuellen Verhängnis geworden, da er jede Selbstkritik verhindert: Der Liberalismus droht in Alternativlosigkeit zu sterben.

Liberale Radikalisierung 

Zu einem völlig anderen Ergebnis gelangen Liberale, die sich selbst als Libertäre verstehen. Nach ihrer Analyse ist der heutige Status quo immer noch zu links. Hätte man die Märkte in den 1980er und 1990er Jahren umso gründlicher dereguliert und wäre der öffentliche Sektor noch stärker privatisiert worden, wäre die Welt heute ein besserer Ort, so ihr Argument. Sie führen die Krise also auf den vermeintlichen Missstand zurück, dass der Liberalismus bislang nicht konsequent genug umgesetzt wurde. Ihre Antwort auf die Krise lautet deshalb: Mehr Liberalismus wagen!

Was dieser Imperativ bedeutet, erkennen wir, wenn wir die Prinzipien und Doktrinen des heutigen Liberalismus in den Blick nehmen. Ein ganz wesentliches Prinzip des Liberalismus ist die negative Freiheit. Es bestimmt den Liberalismus seit Anfang des Kalten Krieges, als liberale Intellektuelle damit begannen, mit der progressiven Tradition des Liberalismus zu brechen. Samuel Moyn hat diese Entwicklung des »Cold War Liberalismus« in seinem jüngsten Buch nachgezeichnet. Seither lauten die vorherrschenden liberalen Doktrinen: Individualismus, Antietatismus und Antikommunismus.

Nach dem glanzlosen Ende von Bretton-Woods sowie den Jahren der Stagflation wurden diese Doktrinen politisch immer einflussreicher. Konservative Regierungen begannen die politische Ökonomie nach ihren Vorgaben umzubauen. Dabei galt ökonomische Freiheit als höchster Ausdruck individueller Freiheit: Je erfolgreicher man ökonomisch war, desto freier sollte man sein. Weil die Gesellschaft angeblich immer davon profitiert, wenn Einzelne ökonomisch erfolgreich sind, stellte man private vor gesellschaftliche Interessen. Je erfolgreicher die Einzelpersonen schließlich sein würden, desto besser für die Gesellschaft.

Nach diesem Kalkül ist die politische Ökonomie der Nachkriegszeit dann umgebaut worden: Das Ziel der Vollbeschäftigung ist durch die Geldmengensteuerung bzw. Geldwertstabilität ersetzt worden. Staatsausgaben wurden gekürzt und Spitzensteuersätze gesenkt. Das sollte neues Wachstum erzeugen. Zusätzlich wurden neue Märkte durch Privatisierung und Deregulierung geschaffen, u.a. auch die globalen Finanzmärkte. Für staatliche Wohlfahrt blieb am Ende kein Platz mehr. Neoliberale haben den Wohlfahrtsstaat in den USA abgerissen, obwohl dieser einst von Liberalen errichtet worden ist. Er war die liberale Antwort auf die Weltwirtschaftskrise und den Aufstieg des Faschismus.

Vom Neoliberalismus zum Anarchokapitalismus

Die damaligen Umstrukturierungen prägen die politische Ökonomie bis heute. In Großbritannien und in den USA haben Margaret Thatcher und Ronald Reagan die keynesianische Wirtschaftsordnung in eine neoliberale umgewandelt. Libertären geht das aber nicht weit genug. Sie sind davon überzeugt, dass man den Liberalismus bis zur letzten Konsequenz weiter treiben muss, wenn er »echter« Liberalismus sein soll. Dementsprechend steht der Imperativ »Mehr Liberalismus wagen!« für eine Agenda, die den Liberalismus radikal vollendet. 

Worauf das politisch hinaus läuft, verstehen wir, wenn wir die Doktrinen des Liberalismus zu Ende denken. Radikal zu Ende gedacht steht der liberale Individualismus für eine Entsolidarisierung der Gesellschaft. Ideologisch setzt das die Negation der Tatsache voraus, dass es eine Gesellschaft überhaupt gibt. Angeblich gibt es nur männliche und weibliche Individuen, wie Margaret Thatcher einmal behauptet hat. Damit ist jede Gesellschaftspolitik hinfällig – denn ihr fehlt der Gegenstand. Jeder ist seines Glückes Schmied oder mit anderen Worten: Jeder stirbt für sich allein.  

Der liberale Antietatismus führt, radikal zu Ende gedacht, wiederum zu einer Entstaatlichung des Staates. Idealerweise soll der liberale Staat ein kleiner Ministaat sein. Alles, was über Polizei, Militär und Justiz hinaus geht, ist bereits »Sozialismus«. Erkennbar spielt hier der im 20. Jahrhundert virulente Antikommunismus mit hinein. Politisch aber bedeutet es, dass nahezu der gesamte Staat beseitigt werden muss, um wahrhaft »liberal« zu sein.

Die politische Ökonomie des Libertarismus ist eine wesentlich antipolitische. Der Ministaat garantiert, dass politische Eingriffe in die kapitalistische Ökonomie unterbleiben. Die als Naturzustand verstandenen Marktkräfte sollen das menschliche Zusammenleben bestimmen und in der Gesellschaft muss ein »natürliches« Recht des – vor allem: ökonomisch – Stärkeren vorherrschen. Würde sich der Staat dort einmischen, liefe er nur Gefahr »unnatürliche« Verhältnisse zu schaffen, da er starke Individuen schwach und schwache Individuen stark machen würde. Anarchokapitalistischer Libertarismus verlangt jedoch, dass starke Individuen stark und schwache Individuen schwach bleiben.

Der Weg zur Knechtschaft

Das libertäre Staatsideal impliziert aber noch mehr. Durch die Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen bleibt den Bürgerinnen und Bürgern kaum etwas übrig, worüber sie politisch bestimmen können. Wenn zum Beispiel das öffentliche Bildungs- oder Gesundheitswesen privatisiert ist, so entscheiden nicht mehr die Bürgerinnen und Bürger über dessen Ausgestaltung oder Leistungen, sondern dessen Privateigentümer. 

Auf moderne Massendemokratien übertragen bedeutet dies, dass der demokratische Souverän seine politische Souveränität verliert. Er gibt sie an Privatleute ab, die ausreichend Kapital besitzen, um öffentliche Anlagen und Betriebe aufzukaufen und privatwirtschaftlich zu betreiben. Als Eigentümer entscheiden sie dann, welche Lehrpläne in Schulen und Universitäten gelehrt werden, welche medizinische Versorgung es in Krankenhäusern gibt und welche Eintrittspreise für Parks und Straßen gezahlt werden müssen. Die »res publica«, die öffentliche Sache, wird damit zur »res privata«. Die Bürgerinnen und Bürger sind nur noch Kundinnen und Kunden im eigenen Staat. 

Letztendlich impliziert Entstaatlichung also schleichende Entdemokratisierung. Sie bereitet den Aufstieg der Wirtschaftselite zur politischen Machtelite vor. Wie heute der digitale »Town Square«, so kann dann auch der analoge »Town Square« von Multimilliardären gestaltet und eingerichtet werden. Der libertäre Ministaat sorgt wiederum dafür, dass die Wirtschaftselite nicht gestört wird, etwa durch Proteste von Gewerkschaften, Bürgerrechtsbewegungen oder sonstige Formen organisierten Widerstands. Diese Herrschaftsform hat einen Namen und er lautet: Oligarchie. Eine Oligarchie ist politisch aber nicht liberal, sondern autoritär.

Abolish! Abolish! Abolish!

Nun behaupten einige Liberale, dass diese Utopie – oder vielmehr: Dystopie – nichts mit Liberalismus zu tun habe. In einer Hinsicht haben sie Recht: Von einer liberalen Demokratie kann nicht die Rede sein, wenn der liberale Staat in einen autoritären Ministaat umgewandelt ist. Vielmehr leben die Menschen dann in einer anarchokapitalistischen Oligarchie. In einer zweiten Hinsicht haben Liberale aber Unrecht. Denn die autoritäre Form des Liberalismus geht aus dem Liberalismus logisch hervor: Man muss seine Doktrinen nur radikal zu Ende denken.

Ein populäres Video von dem argentinischen Präsidenten Javier Milei mag das veranschaulichen. Darin reißt Milei mehrere Zettel von einer Tafel ab und ruft: »Afuera! Afuera! Afuera!«. Auf jedem abgerissenen Zettel steht der Name eines argentinischen Ministeriums. Der Präsident demonstriert mit seiner Geste also, was er mit den Ministerien vorhat: Er will sie alle abschaffen. Zu Beginn des Videos spricht Milei noch die Überzeugung aus, die seinem Handeln Pate steht. Er zitiert einen alten Ausspruch von Ronald Reagan: »Der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem«.

Man sieht, wie hier zu Ende getrieben wird, was ideologisch bereits vorgedacht ist. Der argentinische Präsident ist ein politischer Erbe von Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Deren Agenda gehen wiederum auf Friedrich Hayek und Milton Friedman zurück. Tatsächlich zitiert Mileis populäres Video auch ein altes Fernsehinterview mit Milton Friedman: Der Wirtschaftsnobelpreisträger wird darin gefragt, welche Ministerien in den USA erhalten oder abgeschafft werden müssen: Bildungsministerium, Verkehrsministerium, Umweltministerium etc. Die Antwort von Friedman lautet fast jedes Mal: »Abolish! Abolish! Abolish!«

Man kann den autoritären Liberalismus also nicht vom Liberalismus trennen. Seine autoritäre Version ist schließlich schon im Liberalismus angelegt. Insofern haben Libertäre auch nicht Unrecht, wenn sie Liberalen vorwerfen, keine echten Liberalen zu sein. Viele Liberale verbergen vor sich selbst, dass ihre libertären Feinde nur konsequentere Liberale sind. Dieser Selbstbetrug aber ist fatal, denn er raubt dem Liberalismus seine Möglichkeit zur Selbstkritik – und damit zur Selbstkorrektur.

Schicksale des Liberalismus

Die Anerkenntnis der autoritären Gefahr, die im Liberalismus lauert, ist Voraussetzung für die weiterführende Frage: Muss der Liberalismus in eine autoritäre Form übergehen? Ist das sein Schicksal? Die Antwort auf diese Frage könnte eine doppelte sein: Ja und nein. Wenn man den Liberalismus so denkt, wie er seit Anfang des Kalten Krieges gedacht wurde, muss er sich irgendwann in sein Gegenteil verkehren. Nur: Muss man den Liberalismus so weiter denken, wie er bisher gedacht worden ist, oder könnte man ihn nicht auch anders denken?

Die zweite Möglichkeit auszuschließen, bedeutet, den Liberalismus zu essenzialisieren. Das ist es, was viele Liberale und Liberalismuskritiker heute miteinander gemeinsam haben: Beide setzen ein esseziallisiertes Liberalismusverständnis voraus. Liberale tun das, wenn sie den heutigen Liberalismus dogmatisch als alternativlos hinstellen und ihn umso verbissener verteidigen. Kritiker tun es, wenn sie den Liberalismus für grundsätzlich gescheitert erklären, wie es etwa die Postliberalen um Patrick Deneen tun.  

Von ihrem dogmatischen Schlummer können Liberale sich befreien, wenn sie zu einer alten Tugend zurückkehren: Kritik statt Dogma. Anstatt den Liberalismus verbissen zu verteidigen, sollten sie seine Doktrinen kritisch hinterfragen. Hierfür ist eine kritische Auseinandersetzung mit liberalen Intellektuellen erforderlich, die den Liberalismus ideologisch geprägt haben. Isaiah Berlin zum Beispiel: Von ihm hat der Liberalismus seinen libertären Spin erhalten. In seinem Werk hat Berlin die Freiheit so einseitig gedacht, dass er sie nur noch negativ verstanden hat. Heute wissen viele Liberale gar nicht mehr, dass sie auch positiv gedacht werden kann. Besäße der Liberalismus aber ein positives Freiheitsverständnis, wäre er für eine libertäre Radikalisierung weniger anfällig.

Doch auch Karl Raimund Popper, von dem die obige Maxime stammt, verdient eine kritische Auseinandersetzung. Selbst dachte er schließlich auch nicht immer undogmatisch. Seine Marx- und Hegelrezeption beruht auf zahlreichen Unwahrheiten, mit welchen er an der Bildung eines liberalen Antikanons mitgewirkt hat. Heute muss dieser Antikanon aufgelöst werden, da er wichtige intellektuelle Ressourcen für eine kritische Erneuerung enthält. Das Ziel einer kritischen Erneuerung darf jedoch nicht sein, einen neuen Antikanon zu bilden. Man darf mit Popper nicht so umgehen, wie dieser mit Hegel und Marx umgegangen ist. Die Fehler der Cold War Liberals würden sonst nur wiederholt, nicht korrigiert.

Liberalismus mit der Kettensäge

Es gibt in der Geschichte manchmal Momente, in welchen es nur noch die Wahl zwischen Ketzerei und Hoffnungslosigkeit gibt: wenn beispielsweise der einzige Weg, eine Religion am Leben zu halten, die ketzerische Abspaltung von ihrer Kirche ist. Das ist die Lage von Liberalen in Bezug auf den Liberalismus heute. Nur eine neue Ketzerei kann bewahren, was am Liberalismus erhaltenswert ist: Demokratie, Freiheit und Solidarität. 

Die Alternative dazu ist der dogmatische Exzess der fortlaufenden Radikalisierung. Das Symbol für diesen Exzess ist die Kettensäge. Sie steht für eine alte politische Methode: Um die Krise zu heilen, muss man sie weiter verschärfen. Das ist die Logik der Disruption, die Methode der Schocktherapie. Alles muss erstmal schlimmer werden, bevor es wieder besser werden kann. Dieser Weg führt in die Zersägung der liberalen Demokratie und die Zerstörung der Freiheit.

Die liberale Antwort auf die Krise des Liberalismus sollte deshalb nicht lauten: »Mehr Liberalismus wagen!« Sie sollte vielmehr lauten: »Einen besseren Liberalismus wagen!« In den Ohren mancher Liberaler mag das nach Ketzerei klingen oder einem Sakrileg. Sie werden ihre dogmatischen Überzeugungen nicht so leicht aufgeben und weiter hartnäckig verteidigen. Vielleicht sollte man sie einfach lassen. Selbst aber sollte man sich die Freiheit nehmen, an der intellektuellen Erneuerung des Liberalismus zu arbeiten, bevor es zu spät ist.