Lukas Hermsmeier: „Oft sind es revolutionäre Bewegungen, die Reformen überhaupt erst ermöglichen.“
Ausgerechnet in den USA sind linke Gruppen erstarkt – oder sollte man vielleicht sagen, gerade in den USA? Vielen Menschen bleibt heute gar nichts anderes übrig, als sich selbst zu organisieren, erklärt Lukas Hermsmeier. Welche Konzepte sich in den USA und Deutschland wechselseitig beeinflussen, hat unser Herausgeber Otmar Tibes mit ihm besprochen.
Herr Hermsmeier, in Ihrem neuen Buch thematisieren Sie die Entwicklung der US-amerikanischen Linken in den letzten zehn Jahren. Woraus setzt diese neue Linke sich zusammen?
Die Frage ist berechtigt. Wenn man diesen Begriff „die Linke“ benutzt, vermutet man ja tatsächlich schnell so etwas wie eine Einheit oder eine Partei. Und das ist in den USA nicht der Fall. Ich würde sogar sagen, dass es noch weniger der Fall ist als in Deutschland, wo man zumindest eine Partei „Die Linke“ hat, in deren Umfeld sich viel abspielt. In den USA ist es vielmehr eine Vielzahl von verschiedenen Bewegungen und Organisationen, die auch sehr verschiedene Taktiken und Ansätze verfolgen. Ich würde die amerikanische Linke deshalb als großes, komplexes und nicht kohärentes Konstrukt bezeichnen. Diese Vielfalt versuche ich in meinem Buch auch so klarzumachen, weil sich da sehr vieles verflechtet und aufeinander aufbaut, es aber eben auch widersprüchliche Kräfte gibt, die unter dem umbrella term „amerikanische Linke“ zusammengefasst werden.
Was sind denn die größten Organisationen in diesem Feld?
In den vergangenen fünf bis sieben Jahren sind die „Democratic Socialists of America“ (DSA) zur größten sozialistischen Organisation in den USA gewachsen. Das heißt von unter 10.000 auf knapp 100.000 Mitglieder. Im Vergleich zur Größe der USA ist das immer noch klein. Es gelingt der DSA aber inzwischen gut, punktuell Macht zu zeigen, etwa indem sie Leute aus den eigenen Reihen in die Parlamente bringt. Auf Stadtratsebene, auf State Senate Ebene und immer häufiger auch im Kongress. Es gibt also eine kleine Gruppe von Abgeordneten in Washington D.C., die im erweiterten Sinne der DSA zugehörig sind, zu denen gehören z.B. Alexandria Ocasio-Cortez und Jamaal Bowman. Noch eine andere Organisation, die eine größere Rolle spielt, ist das „Sunrise Movement“. Das ist die wichtigste klimaaktivistische Organisation in den USA, die um 2016 entstand und ähnlich wie die DSA landesweit agiert, aber lokal verwurzelt ist. Deren größtes Projekt ist der „Green New Deal“ – womit ja eine Reihe von ökonomischen und Infrastrukturtransformationen beschrieben wird. Sunrise versucht, den Green New Deal auf verschiedenen Wegen voranzutreiben, durch lokale Initiativen, Proteste, und auch durch Electoral Work. Sunrise und die DSA sind also gute Beispiele für Gruppen oder Organisationen, die in den USA an Bedeutung gewonnen haben.
Lukas Hermsmeier
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die amerikanische Linke aus der Enttäuschung über die Obama-Administration hervorgegangen ist. Sie kam zum Beispiel durch die Occupy Bewegung auf. Wie ging es nach Occupy weiter?
Ja, der Politikwissenschaftler Corey Robin, den ich in meinem Buch zitiere, nennt es eine „produktive Enttäuschung“. Obama stand für so viel Aufbruch und hat dann so wenig davon erfüllt bzw. erfüllen können. Zum Teil ist er an institutionellen Vetokräften in den USA gescheitert, zum Teil aber auch an seiner eigenen Politik. Am deutlichsten hat sich das dann in dem Protest von Occupy ausgedrückt. Occupy war ein Ausbruch von Wut: Die Wirtschafts- und Finanzkrise war gerade noch frisch, unglaublich viel Arbeitslosigkeit und prekäres Leben entstanden. Als Occupy dann vorbei war haben viele Leute sich überlegt, wie man das, was auf den Plätzen im Herbst 2011 entwickelt wurde, weiterverfolgen kann. Die Leute sind verschiedene Wege gegangen. Einige haben auf lokaler Ebene weitergewirkt, in New York und anderen Städten sind neue Graswurzelkollektive entstanden, die sich zum Beispiel gegen Gentrifizierung einsetzten. Andere haben sich überlegt, wie man Occupy auf landesweiter Ebene fortführen kann. Das hat dann die Bernie Sanders Kampagne 2015 mitinitiiert, wo Occupy-Aktivist:innen in den ersten Monaten zentral waren. Aus dieser Gemengelage heraus hat der demokratische Sozialismus eine Renaissance erfahren und mit ihm auch bestimmte Überlegungen über die Demokratie an sich. David Graeber, der für die Occupy Bewegung wichtig war, hat sich gefragt, wie man die extrem gewordene Entfremdung überwinden und die Demokratie in den USA direkter gestalten kann. So ist Occupy in viele Richtungen gewachsen.
Bernie Sanders wurde bei seiner ersten Kandidatur noch stark dafür angegriffen, dass er sich als „demokratischen Sozialisten“ bezeichnet hat. Bei seiner zweiten Kandidatur schien das aber keine große Rolle mehr zu spielen. Auch die DSA tragen „Sozialismus“ im Namen. Ist diese Normalisierung ein Verdienst von Bernie Sanders?
Dass sich der Sozialismusbegriff in den USA einigermaßen normalisiert hat, liegt auch daran, dass Bernie Sanders ihn sehr moderat gefüllt hat. Er hat zum Beispiel gesagt: „Leute, ich stehe für eine staatliche Krankenversicherung, für die Erhöhung des Mindestlohns und für freie und kostenlose Bildung.“ Das sind ja in unserem Denken eher sozialdemokratische und keine sozialistischen Forderungen. Gleichzeitig muss man sagen, dass Fearmongering und Red Scare immer noch in bestimmten Regionen und in vielen Medien verbreitet ist. Beides hat eine sehr traurige Tradition in den USA. Wenn man zum Beispiel durch Georgia oder Kentucky fährt und das Radio anmacht, dann werden moderate Demokraten als Kommunisten oder Sozialisten beschimpft. Viele Amerikaner:innen denken, dass die moderaten Forderungen von Bernie Sanders zu radikal sind. Es ist also nicht so, dass die Angstmacherei landesweit überwunden ist. In bestimmen demografischen Gruppen hat sich der Sozialismusbegriff aber normalisiert.
Wie sieht es mit der Normalisierung von bestimmten Ideen aus? Letzte Woche kam die Meldung, dass im Weißen Haus darüber nachgedacht wird, die Student Loans zu halbieren.
Dass die Unischulden gecancelt werden sollen, war vor zehn Jahren quasi unvorstellbar. Die Idee war eine radikale Nischenidee, die durch Occupy Aufwind bekam und dann langsam in den Mainstream und in die Realpolitik gezogen ist. Der Historiker Gabriel Winant schrieb vor wenigen Tagen dazu bei Twitter, dass dies einer der größten politischen Paradigmenwechsel wäre, die er je erlebt habe. Es sagt also was aus, dass sich auf dieser Ebene eine Reform anbahnt. In eine ähnliche Richtung entwickeln sich aber auch andere Ideen. Zum Beispiel gibt es das Konzept des „Green New Deal“ schon viele Jahre, lange Zeit hat sich aber niemand dafür interessiert und es war irrelevant für das, was in Washington D.C. überlegt und diskutiert wurde. Inzwischen haben sich dem Green New Deal über 100 Kongressmitglieder und zahlreiche Organisationen angeschlossen. Natürlich hat das auch mit der Dringlichkeit der Klimakrise zu tun und damit, dass der Klimawandel in den USA zum Teil noch deutlicher zu spüren ist als in Mitteleuropa. Aber es ist eben auch ein Verdienst von Gruppen wie Sunrise Movement. Mir war es in meinem Buch wichtig, solche Entwicklungen nachzuzeichnen. Es ging mir darum, klarzumachen, dass es oft revolutionäre Bewegungen sind, die Reformen überhaupt erst ermöglichen.
Haben Sie ein paar Beispiele von revolutionären Bewegungen, die Reformen erst ermöglicht haben?
Wenn man in die Geschichte schaut, findet sich kaum eine bedeutungsvolle Transformation ohne radikalen Vorlauf. Die Abschaffung der Sklaverei war in erster Linie ein Kampf der Betroffenen, der von der Mehrheit der weißen Bevölkerung lange Zeit nicht unterstützt wurde. Der Achtstundentag wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch Streiks und Proteste erzwungen, man denke an die Haymarket Riots in Chicago, die damit endeten, dass mehrere Anarchisten, die sich für humanere Arbeitsbedingungen eingesetzt hatten, zum Tode verurteilt wurden. Wir hätten heute vermutlich kein Frauenwahlrecht, wenn sich dafür nicht viele Frauen widerrechtlich eingesetzt hätten. Und so weiter. Bemerkenswert ist in dem Zusammenhang auch, dass sich Liberale und Konservative, die jegliche Militanz ablehnen, mit den Resultaten dieser Kämpfe oft schmücken.
Und wie ist es heute?
Wer weiß, vielleicht wird man irgendwann zurückschauen und kollektiv über das Konzept von Gefängnissen und Polizei den Kopf schütteln. Ich meine, wie vernünftig und nachhaltig sind bewaffnete Einheiten, die die Bevölkerung kontrollieren und, gerade in den USA, systematisch tyrannisieren? Sollte die Gesellschaft irgendwann einen anderen Umgang mit Gewalt und Konflikten finden als den jetzigen, der ja ungemein repressiv ist, wäre das vor allem abolitionistischen Aktivist:innen zu verdanken, die heute von der Politik als radikale Spinner abgetan werden. Aber auch schon jetzt zeigt sich, dass Reformen durch revolutionäre Bewegungen in Gang gebracht werden. Der Mindestlohn von 15 Dollar, in vielen Städten und Bundesstaaten heute etabliert, wurde nach Occupy von einer Gruppe namens „Fight for 15“ angeschoben. Das schien vor zehn Jahren undenkbar.
Sie erwähnten die Möglichkeit, die Demokratie in den USA direkter zu gestalten. Sicher wird dies auch von dem Umstand befeuert, dass die Demokratische Partei nur wenig Partizipation an der Basis zulässt. Das wichtigste Gremium, das Democratic National Committee, ermöglicht ja nicht mal eine Mitgliedschaft. Wer sich also beteiligen will, muss sich andere Wege suchen.
Genau. Menschen, die sich politisch einbringen wollen, treffen selten auf lokale Strukturen der Demokratischen Partei. Es ist deshalb auch keine Überraschung, dass sich die Linke in den USA größtenteils über außerparlamentarische Bewegungen und Kollektive vergrößert hat. Die Demokratische Partei lässt so etwas nicht zu, das ist also ein systematisches Problem. Diese Leerstelle hat auch dazu geführt, dass es Republikanern und rechten Gruppen in den vergangenen Jahren besser gelungen ist, ihre Basis in bestimmten Staaten zu vergrößern. Die haben Menschen auf lokaler Ebene direkt angesprochen und eingeladen mitzumachen. Und so wurde es Trump und anderen republikanischen Kandidaten einfacher gemacht erfolgreich zu sein.
Würden Sie sagen, dass die neue Linke in den USA auch eine Reaktion auf die extreme Rechte gewesen ist?
Manches, was sich links entwickelt hat, ist definitiv auch eine Reaktion auf das, was sich rechtsextrem entwickelt hat. Trump, glaube ich, hat vielen Leuten bewusst gemacht, dass eine bestimmte Politik der liberalen Mitte schnell verpufft, dass sie kaum Antworten findet und wenig löst. Letztendlich hat die liberale Mitte auch vieles von dem, was Trump möglich gemacht hat, überhaupt erst produziert. Und daraus haben viele Leute den Schluss gezogen, dass man einen anderen Ansatz an die Politik braucht. Viele sind dann eben bei Sanders oder anderen linken Organisationen gelandet. Insofern hat das schon miteinander zu tun.
Sehen Sie auch eine Spaltung und Polarisierung in den USA?
Diese zwei Begriffe „Spaltung“ und „Polarisierung“ treffen jeweils zu, aber man muss genau sagen, was man darunter versteht. Ich benutze den Begriff in meiner Einleitung und schreibe, dass sich das Land „polarisiert“, weil ich glaube, dass es wahr ist: Es hat sich eine Rechte radikalisiert und es hat sich eine Linke radikalisiert. Aber wenn man bei diesem Bild bleibt, dann unterschlägt man auch einiges. Zum Beispiel, dass es viele Menschen gibt, die Sanders in den Vorwahlen gewählt haben und in den General Elections dann Trump. In einer Person ist dann die Polarisierung nicht aufgehoben, aber es wird komplexer. Es verweist auf eine tieferliegende Problematik, nämlich auf die Spaltung zwischen arm und reich oder zwischen oben und unten. Man könnte auch von Klassengegensätzen sprechen, die eine viel fundamentalere Rolle spielen als der Gegensatz von Demokraten versus Republikaner. Viele linke Gruppierungen weisen völlig zurecht auf diese Polarisierung in den USA hin.
Trägt diese Radikalisierung nicht zur Spaltung des Parteiensystems bei?
Was die Spaltung des Parteiensystems angeht, denke ich, dass die Republikaner diese Spaltung wollen. Das heißt, dass sie im Sinne der Spaltung agitieren: Wir gegen euch. Aber man muss dazu sagen, dass einige linke Gruppen ebenfalls antagonistisch vorgehen. Manche agitieren nicht nur gegen die Republikaner, sondern auch gegen die Demokratische Partei und ihre Führung. Nun könnte man das auch als eine „Politik der Spaltung“ diskreditieren. Insofern ist die Frage: Ist das jetzt Politik der Spaltung oder macht es die bestehende Spaltung, die bereits existierenden Ungerechtigkeiten sichtbar? Viele linke Gruppen sind primär damit beschäftigt, Menschen wieder auf ihre Seite zu ziehen, die nach rechts abgewandert sind oder sich vom politischen System entfremdet haben und nicht mehr wählen gehen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Arbeit von der Initiative Debt Collective rund um Astra Taylor. Sie sagt: „Leute, in diesem Land sind so viele Personen verschuldet, natürlich sind auch Republikaner dabei. Und wenn wir dafür sorgen, dass diese Leute erkennen, dass die Verschuldung kein persönliches Versagen ist, sondern strukturelle Ursachen hat, und diese strukturellen Probleme wiederum mit anderen Systemen zusammenhängen, dann können wir die Leute vielleicht zurückgewinnen.“ In der politischen Arbeit wirken sie einer Spaltung also entgegen.
Auf der rechten Seite versuchen einige das System zu sprengen. Gibt es das auf der linken Seite nicht?
Viele Rechte, die demokratische Institutionen sprengen wollen, wollen sich der Demokratie entledigen. Sie untergraben bestimmte demokratische Mechanismen. Das kann man am Gerrymandering und andere Praktiken wie Voter Suppression sehen. Es gibt aber auch von Linken den Ansatz, bestimmte Institutionen zu „sprengen“. Aber eben im Sinne einer gerechteren und pluralistischen Gesellschaft. Zum Beispiel gibt es die Frage wie demokratisch der Senat ist, der 50 Abgeordneten, unproportional zur Bevölkerung, ungeheuer viel Macht verleiht? Wie demokratisch ist diese Institution? Einige Linke fordern die Abschaffung des Senats, da könnte man jetzt auch fragen: Ist das eine Zersetzung der Demokratie? Ich würde sagen, nein, im Gegenteil, da überwiegt ja die Überlegung, wie man Mechanismen und Institutionen herstellen kann, die demokratischer sind.
Woran liegt es, dass sich viele Menschen in den USA selbst organisieren. Sind es vielleicht die Verhältnisse, die in den USA noch viel extremer sind?
Ich würde mit der These mitgehen, die ich auch im Buch vertrete, nämlich dass sich viel linke Energie aus der Verelendung und dem Frust über die gesellschaftspolitischen Zustände entwickelt hat. Vielen Menschen bleibt schlichtweg nichts anderes übrig, als sich selbst zu organisieren, Nachbarschaftsnetzwerke und so weiter zu gründen. Und einige dieser Ideen und Ansätze aus den USA sind bereits nach Deutschland gewandert. Occupy hat zum Beispiel thematisiert, wie enorm Schulden den Alltag von Millionen von Amerikanern prägen und wie viele Leben durch Armutsdelikte ruiniert werden. So ist die eben schon angesprochene Gruppe Debt Collective entstanden. In Deutschland ist nun eine Initiative gestartet, der „Freiheitsfond“, die einen ähnlichen Fokus hat und sich für die Entkriminalisierung des fahrscheinlosen Fahrens einsetzt. Tausende landen jedes Jahr im Gefängnis, weil sie kein Geld für den ÖPNV haben. Diese Zusammenhänge, also zwischen Armut, staatlichen Repressionen und Schulden, werden auch in Deutschland zunehmend zum Thema. Hier sieht man, wie sich linke Bewegungen über die Landesgrenzen hinweg bereichern.
Im Vergleich zur amerikanischen Linken macht die deutsche Linke heute einen ziemlich desolaten Eindruck.
Die deutsche Linke mag als Ganzes in einer Krise stecken, aber es gibt ja durchaus Lichtblicke. Grundsätzlich kann man beobachten, wie das politische Organizing, sprich, eine Form der sehr direkten Basisarbeit, die in den USA in den vergangenen Jahren von enormer Bedeutung war, auch in Deutschland immer wichtiger wird. In Berlin hatte die Initiative „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“ so Erfolg. „Ende Gelände“ ist ebenfalls eine interessante Initiative, die konfrontativ gegen fossile Infrastrukturen vorgeht. Ich war vor ein paar Wochen in Atlanta, wo sich linke Aktivisten gegen den Bau eines neuen, gigantischen Polizeitrainingsgeländes und die damit verbundenen Waldrodungen einsetzen. Einer der Protestler sagte mir, dass sie von den Bewegungen in Deutschland im Dannenröder Forst und Hambacher Wald ermutigt sind. In der globalen Klimagerechtigkeitsbewegung wird genau geschaut, was in welchem Land funktioniert. Und natürlich gehört auch „Fridays for Future“ dazu. Wobei ich den Eindruck habe, dass da nun eine neue Phase kommen wird, die über die Katastrophenvergegenwärtigung hinausgeht. Wie könnte eine post-fossile, postkapitalistische Ökonomie denn aussehen? Da fehlt vielleicht noch die utopische Energie.
Vielleicht fehlt auch eine integrative Figur wie Bernie Sanders in Deutschland?
Bernie Sanders war in den USA gerade zwischen 2015 und 2020 enorm wichtig. Es gibt aber auch ein Risiko, wenn linke Bewegungen sich um eine einzelne Figur konzentrieren. Zum Beispiel die Gefahr, dass alles andere ein bisschen an Wichtigkeit verliert und sich massenhaft Enttäuschung ausbreitet, wenn die Kandidatur oder das Projekt scheitert. Nachdem Sanders im Frühjahr 2020 aus dem Kandidatenrennen ausgeschieden ist, gab es wirklich eine Art linke Depression. Das habe ich unter Freunden registriert, dass Leute Burnout hatten, politischen Burnout. Auch deshalb kann es also ein Problem sein, wenn alle Hoffnungen auf eine Person gerichtet sind. Zugleich haben die Sanders-Kampagnen wichtige und interessante Strukturen hinterlassen, die längst zum Tragen kommen, zum Beispiel für die Unterstützung anderer Kandidaten oder Projekte verwendet werden. Also ja, es hat Vor- und Nachteile, wenn es eine Figur gibt, unter der sich viel bündeln kann. Und Bewegungen zu bündeln, das ist natürlich immer eine große Herausforderung.
Wie glauben Sie, wird es für die Linke in den USA weitergehen? Und wie blicken Sie auf die anstehenden Midterms im November?
Bei den Midterms wäre es schon ein Erfolg, wenn es keine krachende Niederlage für die Demokraten gibt. Momentan gehen eigentlich alle davon aus, dass sie mindestens eine Kammer verlieren, also den Senat oder das Repräsentantenhaus. Um jedoch an das anzuschließen, was ich im Buch hervorhebe, glaube ich, dass einige interessante Entwicklungen auf lokaler Ebene fortgesetzt und dass bestimmte Ideen vorangedacht werden. Wenn sich in den einzelnen Städten und Bundesstaaten weiter progressiv organisiert wird, kann sich das auch bundesweit auswirken. Wie zum Beispiel geht man damit um, dass jemand wie Joe Manchin, ein Senator aus den eigenen Reihen, mit seiner Vetostimme diverse progressive Reformen verhindert? Die realistische Herangehensweise ist, sich in West Virginia, wo Manchin herkommt, zu organisieren und eine Graswurzelbewegung aufzubauen, sodass bei der nächsten Wahl ein progressiver Kandidat in den Senat einzieht. In West Virginia und an vielen anderen Orten der USA wird es in den kommenden Jahren darum gehen, das punktuell schon sehr erfolgreiche Organizing weiterzuverfolgen. Unter dem Strich muss man sagen, dass linke Bewegungen und Organisationen immer noch weit entfernt von wirklicher Macht sind. Ein Faktor ist Geld. Wenn man sich anschaut, warum bestimmte rechte und zum Teil rechtsradikale Kräfte so erfolgreich sind, liegt das auch daran, dass sie von Peter Thiel oder anderen reichen Investoren unterstützt werden. Sowas fehlt den Linken, vermutlich aus guten Gründen.
Vielen Dank für das Gespräch!