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Maurice Höfgen: „Der neue Wirtschaftskrieg schadet Russland mehr als Deutschland.“

Der neue Wirtschaftskrieg schadet Russland mehr als Deutschland, doch das liegt weniger an den Energiesanktionen. Welche Sanktionen Russland am meisten schaden und wie der neue Wirtschaftskrieg auf Deutschland wirkt, hat unser Herausgeber Otmar Tibes mit Maurice Höfgen besprochen.

Herr Höfgen, in Ihrem neuen Buch beschreiben Sie, wie die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und dem Westen sich nach dem barbarischen Angriff auf die Ukraine schlagartig gewandelt haben. Warum sprechen Sie von einem Wirtschaftskrieg, nicht von einem Handelskrieg?

Weil Handel nur einen Aspekt darstellt. Ein Wirtschaftskrieg vereint aber verschiedene Aspekte miteinander. Neben dem Handelsaspekt gibt es noch den Finanzaspekt. Dieser betrifft Sanktionen gegen die russische Zentralbank, russische Geschäftsbanken oder Finanzinvestoren. Zum Beispiel dürfen keine russischen Anleihen mehr in der EU gehandelt werden, auch dürfen europäische Investoren keine Dividende mehr aus russischen Finanzanlagen bekommen. Zudem wurden Konten russischer Oligarchen eingefroren. Da verbindet sich der Finanzaspekt mit dem Handelsaspekt. Es wurden nämlich nicht nur Konten eingefroren, sondern auch Verwertungsverbote für Yachten, Immobilien oder Luxusautos verhängt.

Und der Handelsaspekt betrifft eher Exportverbote?

Richtig. So dürfen zum Beispiel keine ‚Dual-Use-Güter‘ mehr nach Russland exportiert werden. Das sind Güter, die man sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke verwenden kann. Etwa Antennen oder Navigationsgeräte. Neben Exportverboten gibt es aber natürlich auch Importverbote. Lange haben wir debattiert, ob wir ein Gasembargo starten. Diese Debatte hat sich mittlerweile erübrigt, weil Russland uns da zuvorgekommen ist. Aktuell geht es aber um Öl. Bald darf kein Öl mehr in EU-Häfen aus Russland importiert werden.

Sie schreiben, dass sich Russland schon 2015 auf einen Wirtschaftskrieg vorbereitet hat. Damals begann die russische Zentralbank Währungsreserven in Euro anzuhäufen. Warum?

Die russische Zentralbank hat Währungsreserven angehäuft, um im Zweifel den Rubel am Finanzmarkt stützen zu können. Nach dem schrecklichen Angriff auf die Ukraine haben wir ja gesehen, dass Investoren aus dem Rubel geflüchtet sind. Gegen den Kursverlust des Rubels konnte die Zentralbank sich dann nur wehren, weil sie mit Währungsreserven Rubel gekauft hat. Sie hat zum Beispiel große Mengen an Euroreserven ausgegeben, um den Rubelkurs zu stützen. Sie hat aber auch Reserven in US-Dollar und chinesische Yuan angelegt. Für Putin ist der Rubelkurs total wichtig, weil er ein Symbol der Stärke und Widerstandsfähigkeit ist. In seiner Propaganda setzt er darauf, weil er sagen kann: „Schaut her! Die Sanktionen wirken, aber der Rubel ist weiterhin stark. Der Westen kann uns nicht so viel anhaben, wie er selber glaubt!“

Maurice Höfgen

Maurice ist Ökonom und Betriebswirt. Derzeit ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag tätig. Er ist Vertreter der Modern Monetary Theory und hat 2020 das Buch »Mythos Geldknappheit« veröffentlicht. 2022 ist sein Buch »Der neue Wirtschaftskrieg« erschienen, 2023 sein Buch »Teurer!«. Regelmäßig veröffentlicht er informative Videos zu ökonomischen Themen auf seinem YouTube-Kanal »Geld für die Welt«.

Dann hat die Europäische Zentralbank schlau reagiert und die Euro-Währungsreserven der russischen Zentralbank eingefroren. Wie hat das gewirkt?

Das war ein Manöver, mit dem kaum jemand gerechnet hat. Die ganze öffentliche Debatte hatte sich auf die Frage fokussiert, ob es einen SWIFT Ausschluss geben soll. SWIFT ist ein internationales Nachrichtensystem, über das die Banken zwar nicht die Zahlungen abwickeln, dafür aber die relevanten Zahlungsinformationen versenden. Deutschland hat den SWIFT-Ausschluss lange blockiert, weil er als finanzielle Atombombe bezeichnet wurde. Man wollte nicht, dass Putin im Gegenzug den Gashahn abdreht. In der ganzen Debatte ging aber unter, dass man auch die Währungsreserven der russischen Zentralbank einfrieren könnte. Tatsächlich war das international ein totales Novum, zumindest in dem Ausmaß. Man hat dann gesagt: „Liebe russische Zentralbank, euer Geld bei der EZB dürft ihr nicht mehr bewegen. Ihr könnt also keine Überweisungen mehr damit tätigen!“ Letztlich hat man der russischen Zentralbank damit die Möglichkeit genommen, die angehäuften Euros am Währungsmarkt einzusetzen, um den Rubel zu stützen. Vor der Sanktion hat die russische Zentralbank pro Tag umgerechnet 1 bis 1,5 Milliarden Euro ausgegeben, um den Rubelkurs zu stärken. Das ging dann plötzlich nicht mehr. 

Heute ist der Rubelkurs 30 Prozent höher als vor dem Krieg. Wie ist es der russischen Zentralbank gelungen den Absturz des Rubels zu verhindern?

Zunächst ist der Rubelkurs kräftig gefallen. Er verlor fast um die Hälfte an Wert. Dann gab es ein Krisentreffen in Russland: Putin hat sich mit seinem Finanzminister, dem Wirtschaftsminister und mit der russische Zentralbankchefin Elwira Nabiullina getroffen. Nabiullina hatte wohl um ihren Rücktritt bei Putin gebeten. Putin hat sie aber nicht gehen lassen, weil er scheinbar viel von ihr hält. Der unmittelbare Konter, den die russische Zentralbank dann gefahren hat, war, den Devisenhandel von der Zentralbank an die großen Exportunternehmen auszulagern. Zum Beispiel an Rosneft und Gazprom, die unter staatlichen Einfluss stehen. Putin hat die Spitzen dieser Konzerne ausnahmslos mit eigenen Vertrauten besetzt, sodass sie wie ein verlängerter Arm der russischen Regierung wirken. Die russischen Unternehmen wurden dann von der Zentralbank dazu verpflichtet innerhalb von drei Tagen 80 Prozent aller Deviseneinnahmen gegen Rubel einzutauschen. Das, was vorher die Zentralbank erledigt hatte, hat jetzt also Gazprom und Rosneft erledigt. Und weil die so viel Gas und Öl exportierten, hatten die mehr als genug Euro und US-Dollar, mit denen den Rubelkurs retten konnten. Sogar noch mehr: der Rubelkurs ist danach regelrecht nach oben geschossen, weil die Öl- und Gaspreise und damit die Exporteinnahmen explodiert sind. 

Dann kam die Ankündigung, dass Russland Gas nur noch gegen Rubel verkauft.

Richtig. Das hat für mächtig Verwirrung gesorgt und hat den Rubelkurs weiter steigen lassen. Weil Deutschland und Europa sich aber geweigert haben, Gas in Rubel zu bezahlen, musste ein Kompromiss her. Der sah im Ergebnis so aus, dass Uniper, der größte deutsche Gasimporteur, Euros an die Gazprom Bank überweist und die Bank diese dann an der Moskauer Börse gegen Rubel umtauscht. Früher war das ganze Geschäft abgeschlossen und der Vertrag erfüllt, wenn Gazprom Euros überwiesen bekam, danach erst, als sie die Rubel bekamen. Das hatte noch einen interessanten Nebeneffekt, der medial ziemlich untergegangen ist. Plötzlich war die Moskauer Börse genauso notwendig für das Energiegeschäft wie die Gazprom Bank. Das war vorher nicht der Fall. Nabiullina und Putin konnten die Moskauer Börse deshalb vor Sanktionen schützen. Plötzlich war sie ein elementarer Bestandteil des Energiegeschäfts. Das ist jetzt aber schon nicht mehr der Fall, da wir mittlerweile kein russisches Gas mehr kaufen. Durch die kaputtgebombte Pipeline kann auch kein Gas mehr fließen. 

Bis in den September hat Deutschland Gas aus Russland importiert. Kritische Stimmen haben lange behauptet, dass wir damit Putins Krieg finanzieren. Heute importieren wir kein Gas mehr aus Russland und trotzdem geht der Krieg weiter. Wie kann das sein?

Die ganzen Energiesanktionen wurden immer unter einer falschen Prämisse diskutiert: kaufen wir keine Energie mehr aus Russland, bekommt Putin kein Geld mehr und kann seinen Krieg nicht mehr finanzieren. Das ist leider falsch. Zunächst einmal wurden Russland bereits rund 300 Milliarden Euro entzogen, als die EZB die Währungsreserven der russischen Zentralbank eingefroren hat. Auch danach ging der Krieg unvermindert weiter. Das liegt daran, dass Putin seinen Krieg in der eigenen Währung finanziert. Alle seine Soldaten bezahlt er in Rubel. Ausgenommen sind nur ausländische Söldner, die bekommen – so die Gerüchte – auch Euro, Dollar oder manchmal Gold. Das eigene Militär wird aber in Rubel bezahlt. Die benötigten Rubel kann er mit seiner eigenen Zentralbank selbst erzeugen. Er muss niemandem erst Gas oder Öl verkaufen, um an genügend Rubel zu kommen. Darüber hinaus ist Russland auch nahezu autark, was die Kriegswirtschaft angeht. Sie sind großer Waffenproduzent, sie haben Munitionsfabriken, sie haben viel fertig produzierte Artillerie, sie haben Öl, sie haben andere Rohstoffe, sie haben Weizen und vieles mehr, was man eben benötigt, um Panzer rollen zu lassen und sich zu ernähren. Wenn wir also im März von jetzt auf gleich auf russische Energie verzichtet hätten, dann hätte das nicht viel geändert. Robert Habeck hat das bei Markus Lanz auch einmal erklärt. Seine Ausführungen dort waren wirklich sehr lehrreich. Auch für unser Geldsystem. Das funktoniert ja nicht anders als das russische.

Dass Russland über viele wichtige Rohstoffe verfügt und auch selbst Energie produzieren kann, macht das Land zu einem schwierigen Gegner in diesem Wirtschaftskrieg. Es ist ein weitgehend autarkes Land.

Die Autarkie bezieht sich aber nur auf dieses ganz rudimentäre Krieg führen. Man hat sich ja gewundert, dass dieser Krieg eigentlich relativ unmodern geführt wird. Es wird sehr viel altes Kriegsgerät eingesetzt, teilweise noch aus Sowjetzeiten. Eigentlich gar nicht das, was man unter moderner physischer Kriegsführung versteht. Wenn man eine wohlständige, prosperierende und moderne Wirtschaft vorstellt, dann ist Russland nicht autark. Zum Beispiel was die Technologie angeht, da muss Russland viel importieren. Bis fehlende Navigationsgeräte oder Antennen aber bewirken, dass Russland nicht mehr in der Lage ist, Krieg zu führen, dauert es eine Weile. Zwar bedeutet die Autarkie nicht, dass es der russischen Wirtschaft nichts ausmacht, wenn es Sanktionen gibt. Es bedeutet aber, dass das schreckliche Kriegsgeschehen nicht besonders davon beeinträchtigt wird. Leider!

Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass man Russland wirtschaftlich nicht weltweit isolieren kann.

Weil Russland hat, was die Welt braucht: Rohstoffe und Energie. Beides ist weltweit knapp, deshalb kann die Welt als ganze Russland nicht isolieren. Ein Land wie Deutschland oder die EU können das zwar für sich so entscheiden, doch wenn die EU Russland isoliert, dann müssen die EU-Länder woanders mehr Rohstoffe und Energie kaufen. Das mehr, was sie woanders kaufen, kaufen sie wem anders aber dann weg. Es gibt immer irgendeinen Dritten, der dann aus dem Markt heraus geboten wird, der aber auch nicht ohne Rohstoffe und Energie auskommt und beides am Ende aus Russland kaufen muss. Häufig dann aber zu höheren Preisen. Da freut sich dann die russische Exportwirtschaft, weil sie eben tatsächlich auch mehr verdient. Das haben wir gesehen: Rekordgewinne für Gazprom und Rosneft und auch Rekordgewinne für andere große Ölförderländer wie zum Beispiel Saudi-Arabien. Immer wenn ein Wettbieten um ein knappes Gut wie Öl und Gas stattfindet, steigen die Preise und damit auch die Gewinne. Im Übrigen auch für Firmen, die zum Beispiel Öltanker anbieten, die haben auch Milliarden mehr verdient. Bekommen wir jetzt zum Beispiel kein Gas mehr durch die Pipelines, dann kann man die Pipelines nicht einfach woanders hinschieben, dann muss mehr Gas verflüssigt mit Frachtern transportiert werden. Diese Frachter sind aber weltweit auch knapp. Wenn Europa diese riesigen Gasmengen jetzt woanders per Frachter herholt, dann entsteht auch ein Wettbieten nicht nur um Gas und Öl, sondern auch um die Frachter, die das eben transportieren. Deswegen muss man einfach einsehen, dass man einen Rohstoffriesen wie Russland nicht isolieren kann. Wenn ein Land das versucht, dann geht das auf Kosten anderer Länder.

Die Energiesanktionen schaden der russischen Wirtschaft also nur bedingt?

Sie schaden Russland jedenfalls nicht so sehr, wie häufig angenommen wird. Und offenbar auch nicht genug, um Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen. Öl und Gas können sie nämlich woanders hin verkaufen, sofern die Logistik umgestellt werden kann. Wenn es zum Beispiel zu wenig Frachter gibt und über Pipelines nicht mehr geliefert wird, dann kann es sein, dass kurzzeitig die Fördermenge zurückgeht. Aber die Logistik kann auf mehrere Jahre hin neuaufgebaut werden. Sie bauen dann halt neue Pipelines und beschaffen sich neue Frachter und liefern die Gas- und Ölmengen woanders hin. Selbst wenn sie dann in der Zwischenzeit weniger fördern, kann es sein, dass sie mehr verdienen, weil die Preise von Öl und Gas gestiegen sind. Der Preiseffekt schlägt dann den Mengeneffekt.

»Der neue Wirtschaftskrieg« ist am 17. November 2022 im Brumaire Verlag erschienen.

In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, dass Russland nichtsdestotrotz eine schwere Wirtschaftskrise durchlebt und sich ökonomisch sogar zurück entwickelt.

Wirklich schwerwiegend ist, was Russland an westlichem Kapital verliert. Mit Kapital ist jetzt weniger Geld gemeint, sondern Firmen, die abwandern: Ikea, Apple, Autofirmen, Chemiefirmen. Über 1.000 westliche Firmen sind abgezogen oder haben ihre Produktion, die sie dort hatten, gedrosselt und zurückgefahren. Manche haben ihre Lieferungen nach Russland auch komplett eingestellt. Einerseits, weil das einen schlechten Ruf gibt, andererseits, weil es auch mit viel Unsicherheit verbunden ist. Jetzt, wo viele westliche Unternehmen weg sind, fehlen auch wichtige Importe, weshalb Technologie knapp wird. Da gibt es das lustige Beispiel, dass eine alte Renault-Fabrik, die der russische Staat übernommen hat, jetzt Autos ohne Airbags produziert, weil die nötigen Teile dafür fehlen. Um wieder Autos mit Airbags zu produzieren, müssen sie ihre Importe woanders herholen. Das ist aber nicht so einfach, weil man Lieferketten nicht einfach so ersetzen kann. Das führt wiederum dazu, dass Fabriken stillstehen und die Produktivität auf Jahre zurückgeworfen wird. So schaden die realen Exportverbote und die Kapitalabwanderung Russland massiv. Gleichzeitig verschwendet Russland seine Talente. Nicht nur werden Menschen im Krieg verfeuert, sie werden auch zur Flucht gezwungen. Insbesondere jetzt nach der Teilmobilisierung. Wer flieht, sind nämlich vor allem die jungen und talentierten, die auch eine Perspektive haben. Nicht die Alten, die weit weg von Moskau auf dem Land leben. Diese kommen mit dem Machtsystem Putin ohnehin kaum in Berührung und sind oft bettelarm. Das ist fast Subsistenzwirtschaft, was da läuft.

Im Vergleich zum Vorjahr rechnet das russische Statistikamt für das dritte Quartal mit einem BIP-Einbruch um 4 Prozent. Wie dramatisch ist dieser Einbruch?

Man sieht in den aktuellen BIP-Zahlen noch nicht, wie groß der Schaden wirklich ist. Wenn Putin seine Panzer baut und seine Soldaten bezahlt, dann steigt aucht die Wirtschaftsleistung, das Bruttoinlandsprodukt. Kriegsausgaben bringen also Wachstum, aber sicher keinen Wohlstand. Schließlich werden Menschen und Material im Krieg verfeuert. Fabriken, die Munition oder Kriegsgeräte herstellen, könnten auch nützliche Industriegüter produzieren. Waffen taugen also nichts, außer im Krieg zu zerstören. Deshalb trügen die nackten Wirtschaftszahlen. Mit mehr Licht besehen würde ich sagen, dass es der russischen Wirtschaft noch viel schlechter geht als allgemein angenommen. Darauf verweist, spannenderweise, auch die russische Zentralbankchefin immer wieder auf Pressekonferenzen, wenn auch sehr diplomatisch und verklausuliert. Sie kippt immer wieder Wasser in den Wein. Putin hingegen natürlich eher nicht. Putin verweist lieber auf den starken Rubel und alles ist gut. Aber es ist bei weitem nicht alles gut. Der Wirtschaftskrieg schadet Russland mehr als Deutschland. Er wirft die russische Wirtschaft auf Jahre zurück. Ein schockartige Deindustrialisierung.

Der Wirtschaftskrieg bereitet auch Deutschland Probleme. Die Energiepreise steigen rasant, die Staatsausgaben nehmen massiv zu. Wäre es besser gewesen, der deutsche Staat hätte in den vergangenen Jahren mehr investiert anstatt gespart?

Es ist schon bemerkenswert, dass ein liberaler Finanzminister 200 Milliarden Doppelwumms, 100 Milliarden für die Bundeswehr und nächstes Jahr 45 Milliarden Schulden trotz Schuldenbremse macht. Darüber hinaus hat er noch 60 Milliarden im Klimatransformationsfonds. Das sind rund 400 Milliarden Euro. Hätte man Christian Lindner im Bundestagswahlkampf gefragt, ob er so viel Geld ausgeben wolle, hätte er vermutlich den Vogel gezeigt. Nun muss er das aber machen. Es rächt sich nämlich, dass man jahrelang versäumt hat Schulden zu machen. Heute müssen wir ganz viele Schulden machen, weil wir sie früher nicht gemacht haben. Hätten wir sie früher gemacht, indem wir zum Beispiel massiv in Wind- und Solarenergie investiert hätten, müssten wir jetzt weniger Gas verstromen. Man kennt das vielleicht aus dem eigenen Haus, wenn man da lange nicht mehr investiert hat und plötzlich der Schaden groß ist. Nachsorge ist teurer als Vorsorge, heißt es dann. Das ist ganz ähnlich wie bei der katastrophalen Regenflut im Ahrtal. Auch da hat man gemerkt, dass Regenbecken und größere Kanalisationen doch ganz sinnvoll sind. In der Pandemie waren es dann die Kliniken und die Gesundheitsämter. Es lässt sich alles also auf die Formel bringen: „Nachsorge ist teurer als Vorsorge.“ Politisch war aber lange Zeit gewollt, dass man spart. Und in der Wirtschaft gab es auch zu wenig Anreize, um die Produktion umzustellen und in erneuerbare Energien zu investieren. Vielmehr war russisches Gas ein günstiges Geschäftsmodel für die deutsche Exportwirtschaft. Aber günstig heißt eben nicht resilient oder krisenfest. Jetzt muss der Finanzminister enorme Summen zahlen, weil wir so abhängig von Energie sind. Er muss die Energiepreise kompensieren oder die soziale Not in Deutschland lindern. Auch müssen Firmen gestützt werden, die aufgrund der Preisschocks in Schwierigkeiten geraten aber sonst gut funktionierende Geschäftsmodelle haben. Bäcker, Friseure, Chemieunternehmen…

Die Inflation in Deutschland liegt aktuell bei 10 Prozent. Was ist die Ursache dafür?

Eine Erklärung ist immer noch die Pandemie und die gestörten Lieferketten, zum Beispiel weil Häfen in China geschlossen sind. Aber der größte Erklärungsfaktor ist der Krieg und die hohen Energiepreise. Einfach weil die deutsche Wirtschaft abhängig von Gas ist – nicht nur als Energieträger, sondern auch als Rohstoff. Das wurde auch in der Embargo-Debatte deutlich. Wir erfuhren plötzlich, wofür Gas überall eingesetzt wird. Ebenso wurde klar, welche Probleme damit verbunden sind, wenn Gas plötzlich teurer wird. So können Unternehmen zum Beispiel keinen Dünger mehr produzieren, wenn gewisse Chemikalien fehlen. Oder auch Medikamente. Wenn wir Gas aber an so vielen Stellen einsetzen, dann heißt das auch, dass ganz vieles teurer wird, sobald Gas teurer wird. Lebensmittel sind nur ein weiteres Beispiel. Sie müssen gekühlt, gekocht, erhitzt und transportiert werden. Das ist alles energieintensiv und deswegen führt teure Energie nachher auch zu teureren Preisen im Supermarkt. Unglücklicherweise kommt dann noch hinzu, dass Weizen durch den Krieg knapper wird und der Preis explodiert. Er hängt dann in den Schwarzmeerhäfen fest, weil die vermint sind. Und dann kommt auch noch Spekulationen obendrauf, der den Weizenpreis weiter in die Höhe treibt.

Einige Ökonomen beharren auf der These, dass die aktuelle Inflation durch eine zu hohe Geldmenge angetrieben wird.

Darauf würde ich immer die Gegenfrage stellen: Wenn zu viel Geld das Problem ist, warum wird ausgerechnet Energie so viel teurer und Dienstleistungen zum Beispiel nicht? Denn zu viel Geld kann immer nur eine Erklärung sein über zu viel Nachfrage, also eine überhitzte Wirtschaft. Wenn die Wirtschaft aber überhitzt ist, dann müssten eigentlich alle Preise steigen und wir würden ganz gut dastehen. Die Firmen müssten fette Gewinne machen, wir müssten mehr konsumieren und eben auch verdienen. Das sehen wir aber nicht. Wir sehen, dass die Konsumstimmung auf dem Tiefpunkt steht und auch Arbeitslosigkeit da ist. Das kann also nicht die Erklärungsvariable sein. Dann müssten ja auch überall die Preise durch die Decke gegangen sein. Nicht nur Energie und alles, wo viel Energie drin ist, sondern auch die Löhne. Die Löhne sind aber nicht gestiegen, anders als die Energiepreise.

Sie entkräften das Argument auch mit der technischen Unterscheidung zwischen Bestands- und Flussgröße. Geld, das nicht bewegt wird, hat keinen Effekt. Deshalb ist die reine Geldmenge auch irrelevant für die aktuelle Inflation?

Man muss sich nur einmal fragen: Was ist die Geldmenge eigentlich? Geldmenge ist all das Geld, das wir bei uns im Geldbeutel und auf unseren Konten haben. Wenn wir jetzt alle unsere Konten leeren und all unser Bargeld in Berlin vor dem Finanzministerium auf einen Haufen werfen, dann hätten wir einen großen Geldhaufen. Wenn Christian Lindner jetzt aus dem BMF dazu kommt und neugeschöpftes Geld in einer Schubkarre darauf kippt, dann steigt die Geldmenge, weil der Geldhaufen größer wird. Aber wenn das ganze Geld jetzt da liegt und wir beim Bäcker in die Auslage gucken, hat er dann schon seine Preise erhöht? Nein, der kriegt das erstmal gar nicht mit, dass die Geldmenge steigt. Der backt seine Brötchen weiter und macht sein Geschäft. Der kriegt erst was davon mit, wenn jemand zu diesem Haufen gegangen ist, Geld davon nimmt und es beim Bäcker ausgibt. Wenn immer mehr Menschen das machen, dann merkt der Bäcker bald: „Oh, ich komme mit dem Brötchenbacken gar nicht mehr hinterher. Jetzt sollte ich langsam mal die Preise erhöhen.“ Aber dann ist Nachfrage das Entscheidende! Und das Geldausgeben ist der Fluss. Geld fließt als Ausgabe vom Kunden zum Bäcker. Die schlichte Tatsache, dass es mehr oder weniger Geld auf Bankkonten gibt, ist da nicht entscheidend. Entscheidend ist, was damit gemacht wird. Es kann sein, dass mehr Geld dazu führt, dass auch mehr ausgegeben wird. Wenn Christian Lindner jetzt das Bürgergeld verdoppeln würde und mehr Brötchen verkauft würden, dann könnte das der Fall sein. Aber dann ist die Nachfrage das Entscheidende, nicht die Geldmenge. Der polnische Ökonom Michael Kaletzky hat einmal den schönen Satz geprägt: „I found out what economics is. It is the confusion of stocks with flows.“ Die Ökonomik ist das ständige Verwechseln von Fluss- und Bestandsgrößen. Eine sehr kluge und immer noch aktuelle Kritik.

Theoretisch könnte es aber auch sein, dass die Geldmenge gleichbleibt und wir bloß mehr Ersparnisse ausgeben.

Richtig. Das war zum Beispiel auch während der Corona-Pandemie der Fall. Während der Lockdowns hatten wir alle Geld gespart, weil wir nicht mehr spontan shoppen konnten oder in die Restaurants gehen durften. Erst als die Lockdowns gelockert wurden, konnten wir wieder in die Geschäfte gehen und uns im Restaurant treffen. Im Restaurant wurden aber die Kapazitäten abgebaut, weil lange nichts los war. In diesem Moment ist zu viel Nachfrage auf zu wenig Angebot getroffen, was einen Preisdruck erzeugt. Mit der reinen Geldmenge hat das aber nichts zu tun, weil in einem solchen Fall nicht die Geldmenge steigt, sondern das Angebot auf eine zu hohe Nachfrage trifft.

Austerität kann die Inflation also nicht bekämpfen?

Wenn wir wirklich eine nachfrageseitige Inflation hätten, d.h. zu viel Geld zirkulieren und auch der Konsum und die Wirtschaft brummen würde, dann könnte man sich da heraus sparen. Dann könnte der Staat sagen: „Ich trete jetzt auf die Bremse und halte mich wieder streng an die Schuldenbremse, bis die Preise sinken.“ Das Gegenteil ist aber der Fall. Wir haben eine Inflation, weil Energie ein knappes Gut geworden ist. Jetzt müssen wir alles dafür tun, um von dieser knappen Energie, d.h. vor allem fossile und braune Energie, unabhängiger zu werden. Und natürlich muss das Gas, das wir nicht mehr aus Russland bekommen, jetzt woanders herkommen. Wir müssen also in LNG-Terminals investieren und unsere Gebäude energetisch sanieren. Wir müssen Windräder aufstellen und Solarpanele auf Dächer installieren. All das müssen wir machen, um jetzt und nicht morgen unabhängiger zu werden. Dafür muss man aber Geld ausgeben. Wir können uns aus der Krise nicht heraus sparen, wir können uns nur heraus investieren, wenn man so will. Wir sind nur deshalb in der üblen Situation mit schwacher Wirtschaft und hoher Inflation, weil wir das jahrelang vernachlässigt haben. Der Investitionsstau in Deutschland fällt uns jetzt auf die Füße und er hindert uns auch im Wirtschaftskrieg. Man könnte den Wirtschaftskrieg sogar viel effizienter führen, wenn man sich im letzten Jahrzehnt nicht an die Schuldenbremse geklammert hätte, sondern investiert hätte.

Vielen Dank für das Gespräch!