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Panajotis Kondylis und die Genealogie der bürgerlichen Ideologien

In »Konservativismus« hat Panajotis Kondylis die These vertreten, dass das, was wir heute in politischen Zuordnungen wie links, konservativ oder rechts auszudrücken pflegen, allesamt Spielarten des Liberalismus sind. Wie Kondylis zu seiner These kam und was sie bedeutet, erklärt Daniel-Pascal Zorn.

Die Bezeichnung »Klassiker« für das Werk eines Gelehrten ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits drückt sich darin die allgemeine Anerkennung zeitloser Bedeutsamkeit aus. Andererseits ist diese Form der Anerkennung eines der sichersten Mittel, um das so ausgezeichnete Werk unwiderruflich der Vergangenheit zuzuschreiben. Die Relevanz eines Klassikers bemisst sich daran, dass er immer noch wichtige Einsichten bereithält, obwohl er einer vergangenen Epoche angehört. Für das Werk von Panajotis Kondylis gilt geradewegs das Gegenteil: Indem es unzweifelhaft einer vergangenen Epoche angehört, hält es Einsichten bereit, auf die seine Zukunft erst noch stoßen musste – und vielleicht auch erst noch stoßen muss. 1 Entsprechend ändert Kondylis das »immer noch« der selbstgewissen Einordnung in das »immer« der unabschließbaren Wiedervorlage eines Gedankens. Vgl. Kondylis im Interview mit Spyros Tsaknias: »(E)in Gedanke [ist] klassisch oder ein Zeitalter in der Geistesgeschichte [ist] klassisch, wenn sie mit unverwechselbarer Begrifflichkeit ständig wiederkehrende Fragen formulieren, nämlich Fragen, auf die jede tiefere Reflexion aus innerer Notwendigkeit stößt – kurz gesagt, die letzten Fragen.« Panajotis Kondylis, »Der Irrtum ist der natürliche Zustand«. Interview von Spyros Tsaknias, in: Etappe 22 (2013/14/15), S. 22-46, hier S. 36.

In diesem Gedanken drückt sich eine fundamentale Skepsis gegenüber einer Geschichte aus, die mit der Vergangenheit in dem Moment fertig ist, in dem diese für die Gegenwart Sinn ergibt. Dass diese Skepsis fundamental ist, liegt weniger an ihrem radikalen Anspruch als in der Tatsache, dass die Zurichtung der Vergangenheit im Dienst der Gegenwart stets die Oberhand behält. Sie ist darauf angelegt, die Gegenwart zu bestätigen. Jeder Versuch, diese Bestätigung zu unterlaufen, wird unzweifelhaft darin enden, dass er in der gleichen Weise historisiert und zugerichtet wird wie das, was er gegen diese Zurichtung in Schutz zu nehmen versuchte.

Panajotis Kondylis wusste, dass es auch ihm selbst nicht anders ergehen würde, und er hat recht behalten. Der Titel eines »Privatgelehrten« ist ähnlich zweideutig wie der Begriff des »Klassikers«. Er drückt diejenige Verbindung von Gelehrsamkeit und Einsamkeit aus, die typisch ist für Genies und hochbegabte Außenseiter, die in der Abgeschiedenheit ihres Arbeitsplatzes gegen den Strom denken. Er signalisiert aber auch, dass diese Abgeschiedenheit womöglich nicht ganz so selbstgewählt ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Ein Privatgelehrter ist eben kein Privatdozent, der sich im wissenschaftlichen Betrieb bewiesen hat. Vielleicht ist er ein Autodidakt, vielleicht ein verkrachter Akademiker – auf jeden Fall hat er sich den Kontrollmechanismen der organisierten Wissenschaft entzogen.

Daniel-Pascal Zorn

Daniel ist promovierter Philosoph, Historiker und Literaturwissenschaftler. Er lehrt und forscht in Wuppertal und ist Autor beim Klett-Cotta-Verlag. Dort erschienen sind »Logik für Demokraten«, »mit Rechten reden« und »Das Geheimnis der Gewalt«. Im März 2022 ist sein neues Buch »Die Krise des Absoluten« erschienen.

Im Folgenden werde ich es vermeiden, mich am »Klassiker« Kondylis oder dem »Privatgelehrten« Kondylis zu orientieren. Es gibt zu viele brillante Außenseiter in der Geschichte des Denkens, als dass man aus jedem von ihnen in hagiografischer Absicht ein uneinholbares Genie machen müsste – oder in anathematischer einen düsternd-schillernden, gefährlichen Vordenker oder Epigonen. Beides sind Formen der Einordnung, die auf die eigene Sicherheit im Urteil schielen. Stattdessen werde ich versuchen, in meiner Darstellung von Kondylis‘ Leben und Werk derjenigen Skepsis Raum zu geben, die er selber unermüdlich gelebt und die er in seinem Denken zum Ausdruck gebracht hat.

Kritische Neugier, nicht souveränes Verdikt oder kritiklose Verehrung ist die Haltung, aus der Kondylis dem heutigen Leser zugänglich gemacht werden soll. Das bedeutet auch, Konservitivismus nicht nur als singulären Beitrag zur Geistes- und Ideengeschichte zu verstehen, sondern auch als Aspekt eines Gesamtwerks, das von den Ereignissen mitbestimmt ist, die zum Leben von Panajotis Kondylis gehörten und die ihn prägten.

Leben

Panajotis Kondylis wird am 17. August 1943 in Olympia, Griechenland geboren. 2 Vgl. dazu und im Folgenden Gisela Horst, Panajotis Kondylis. Leben und Werk – eine Übersicht, Würzburg 2019, S. 25-94; Falk Horst, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Panajotis Kondylis. Aufklärer ohne Mission. Aufsätze und Essays, Berlin 2007, S. VII-XI. 1949 zieht er mit seiner Familie nach Nea Erythrea, eine Kleinstadt im Nordosten Athens. In der Schule gehört er zu den Klassenbesten. Eine schwere Erkrankung in seiner Jugend überbrückt er mit der Lektüre lateinischer und altgriechischer Texte. Er interessiert sich vor allem für Geschichte und Philosophie, noch vor dem Abitur setzt er sich intensiv mit Thukydides, Spinoza, Nietzsche und Marx auseinander und lernt Deutsch, um die letzten beiden auch im Original lesen zu können. Er ist intelligent und beliebt, kein einsamer Nerd, der sich nur in Büchern vergräbt, aber wie alle Hochbegabten in manchen Hinsichten auf sich allein gestellt.

In dem Jahr, in dem Kondylis mit seiner Familie nach Nea Erythrea kommt, endet die »Griechischer Bürgerkrieg« genannte Etappe in der unruhigen Geschichte Griechenlands, in der, seit der Revolution 1821 gegen das Osmanische Reich, Bürgerkriege, Republiken, Monarchien und Diktaturen einander ablösen. In diese Geschichte ist auch der Großonkel von Panajotis Kondylis, Georgios Kondylis (1879-1936), verstrickt. 3 Vgl. dazu und im Folgenden Oliver J. Schmitt, Der Balkan im 20. Jahr-hundert. Eine postimperiale Geschichte, Stuttgart 2019, S. 91-92, Gerasimos Augustinus, »Hellenism and the Modern Greeks«, in: Peter F. Sugar (Hg.), Eastern European Nationalism in the Twentieth Century, Boston 1995, S. 163-204, hier S. 182 f. Er bekämpft 1923 als republikanischer General die Royalisten von loannis Metaxas und setzt 1926 seinen Kollegen Theodoros Pangalos ab, der sich zum Diktator geputscht hat. Wenige Jahre später wechselt Georgios Kondylis ins Lager der Royalisten. 1935 schlägt er einen weiteren Putschversuch nieder, nur um selbst die Macht zu ergreifen, holt mithilfe eines manipulierten Referendums König Georg II, zurück und erliegt kurz darauf einem Herzinfarkt. Ein halbes Jahr später putscht sich Metaxas an die Macht. Die Auseinandersetzung zwischen Republikanern, Royalisten und Kommunisten setzt sich auch unter der deutschen Besatzung ab 1942 fort. Ihre Ausläufer verschärfen sich kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem Bürgerkrieg mit mehreren Zehntausenden Toten, der 1949 schließlich mit der Niederlage der Kommunisten endet.

Als Panajotis Kondylis sich 1963 an der Universität Athen für Klassische Philologie einschreibt, heißt der Hoffnungsträger Georgios Papandreou, der 1964 Premierminister wird. Kondylis engagiert sich in dieser Zeit in linken Studentenorganisationen und bewegt sich im Umkreis von Antonis Lavrantonis, einem Freund des nach Frankreich geflohenen Cornelius Castoriadis. Lavrantonis wird für die folgenden Jahre für Kondylis zu einem wichtigen Gesprächspartner, auch weil er kein typischer Linker ist, sondern ein Nihilist, der nicht daran glaubt, dass sich die Natur des Menschen ändern kann. 4 Vgl. Horst, Panajotis Kondylis, S. 48 ff. Wie zur Bestätigung dieser These putscht das Militär am 21. April 1967 und verhindert so den zu erwartenden Wahlsieg von Papandreou. Im gleichen Jahr wird Kondylis eingezogen und verbringt als linker Student seinen Militärdienst von zwei Jahren in einem Straflager der rechtsextremen Junta von Georgios Papadopoulos, wo er misshandelt und möglicherweise auch gefoltert wird. Für die Zwischenprüfungen wird er freigestellt und beendet sein Studium 1969, einige Monate nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst und kurz vor seinem 26. Geburtstag.

Mit dem Diplom in der Tasche will Kondylis promovieren, aber nicht in Griechenland, sondern in Deutschland, wo er sich bessere Bedingungen für seine wissenschaftliche Karriere erhofft. Im Wintersemester 1971/72 immatrikuliert er sich zunächst an der Universität Frankfurt für Philosophie und Politik, lehnt es aber ab, über die griechische Militärjunta zu schreiben, wie man ihm dort nahelegt. Stattdessen geht er ein Jahr später nach Heidelberg und besucht Veranstaltungen bei Hans-Georg Gadamer, Dieter Henrich, Michael Theunissen, Werner Conze und Hans-Joachim Arndt. Als Student unauffällig, arbeitet er in kurzer Zeit ein umfassendes Manuskript aus, das von Henrich und Theunissen als Promotionsprojekt angenommen wird. Es wird am Ende mehr als 1300 Seiten umfassen, ein Mammutwerk zur Entstehung der Dialektik im Deutschen Idealismus vor dem Hintergrund einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Philosophie der AufKlärung. Wegen des Umfangs der Arbeit, aber auch wegen Kondylis‘ Weigerung, sich im engeren Sinne philosophisch mit Begriffsarbeit zu beschäftigen, verweigern ihm die beiden Gutachter 1977 die Bestnote summa cum laude.

»Wenn ich die ideologischen Illusionen der ›Rechten‹ seziere, halten mich viele für ›links‹. Wenn ich die entsprechenden Selbstillusionen der Linken abhöre, bezeichnen mich viele als ›rechts‹. Meine eigene Position bleibt gewiss unverändert in beiden Fällen.«

Die nächsten Jahre sitzt Kondylis an der umfangreichen Umarbeitung seiner Dissertation, die ihm von den Gutachten für die Veröffentlichung auferlegt wird. Dank der Unterstützung von Hans-Joachim Arndt und Werner Conze erscheint der erste Teil der Dissertation 1979 als Entstehung der Dialektik, der zweite Teil zwei Jahre später unter dem Titel Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Doch der Bruch mit der Akademie ist vollzogen, auch wenn Kondylis zum wichtigen achtbändigen Handwörterbuch Geschichtliche Grundbegriffe von Conze und Reinhart Koselleck zwei Artikel beisteuert und letzterer dafür sorgen wird, dass Kondylis 1994/1995 ins Wissenschaftskolleg zu Berlin aufgenommen wird. Statt in einer Professur für Politische Theorie richtet sich Kondylis in einer Art außerakademischen Opposition ein und beginnt die schriftstellerisch produktivste Phase seines Lebens.

Er pendelt zwischen Athen und Heidelberg, verbringt den Sommer in Deutschland, wo er von morgens bis abends in der Heidelberger Bibliothek sitzt und arbeitet. Im Winter überträgt er seine Forschungen in handschriftliche Textfassungen. Er lebt bescheiden, in Heidelberg bei Freunden, in Athen in der Nähe seiner Mutter. Mit Mieteinnahmen, Aktiengewinnen, Lektoraten und kleineren Texthonoraren ermöglicht er sich eine Existenz, die es ihm erlaubt, zu schreiben und zu reisen. Er arbeitet parallel an verschiedenen Büchern, deren Veröffentlichung er teilweise hinauszögert, bis ihm der Zeitpunkt passend erscheint. Bis 1992 erscheinen sieben weitere, teils umfangreiche Monografien, eine Marx-Übersetzung, ein Aufsatzband und zwei Anthologien.

Ab 1992 äußert sich Kondylis zunehmend in Aufsätzen und Zeitungsartikeln und baut so die in den Monografien gelegten Grundlagen in kleineren zeitdiagnostischen Texten aus. Sein Ruf als unbequemer Denker festigt sich, auch wenn Kondylis sich konsequent jeder politischen Einordnung entzieht. Seine Arbeiten zu Marx und seine ideologiekritische Herangehensweise an theoretische Texte und an Weltanschauungen wie den »Konservativismus« scheinen ihn als Linken auszuweisen; zugleich lädt er Ernst Nolte ans Wissenschaftskolleg, schreibt gegenwartsskeptische Texte für die FAZ und veröffentlicht Texte in Sammelbänden von Autoren, die heute der »Neuen Rechten« zugerechnet werden. Im Interview mit Spyros Tsaknias aus dem April 1998 beantwortet er die Frage »Sind Sie links oder rechts?« mit einem Hinweis auf die polemische Logik solcher Zuschreibungen: »Wenn ich die ideologischen Illusionen der ›Rechten‹ seziere, halten mich viele für ›links‹. Wenn ich die entsprechenden Selbstillusionen der Linken abhöre, bezeichnen mich viele als ›rechts‹. Meine eigene Position bleibt gewiss unverändert in beiden Fällen.« 5 Kondylis, »Der Irrtum ist der natürliche Zustand«, S. 43

Wenige Monate nach diesem Interview schickt seine Lebensgefährtin Georgia Panajotis Kondylis wegen Herzproblemen ins Krankenhaus. Die Arzte empfehlen eine Operation, die planmäßig verläuft, und verschreiben ihm Blutverdünnungsmittel, um das Herz zu entlasten. Als klar wird, dass er an inneren Blutungen leidet, ist es zu spät. Kondylis kann sich noch in Ruhe von seiner Schwester und seiner Lebensgefährtin verabschieden. Er stirbt am 1. Juli 1998.

Werk

Das Gesamtwerk von Panajotis Kondylis weist einige Besonderheiten auf. Zunächst handelt es sich nicht einfach um eine Sammlung von Texten zu verschiedenen Themen. Die Monografien folgen einer Chronologie, die vom späten Mittelalter bis in die Gegenwart reicht, also die gesamte Neuzeit vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis ins 21. Jahrhundert umfasst. Kondylis versteht die Neuzeit als vielfältige und in sich verstrickte Loslösung der europäischen Kulturen von den theologisch-dogmatischen Vorgaben des Mittelalters, die ihrerseits im 20. Jahrhundert abgelöst wird von einem »planetaren« Entwurf einer neuen, von Massengesellschaften und allgegenwärtiger Ökonomisierung geprägten Kultur. Die Neuzeit ist eine Übergangsphase, die mit der Krise des Absoluten beginnt, der Loslösung von Gott, Thron und Altar, und mit der globalen Verallgemeinerung der europäischen Kultur – der Rückkehr des Absoluten in neuer Gestalt – endet. In diesem Sinne ist der Zusammenhang seiner Werke als »Theorie der europäischen Neuzeit« 6 Vgl. Panajotis Kondylis, »Nur Intellektuelle behaupten, daß Intellektuelle die Welt besser verstehen als andere«. Interview von Marin Terpstra, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994) 4, S. 683-694, hier S. 684. zu verstehen.

Kondylis schreibt also keine Geschichte der Neuzeit, sondern er interessiert sich für die Ablösung des neuzeitlichen Denkens von dogmatischen Vorgaben, in der es neue Möglichkeiten des Ausdrucks findet. Die Geschichte dieses Denkens entfaltet sich dabei für Kondylis stets aus einer komplexen polemischen Lage, in der die historisch sich oft erst später zeigenden Möglichkeiten bereits in nuce angelegt sind. 7 Das ist ein wiederkehrendes Motiv, vgl. Panajotis Kondylis, Die Entstehung der Dialektik, Stuttgart 1979, S. 12; ders., Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, S. 20; ders., Konservativismus, in diesem Band S. 99; ders., Die neuzeitliche Meta-physikkritik, Stuttgart 1990, S. 12. Sein Blickwinkel ist nicht der Überblick, sondern die Perspektive. Das bedeutet für seine Leser, dass sie genau registrieren müssen, von welcher Lage Kondylis ausgeht, um seine Darstellungen nicht in Konkurrenz zur Historiografie und Philosophiegeschichte wahrzunehmen. Kondylis geht es auch nicht darum, einen eigenen Gesamtentwurf neben bestehende Gesamtentwürfe zu stellen. Stattdessen muss man vor allem in seinen umfangreicheren Werken zur Metaphysikkritik, zur Aufklärung, zum Deutschen Idealismus und zur bürgerlichen Gesellschaft das Gravitationszentrum finden, auf das die Logik der Darstellung zuläuft und von dem sie ausstrahlt.

»Kondylis schreibt nicht nur keine Geschichte der Neuzeit, sondern er schreibt auch nicht einfach Ideengeschichte. Was Kondylis interessiert, ist Ideengeschichte als Wirkungsgeschichte

Der bewusste Perspektivismus von Kondylis ruht auf einer methodologischen Entscheidung, die ganz durch sein Erkenntnisinteresse gerechtfertigt ist. Er schreibt nicht nur keine Geschichte der Neuzeit, sondern er schreibt auch nicht einfach Ideengeschichte. Was Kondylis interessiert, ist Ideengeschichte als Wirkungsgeschichte. 8 Vgl. Kondylis, Die Aufklärung, S. 32. Er unterscheidet zwischen einem inneren Zusammenhang des Denkens, das sich aus eigenen oder fremden Problemstellungen heraus entfaltet, und seiner äußeren Anwendung in der Durchsetzung bestimmter Interessen. 9 Kondylis, »Der Irrtum ist der natürliche Zustand«, S. 38; ders., »Nur Intellektuelle behaupten, daß Intellektuelle die Welt besser verstehen als andere«, S. 684; ders., Der Philosoph und die Macht, Hamburg 1992, S. 10 f. Kondylis leugnet keineswegs, dass die Dimension des inneren Zusammenhangs des Denkens, die vor allem die Philosophiegeschichtsschreibung interessiert, zu ihm dazugehört. Er interessiert sich nur für die andere Seite des Denkens, für den polemischen Gebrauch der Begriffe im Streit der Gelehrten und bald auch der bürgerlichen Öffentlichkeit. Damit nimmt er wissenschaftliche Entwicklungen vorweg, etwa in der Aufklärungsforschung, die in seinem Ansatz dann auch einen Vorläufer der eigenen Fragestellungen entdeckt hat. 10 Monika Neugebauer-Wölk, Markus Meumann, »Aufklärung – Esoterik – Moderne. Konzeptionelle Überlegungen zur Einführung«, in: dies. (Hg.), Aufklärung und Esoterik. Wege in die Moderne, Berlin, Boston 2013, S. 1-33, hier S. 7-10, S. 10 Anm. 36; Kristine Hannak: Geist=reiche Critik. Hermetik, Mystik und das Werden der Aufklärung in spiritualistischer Literatur der Frühen Neuzeit, Berlin, Boston 2013, S. 3f., S. 4, Anm. 14; Hermann E. Stockinger: »Die ›Bedrohungs des Atheismus. Kampf gegen Windmühlen?« in: Hubertus Busche (Hg.), Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400-1700), Hamburg 2011, S. 994-1012, hier S. 995 Anm. 4; Paolo Panizzo, Die heroische Moral des Nihilismus: Schiller und Alfieri, Berlin, Boston 2019, S. 32, S. 40-42.

So wie sein historisches Interesse der Neuzeit gilt, gilt Kondylis‘ systematisches Interesse einem Konflikt, der sich aus der Auflösung theologischer Denkfiguren im Zuge der neuzeitlichen Säkularisierung ergibt: dem Konflikt zwischen dem Sein und dem Sollen. In der Theologie wird beides durch ein höchstes Prinzip garantiert. Kondylis sieht darin ein Erbe der Antike, die in ihrer Frage nach dem höchsten Prinzip des Erkennens auch immer nach dem höchsten Prinzip des Handelns fragt. In dem Moment, in dem die Voraussetzung »Gott« für die Neuzeit fragwürdig wird, spaltet sich dieses höchste Prinzip in seine beiden Bestandteile, das Sein und das Sollen. Diese Spaltung wird von weiteren begleitet: Mensch und Gott, Kausalität und Normativität, Natur als empirische Gegebenheit und Natur als moralische oder deterministische Gesetzmäßigkeit, der Mensch als neuer autonomer Gesetzgeber oder einer Natur unterworfen, die ihn bestimmt. Kondylis sieht die neuzeitliche Wirkungsgeschichte der Ideen als Entfaltung von polemischen Spaltungsmöglichkeiten, deren Verwirklichung die irreduzible Vielfalt des neuzeitlichen Denkens ist.

Aus dieser Perspektive stellt sich die bürgerliche Gesellschaft, die am Ende des 18. Jahrhunderts in ihren Revolutionen politisch wiederholt, was das neuzeitliche Denken metaphysisch seit dem 15. Jahrhundert geleistet hat, als beschleunigte Repetition der neuzeitlichen Motivik dar. 11 Vgl. Andreas Cser, »Die Machiavellistudie von 1971, in: Falk Horst (Hg.), Panajotis Kondylis. Aufklärer ohne Mission. Aufsätze und Essays, Berlin 2007, S. 15-42, hier S. 25. Kondylis sieht im polemischen Streit der bürgerlichen Gesellschaft einen Abstraktionsprozess am Werk, der die ideellen Zerfallsprodukte der Neuzeit weiter aufspaltet und ihrerseits ideologisch auflädt. Gegen die als repressiv empfundene bürgerliche Moral wird die bürgerliche Kunst in ihre Formsprache zerlegt und werden die dabei entstehenden einzelnen Aspekte ihrerseits zu ästhetischen Prinzipien gemacht. Der Nivellierungseffekt, der durch diesen Abstraktionsprozess erzeugt wird, trägt dazu bei, dass die vom klassischen Liberalismus geprägte bürgerliche Gesellschaft sukzessive in die moderne Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts übergeht. Zugleich werden Versatzstücke der Vergangenheit in der Gegenwart polemisch gewendet und so aus dem historischen Zusammenhang gerissen. Die Instrumentalisierung der Geschichte durch die bürgerliche Gesellschaft führt zu einer Enthistorisierung ihres Selbstverständnisses und diese wiederum zu Selbstmissverständnissen, gegen die sich Kondylis Darstellungen richten.

Kondylis hat seine Texte nicht nacheinander, sondern zum Teil parallel ausgearbeitet. 12 Vgl. Horst, Panajotis Kondylis, S. 74-81; Kondylis, »Der Irrtum ist der natürliche Zustand«, S. 22. So kann es sich lohnen, Machiavelli (1971) als Anfangspunkt einer in sich multiperspektivischen Darstellung zu nehmen, deren Endpunkt die zeitdiagnostische Schrift Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg (1992) bildet. Sie ist ihrerseits die Fortführung und Ausführung von Gedanken, die in der Theorie des Krieges (1988) und im Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft (1991) sowie in Konservativismus (1986) zugrunde gelegt sind.

Insbesondere in Konservativismus greift Kondylis teilweise weit zurück in die Neuzeit, auf die Spätscholastik der Schule von Salamanca im 16. Jahrhundert. Der katholisch-jesuitischen Reaktion steht die republikanische Tradition gegenüber, deren komplexe Auseinandersetzungen im Kontext des Verfassungspluralismus der italienischen Stadtstaaten Kondylis in seinem Machiavelli entfaltet. So in der Frühen Neuzeit angekommen, kann man sich dann wieder historisch vorwärtsbewegen, in einem großen oder zwei noch größeren Schritten: Das Buch Die neuzeitliche Metaphysikkritik (1990) verfolgt seinen Gegenstand vom 14. bis ins 20. Jahrhundert, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (1981) vom 12. Jahrhundert bis Kant und Die Entstehung der Dialektik (1979) die nachkantischen Entwicklungen des Deutschen Idealismus bis Hegel. Jedes dieser Werke hat eine einzigartige Perspektive. Zusammengenommen ergeben sie dennoch eine große Erzählung der Neuzeit anhand des polemischen Potenzials, das von ihren Ideen zur Verfügung gestellt wird.

»Auch wenn Kondylis in seinen Büchern zur Aufklärung und zur Metaphysikkritik wie ein typischer Philosophiehistoriker erscheint, bemerkt bereits sein Doktorvater Dieter Henrich, dass es Kondylis nicht eigentlich um Philosophiegeschichte geht.«

Die beiden Überblicksdarstellungen Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus und Die neuzeitliche Metaphysikkritik gehen jeweils von dem historischen Moment aus, in dem sich das rationale Denken von theologischen Vorgaben zu lösen beginnt, nehmen dabei aber unterschiedliche Perspektiven ein. 13 Vgl. Kondylis, Die Aufklärung, S. 43-44; ders., Die neuzeitliche Metaphysikkritik, S. 15. In Die Aufklärung orientiert sich Kondylis an der Loslösung des neuzeitlichen Rationalismus von der mittelalterlichen Ontologie, die dieser mithilfe einer »Rehabilitation der Sinnlichkeit« vollzieht. Sie ist »der Schlüssel zum Verständnis nicht nur seines Wesens, sondern auch seiner widersprüchlichen Entwicklung«. 14 Kondylis, Die Aufklärung, S. 49.

In seiner Polemik gegen die Theologie muss der Rationalismus die Sinnlichkeit gegen den weltverneinenden Selbstbezug des Menschen in der Askese und gegen die Abwertung der Natur als Gegenstand der Erkenntnis gleichermaßen rehabilitieren. Das führt in den Widerspruch, dass der Mensch als Beobachter der Natur ihr übergeordnet, als Natur selbst aber ihren Gesetzen untergeordnet erscheint. Gemeinsam mit den aus dem Mittelalter übernommenen Fragen nach dem Sein und dem Sollen, die in der theologischen Perspektive in Gott vereint waren, entfaltet sich aus diesem Widerspruch des Rationalismus nach Kondylis die Vielfalt der aufklärerischen Positionen: rationalistische und empiristische Erkenntnistheorie, hedonistische und vernünftige Moral, idealistische Prinzipiensuche und deterministischer Nihilismus. In Die neuzeitliche Metaphysikkritik untersucht Kondylis die Vorgeschichte dieser Entfaltung des aufklärerischen Denkens, das nun als Radikalisierung der neuzeitlichen Metaphysikkritik erscheint. 15 Vgl. Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik, S. 19-20.

Konservativismus im Kontext des Gesamtwerks

Auch wenn Panajotis Kondylis in seinen Büchern zur Aufklärung und zur Metaphysikkritik wie ein typischer Philosophiehistoriker erscheint, bemerkt bereits sein Doktorvater Dieter Henrich, dass es Kondylis nicht eigentlich um Philosophiegeschichte geht. 16 Vgl. Horst, Panajotis Kondylis, S. 63. Als erster Teil seiner Dissertation ist Die Aufklärung eine Darstellung der Entwicklung des Denkens bis zum Höhepunkt des Deutschen Idealismus, den Kondylis in der Entstehung der Dialektik behandelt. Die Dissertation aber, so Kondylis in einem Interview, »entstand […] aus der intensiven Erforschung der geistigen Wurzeln und Voraussetzungen des Marxismus, wobei der Hegelianismus als eine der Kindsmütter des Marxismus zur Erforschung seiner Vorgeschichte führte«. 17 Kondylis, »Der Irrtum ist der natürliche Zustand«, S. 22. Damit sind die beiden Überblickswerke Die Aufklärung und Die neuzeitliche Metaphysikkritik als umfangreiche Vorarbeiten zu Kondylis‘ eigentlichem Projekt zu verstehen, dessen Erkenntnisinteresse das Rückgrat seines Gesamtwerks bildet: das Projekt einer nichtvulgären Ideologiekritik.

Die vulgäre Ideologiekritik entsteht aus dem Bedürfnis von Anhängern einer bestimmten Weltanschauung, sich durch Gegnerbestimmung von anderen Weltanschauungen abzugrenzen. Wenn der vulgäre Ideologiekritiker jede Äußerung des Gegners als Bestätigung seiner polemischen Zuschreibung nimmt, bewegt er sich in einem zirkulären Schema, in dem er stets recht behält. Als Vertreter einer Weltanschauung ist er aber natürlich ebenfalls Gegenstand der Ideologiekritik seiner jeweiligen Gegner. Kondylis entkommt diesem so zirkulären wie regressiven Spiel der ständigen wechselseitigen ideologischen Selbst- und Fremdbestimmung, indem er sich nicht einer bestimmten Weltanschauung zuordnet, sondern das polemische Spiel von Marxismus, Konservativismus und Liberalismus selbst zum Gegenstand seines Erkenntnisinteresses macht.

Ist der in der Entstehung der Dialektik untersuchte Idealismus als eine Vorgeschichte des Marxismus zu verstehen, so sind umgekehrt die Aufklärungsbegriffe des Marxismus und des Liberalismus Ausgangspunkte für die Frage danach, durch welche Konstellation diese ideologische Aneignung der Aufklärung ermöglicht wird: »Der Mythologie des Liberalismus entstammt […] die Identifizierung der Aufklärung überhaupt mit deren moralisch-normativistischer Version«, während in der »marxistische[n] […] Interpretation« die Aufklärung zur »weltanschaulichen Fahne des emporstrebenden Bürgertums« wird, »die vom siegreichen und konservativen Bürgertum heruntergeholt wird. Der Marxismus soll jetzt das Erbe der Aufklärung antreten und jene Ideale inhaltlich verwirklichen, die das Bürgertum nur formal […] verkünden konnte.« 18 Kondylis, Die Aufklärung, S. 25-27. Indem Kondylis die polemische Grundstruktur des neuzeitlichen Rationalismus als Ausgangslage der Aufklärung rekonstruiert, erhält er zugleich die Kontrastfolie, vor deren Hintergrund die ideologische Aneignung der Aufklärung in scharfen Umrissen erscheint.

»Kondylis‘ provokative These in Konservativismus lautet also, dass das, was wir heute in politischen Zuordnungen wie links, konservativ oder rechts auszudrücken pflegen, Spielarten ein und desselben Liberalismus sind.«

Beziehen sich Marxismus und Liberalismus, so Kondylis, in ihren jeweiligen Aneignungen zunächst positiv auf die Aufklärung, lässt sich seit den 1830er-Jahren 19 Vgl. Kondylis, Konservativismus, in diesem Band S. 473-532. eine zunehmende Spaltung innerhalb des Liberalismus feststellen. Sie ist auch auf die Erfolge des sozialliberalen Flügels des Liberalismus zurückzuführen, dessen »Uminterpretation liberaler Grundkonzepte« 20 Ebd., in diesem Band S. 37. die Vertreter des Altliberalismus in die Rolle von konservativen Reaktionären bringt: »Konservative‹ [nennen sich] […] jene Liberalen, die das sich unter den Bedingungen der industriellen Massengesellschaft […] vollziehende Abgleiten (eines Flügels) des Liberalismus in Positionen der sozialen Demokratie ablehnen.« 21 Ebd.

Kondylis‘ provokative These in Konservativismus lautet also, dass das, was wir heute in politischen Zuordnungen wie links, konservativ oder rechts auszudrücken pflegen, Spielarten ein und desselben Liberalismus sind, der sich in einer entscheidenden Hinsicht von eben jenem Konservativismus unterscheidet, auf den sich bestimmte Liberale affirmativ im Spiel der weltanschaulichen Selbst- und Fremdbestimmung beziehen. So bewusst ewiggestrig, oder sogar antibürgerlich sich diese liberalen Spielarten auch zeigen mögen, sie teilen doch Grundpostulate des Liberalismus, die sie weiterhin verteidigen: die Trennung von Staat und Gesellschaft, das Privateigentum, den Wirtschaftsliberalismus.

Kondylis‘ genealogischer Perspektivismus

Hier wiederholt sich das methodische Prinzip, das Kondylis auch in anderen Texten anwendet: Was aus der Innensicht als unvermittelbare Vielfalt radikal unterschiedlicher Positionen erscheint, ergibt sich tatsächlich aus einer grundlegenden Matrix, deren innere Spannungen unterschiedliche Versionen zur Entfaltung bringen, die sich dann bald polemisch gegenüberstehen. In diesem Aspekt ähnelt Kondylis‘ Denken demjenigen von Reinhart Koselleck, der in Kritik und Krise (1959) den ideologischen Streit der bürgerlichen Gesellschaft auf die Mittel zurückführt, die von ebendieser Gesellschaft auf den absolutistischen Herrscher angewendet wurden: alles zernagende Kritik, eigene moralische Überlegenheit und nach dem Muster christlicher Eschatologie gebildete Geschichtsphilosophien, in denen der Sieg der eigenen Weltanschauung schicksalshaft vorgebildet erscheint. Bei Koselleck lässt sich darin unschwer die Struktur der Utopie erkennen, die jede moderne Ideologie bestimmt: der unendliche Regress der Gegnerbestimmung, der Zirkel der eigenen moralischen Überlegenheit, der Ausblick auf eine glänzende Zukunft im Falle der Durchsetzung der eigenen Überzeugung.

Bei Kondylis wird dieser Übergang vom vorrevolutionären zum liberalen Bürgertum weniger schematisch und in kleineren Schritten nachvollzogen. Dafür stellt er die Krise, die Koselleck in der »Sattelzeit« um 1800 herum verortet, auf Dauer. Während Koselleck die Polemik des progressiven Bürgertums untersucht, die schließlich zur französischen Revolution führt, ohne dass dieser tatsächliche Ausgang vorhergesehen oder auch nur intendiert wird, interessiert sich Kondylis mehr für die Kritik der Gegner der absoluten Herrschaft, die bereits diese als Verrat an der natürlichen Ordnung der mittelalterlichen Ständegesellschaft verstehen. Sie wird von Altliberalen ihrerseits zu einer polemischen Ressource im ideologischen Streit der Liberalismen gemacht, aber als rückwärtsgewandtes Feigenblatt, das heißt ohne hinter die Grundpostulate des Liberalismus zurückzugehen, die diesen von der vorliberalen Ordnung Europas trennen.

Der Begriff, der in Konservativismus für diese Ordnung steht, ist die societas civilis, nach Kondylis die Gesellschaftsauffassung des europäischen Adels im Sinne eines auf Ewigkeit gestellten ständischen Rechts. Die societas civilis wird von den Kritikern des Absolutismus in Anspruch genommen, um dessen friedenssichernden Eingriff in die – aus Sicht des Adels – göttlich gegebene Ordnung zu denunzieren. Kondylis bleibt seinem genealogischen Perspektivismus treu, wenn er als Ausgangspunkt jene Version der societas civilis wählt, auf die sich die adeligen Kritiker des Absolutismus stützen: den scholastischen Begriff der dominikanischen und jesuitischen Schule von Salamanca, 22 Kondylis bezieht sich auf eine Studie von Venancio D. Carro zu dem Dominikaner Domingo de Soto (1494-1560) und auf Francisco Suárez (1548-1617), beide an der Schule von Salamanca. Vgl. Kondylis, Konservativismus, in diesem Band S. 667 Anm. 2, S. 85 f., S. 668 Anm. 6. die im 16. Jahrhundert eine Gegenbewegung zu humanistischer »Renaissance« und Reformation initiiert. Den in Europa durch die Schriften von Leonardo Bruni (1369-1444) wesentlich breiter rezipierten, republikanisch geprägten Begriff der societas civilis, der sich bei Autoren wie Spinoza, Locke oder Rousseau wiederfindet, lässt Kondylis dagegen außer Acht. 23 Vgl. Peter Hallberg, Björn Wittrock, »From koinonia politikè to societas civilis. Birth, Disappearance and First Renaissance of the Concept«, in: Peter Wagner (Hg.), The Languages of Civil Society, New York, Oxford 2006, S. 28-51, hier S. 41-44. Kondylis folgt in seiner Darstellung Otto Brunners Land und Herrschaft (1942), Helmut Quaritschs Staat und Souveränität (1970); im Hintergrund stehen Manfred Riedel Der Begriff der ›Bürgerlichen Gesellschaft‹ (1970) und Werner Conze Staat und Gesellschaft in der frührevolutionären Epoche Deutschlands (1958), vgl. dazu Hans-Christof Kraus, »Panajotis Kondylis und sein ›Konservativismus‹-Werk«, in: Falk Horst (Hg.), Panajotis Kondylis und die Metamorphosen der Gesellschaft. Ohne Macht lässt sich nichts machen. Aufsätze und Essays, Berlin 2019, S. 25-45, hier S. 29-30. Indem Kondylis also die Argumente und Rechtsauffassungen der Autoren des 16. Jahrhunderts referiert, greift er einen bereits polemisch geprägten Begriff der societas civilis auf, der seinerseits auf eine humanistische Reinterpretation desselben Begriffs reagiert. 24 Diese Reinterpretation der aristotelischen politischen Philosophie durch Bruni im Licht des italienischen Republikanismus ist damit ebenfalls Ausdruck einer polemischen Korrektur, nämlich der scholastischen Übersetzungen von koinonia politikèbzw. polis in den von Thomas von Aquin beauftragten Aristoteles-Übersetzungen von Wilhelm von Moerbeke. Noch Thomas‘ Auftrag einer Neuübersetzung hat einen polemischen Sinn: »Most fundamentally, the proper restoration and reassessment of classical philosophy required a new translation that bypassed not only the Arabic by going directly to the Greek editions, but also that surpassed translations made by indi-viduals trained in the ill-reputed schools of Southern Italy,« Vgl. Hall-berg, Wittrock, »From koinonia politike to societas civilis, S. 34, 37-39.

Der Knick in der Optik. Das Projekt der Genealogie

Wie Friedrich Nietzsche, Michel Foucault oder Reinhart Koselleck gehört auch Panajotis Kondylis zu den genealogischen Denkern. Das genealogische Denken steht, auch und gerade in seiner akribischen und oft überbordenden Inanspruchnahme historischer Quellen, der linearen Geschichtsschreibung kritisch gegenüber. Es unterstellt der historischen Darstellung eine allzu starke Orientierung an gegenwärtigen Normen, eine Zurichtung der Geschichte im Dienst gegenwärtiger Interessen, die nicht notwendigerweise wissenschaftliche Interessen sind. Insofern gehört die Genealogie zur Gattung der kritischen Theorie.

Anders als historische Darstellungen, die eine möglichst vollständige Darstellung der wesentlichen Aspekte historischer Ereignisse und Entwicklungen anstreben, gehen genealogische Darstellungen als kritische Projekte stets von einem konkreten Problem aus: Nietzsche untersucht die Entstehung der bürgerlichen Moralbegriffe, Foucault die Entstehung der beschreibenden Begriffe der modernen Psychiatrie, Koselleck die Entwicklung der Begriffe im Verhältnis zu der Entwicklung der Realitäten, die diese Begriffe bezeichnen sollen. Auch wenn mithilfe lexikalischer Projekte wie den Geschichtlichen Grundbegriffen von Koselleck, Conze und Otto Brunner oder dem Historischen Wörterbuch der Philosophie von Joachim Ritter der Versuch gemacht werden kann, die genealogische Sichtweise möglichst breit aufzustellen und auf wesentliche Aspekte der Geschichte zu beziehen, bleibt die Genealogie, als kritisches Projekt, stets perspektivisch an ihren Gegenstand gebunden.

»Der Genealogie fehlende Vollständigkeit oder Einseitigkeit vorzuwerfen, verkennt ihre kritische Zielsetzung und fordert von ihr, das sein zu müssen, was sie gerade kritisieren will.«

Es wäre entsprechend falsch, eine genealogische Darstellung am Vollständigkeitsanspruch einer historischen Darstellung zu messen. Genealogen beziehen sich wie Historiker auf die Positivität historischer Quellen und zielen zugleich auf eine Kritik impliziter geschichtsphilosophischer Postulate ab, die aus ihrer Sicht die Geschichtsschreibung der Historiker anleiten. Wird diese implizit normative Geschichtsschreibung von den Genealogen als Dogma verstanden, scheinen Genealogen umgekehrt einem Relativismus das Wort zu reden, in dem mindestens die Sicht auf die Geschichte, wenn nicht auch noch die historischen Positionen selber immer schon durch Geschichtsphilosophie (Koselleck) oder Machtinteressen (Foucault und Kondylis) bestimmt sind.

Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese Kritik freilich selbst als polemisch. Der Genealogie fehlende Vollständigkeit oder Einseitigkeit vorzuwerfen, verkennt ihre kritische Zielsetzung und fordert von ihr, das sein zu müssen, was sie gerade kritisieren will. Sie des Relativismus zu bezichtigen, kehrt wiederum den von der Genealogie kritisierten dogmatischen Anspruch auf sie um und unterstellt ihrem Aufweis dessen, was auch noch eine Rolle spielt, ein Aufweis dessen sein zu wollen, was anstelle der kritisierten historischen Darstellung eine Rolle spielt. Versteht man das genealogische Unternehmen jedoch als von der Geschichtsschreibung jederzeit abhängige kritische Reflexion ihrer operativen Begriffe, verschwindet auch die polemische Kritik des dialektischen Dilemmas von Dogmatismus und Relativismus.

Es ist von daher nicht überraschend, dass sich Kondylis in Konservativismus nicht nur von den Standardwerken der Konservatismusforschung distanziert. 25 Das betrifft vor allem Karl Mannheim, Fritz Valjavec und Martin Greiffenhagen, vgl. Kondylis, Konservativismus, in diesem Band S. 653 Anm. 1. Er kommt auch zu einem Ergebnis, das die Grundprämisse dieser Forschung infrage stellt: dass der Konservativismus als eigenständige ideologische Bewegung angesehen werden muss, die sich bis heute durchhält. Hier findet sich der Ansatzpunkt für Kondylis‘ genealogische Perspektive, die in einer »doppelten These« ihren Ausdruck findet:

erstens, dass er [der Konservativismus, D.P.Z.] keine historische oder gar anthropologische Konstante, sondern eine konkrete geschichtliche, also an eine bestimmte Epoche und an einen bestimmten Ort gebundene Erscheinung ist, die mit dieser Epoche oder selbst noch vor deren Ende dahinschwindet, und zweitens, dass er nicht erst von der Feindschaft gegen die Französische Revolution her, sondern am besten in seiner Auseinandersetzung mit bestimmten spezifischen, aus konservativer Sicht freilich revolutionären Zügen der Neuzeit überhaupt verstanden werden kann.

Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Berlin, Matthes & Seitz, 2023, S. 13

Dass eine ideologische oder philosophische (Selbst-)Bezeichnung die »konkrete geschichtliche […] Erscheinung« einer Epoche sein kann, »die mit dieser Epoche […] dahinschwindet«, ist eine genealogische These. Sie bringt zum Ausdruck, dass Begriffe eine historische Erfahrung beschreiben können, die mit der Zeit, in der diese Erfahrung Sinn ergibt, zugrunde geht. Übrig bleiben die Begriffe, die nun aus einer neuen historischen Erfahrung heraus einen eigenen Sinn gewinnen, ihre Legitimation aber aus einer Vorstellung erhalten, die jene zugrunde gegangene Zeit und deren Begriff betrifft. So erklärt sich, dass im Zuge sozialliberaler Reformen Altliberale sich selbst als »Konservative« verorten, das heißt sich mit dem Anspruch jener Ideologie des Adels versehen, die in vorrevolutionärer Zeit gegen die staatliche Modernisierung des Absolutismus aufbegehrte. Zugleich verdeckt dieser Anspruch einer natürlichen (Rechts-)Ordnung, dass dieselben Altliberalen weiterhin die liberalen Grundpostulate ihrer eigenen Weltanschauung verteidigen, die gerade in radikaler Absetzung zu jener adeligen ewigen Ordnung entstanden sind.

Kondylis setzt damit – und dies sehr bewusst 27 Vgl. Kondylis, Macht und Entscheidung, Stuttgart 1981, S. 9 f.: »Wertfreie Erkenntnis [wie Kondylis sie für sich reklamiert, D.P.Z.] kann sich nicht die Zerstörung von Illusionen zum Ziel setzen, denn gerade durch die Feststellung von Unzerstörbarkeit […] von Illusionen ist sie wertfrei geworden. Sie muss deshalb ein parasitäres Denken führen und sich eigentlich ausschließlich an diejenigen richten, die praktisch überflüssige, ja hemmende Einsichten zu schätzen wissen. […] Da ihr breite Zustimmung für immer versagt bleiben muss, so trägt ihr öffentliches Auftreten bloß zur Mobilisierung ihrer Gegner und zur weiteren argumentativen Verfeinerung der normativistischen Positionen bei. Das ist weder gut noch schlecht, nur unvermeidlich.« – seine eigene Darstellung in Konservativismus in einen Gegensatz zur linken, liberalen, konservativen und rechts 28 Vgl. Kondylis, Konservativismus, in diesem Band S. 627: »Das Wesensmerkmal der Rechten besteht […] in ihrer programmatischen Bereitschaft, den politischen Liberalismus zu beseitigen, um das Privateigentum und den Wirtschaftsliberalismus gegen linke Angriffe intakt zu erhalten. In diesem Sinne gehört die Rechte zum Liberalismus, sosehr sich auch manche ›aufgeklärter Teile des Bürgertums ob dieser Verwandtschaft schämen mögen.« getönten Ideengeschichte. In ihrer »Ablehnung des konservativen Hierarchiegedankens« und ihrer »Bejahung des Gleichheitsgrundsatzes« lassen, so Kondylis, die Linken »gewisse Elemente des liberalen Individualismus innerhalb des sozialistischen humanistischen Ideals weiterleben«, 29 Ebd., in diesem Band S. 620. sodass nur die extremsten anarchistischen oder kollektivistischen Formen überhaupt als tatsächlich antiliberale Formen linken Denkens gelten können. Das erklärt die Breitenwirkung des Sozialliberalismus ebenso wie die doppelte polemische Tendenz, der die Linken im 20. und 21. Jahrhundert unterworfen sind: innerhalb des linken Lagers wird fehlende Radikalität oder aber fehlende Anpassung an die Realität beklagt, während die Gegner der Linken dazu neigen, sie mit historisch vergangenen Extremformen zu identifizieren.

»Die Argumentation, dass Linke, Konservative und Rechte nur Deviationsformen des Liberalen sind, ist in mehrfacher Hinsicht eine Provokation. Sie stellt die These in den Raum, dass ideologische Überzeugungen in der Gegenwart einer notwendigen Illusion aufgesessen sind.«

Die liberale Ideengeschichtsschreibung benötigt für das eigene Profil eine ständige Abgrenzung von linken, konservativen und rechten Positionen. Die Konservativen sind in Kondylis‘ Darstellung nur Altliberale, denen die sozialliberalen Reformen des 19. Jahrhunderts zu weit gehen. Und die Rechten? Ihr »Wesensmerkmal«, so Kondylis, »besteht […] in ihrer programmatischen Bereitschaft, den politischen Liberalismus zu beseitigen, um das Privateigentum und den Wirtschaftsliberalismus gegen linke Angriffe intakt zu erhalten. In diesem Sinne gehört die Rechte zum Liberalismus, sosehr sich auch manche ›aufgeklärte‹ Teile des Bürgertums ob dieser Verwandtschaft schämen mögen.« 30 Ebd., in diesem Band S. 627.

Die Argumentation, dass Linke, Konservative und Rechte nur Deviationsformen des Liberalen sind, dass also im Streit der Ideologien in der modernen Massengesellschaft, verkürzt gesagt, vor allem Liberale miteinander streiten, ist in mehrfacher Hinsicht eine Provokation. Sie stellt nämlich die These in den Raum, dass ideologische Überzeugungen in der Gegenwart einer notwendigen Illusion 31 Kondylis, Macht und Entscheidung, S. 9 f. aufgesessen sind, die sich aus der in sich spannungsvollen Grundproblematik des Liberalismus ergeben. Zugleich konfrontiert sie Nichtliberale mit dem Faktum, dass sie sich, ob sie wollen oder nicht, immer schon in einem liberalen Raum bewegen und sogar liberale Grundüberzeugungen teilen und insofern Exponenten gerade derjenigen Ideologie sind, gegen die sie sich nach eigener Auffassung wenden. Die ewige Klage über dasjenige Liberale, das über das jeweils Eigene hinausgeht, wird damit zum larmoyanten Lamento derjenigen, die das Eigene im Fremden und das Fremde im Eigenen nicht verstehen.

Kritik und Rezeption von Konservativismus

Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass die provokante These von Konservativismus in der kritischen Würdigung schnell unschädlich gemacht wurde. Vor allem die politikwissenschaftliche Rezeption weist dabei kritische Strategien auf, die Kondylis‘ These von der polemischen Natur theoretischer Wirkungsgeschichte vollumfänglich bestätigen. So setzen einige Rezensenten genau die Positionen als Maßstab zur Beurteilung von Kondylis‘ Argumentation voraus, die Kondylis kritisiert. 32 Lothar Dittmer, Beamtenkonservativismus und Modernisierung, Stuttgart 1992, S. 12 f. Anm. 1, S. 26; Thomas Rohkrämer, A Single Communal Faith? The German Right from Conservativism to National Socialism, New York, Oxford 2007, S. 7 f. Dass eine historisch bewehrte Begriffskritik vom »common understanding of the term«, 33 Rohkrämer, A Single Communal Faith, S. 7. vom »mainstream der Konservativismusforschung« 34 Franz Hederer, Im Sog des Egalitären. Ökonomisches Denken und der Wandel gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen in der Sattelzeit (Univ. Diss. Regensburg 2013), Göttingen 2014, S. 222. abweicht, ist für sie bereits ein bemerkenswertes Problem. Manche sehen in der kritischen Infragestellung des von ihnen Akzeptierten gar einen umstürzlerischen Anspruch, »over-estimating academics‘ power to define language«. Der Gegenvorschlag, »to allow for conservativism to change and to adopt«, 35 Rohkrämer, A Single Communal Faith, S. 7. setzt dann wieder diejenige historische Darstellung voraus, die gerade kritisiert wird.

Andere Rezensenten operieren mit dem bewährten Fehlschluss, die Infragestellung des Status quo würde Beliebigkeit und Dezisionismus implizieren, also »die politische Geistesgeschichte in […] beliebig zu setzende Abschnitte« auflösen. 36 So Raimund von dem Bussche, Konservativismus in der Weimarer Republik. Die Politisierung des Unpolitischen, Heidelberg 1998, S. 9. Aus Kondylis‘ genealogischer Studie wird so ein »Spiel mit Begriffen, das sich der unhistorischen Illusion hingibt, die Berechtigung geistiger Realitätsbezüge aus der historischen Retrospektive in toto verneinen zu können«. 37 Von dem Bussche, Konservativismus in der Weimarer Republik, S. 10. Die historische Darstellung, um deren Kritik es der Genealogie geht, wird mit »geistigen Realitätsbezügen« gleichgesetzt, die Genealogie erscheint aus diesem zirkulären Argument heraus »unhistorisch«. Wird die Genealogie in diesem Kritikschema zur Gegenspielerin der Geschichtsschreibung, die Differenz zwischen beiden also zur Trennung stilisiert, die Seriöses und Unseriöses voneinander scheidet, besteht die umgekehrte Strategie darin, Genealogie und Geschichtsschreibung zu identifizieren. Der Perspektivismus der Genealogie erscheint dadurch als unvollständige und mangelhafte Darstellung, die ihren Gegenstand nicht adäquat, also in der vollen Breite seiner historischen Erscheinung darstellt. Umgekehrt erscheint ihr kritisches Erkenntnisinteresse bestimmter Aspekte der historischen Entwicklung trivialerweise als »soziologische Beschränkung«. 38 So Felix Dirsch, Authentischer Konservativismus. Studien zu einer klassischen Strömung des politischen Denkens, Berlin 2012, S. 122-123.

Funktion solcher Strategien ist es, durch Verschiebung der Anspruchshaltung eines Textes, also das Aufstellen von Strohmann-Argumenten, die kritische Infragestellung zu umgehen oder aber sie als unseriöses Vorhaben zu diskreditieren. Daneben gibt es in der Rezeption auch die Strategie der Entschärfung. So akzeptiert ein Autor die in der Forschung unstrittige These, »dass konservative Ideen schon in der alten Ständegesellschaft […] in der Frühen Neuzeit ihren Ursprung hatten«, 39 Jörg Breitschwerdt, Theologisch konservativ. Studien zu Genese und Anliegen der evangelikalen Bewegung in Deutschland, Göttingen 2019, S. 648. um vor diesem Hintergrund Kondylis‘ eigentliche These, dass »der Konservativismus […] an den Stand des Adels gebunden […] und mit dessen Niedergang […] ein Phänomen der Vergangenheit geworden sei, 40 Breitschwerdt, Theologisch konservativ, S. 648 Anm. 28. abzulehnen.

Während die ablehnende Rezeption Kondylis‘ These von der polemischen Natur theoriepolitischer Auseinandersetzungen bestätigt, zeigt sich die zustimmende Rezeption teilweise differenzierter. Ein Autor stellt fest, dass »Kondylis vorwiegend begriffs- und ideengeschichtliche Argumentation […] sich durch eine Reihe von neueren organisationsgeschichtlichen Arbeiten untermauern [lässt]«. 41 Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 32003, S. 297. Malinowski verweist hier auf Hans-Christof Kraus, »Altkonservativismus und moderne politische Rechte. Zum Problem der Kontinuität rechter politischer Strömungen in Deutschland«, in: Thomas Nipperdey, Anselm Doering-Manteuffel, Hans-Ulrich Thamer (Hg.): Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte, Berlin 1993, S. 99-121. Damit wird Kondylis‘ These als zu prüfende Behauptung ernst genommen. Anschluss gefunden hat Kondylis dennoch nur in wenigen Bereichen, neben der bereits genannten Aufklärungsforschung auch in sozialhistorischen Studien zur Konstruktion einer »Konservativen Revolution«, die allerdings mittlerweile selbst als Standardwerk gelten. 42 Vgl. Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Tübingen  1995; ders., »Konservativismus – von Mannheim zu Kondylis«, in: Falk Horst (Hg.), Panajotis Kondylis und die Metamorphosen der Gesellschaft. Ohne Macht lässt sich nichts machen. Aufsätze und Essays, Berlin 2019, S. 47-74.

Weniger Zustimmung als Vereinnahmung zeigt sich in der rechten Rezeption, die Kondylis‘ Opposition zum etablierten Wissenschaftsbetrieb betont und Kondylis für ihr Narrativ vom »leidende[n] Patriot[en]« instrumentalisiert. Verständlicherweise zeigt sich gerade diese Rezeption tief beeindruckt von dem, was Kondylis – nicht ohne ironische Untertöne – in Macht und Entscheidung als »deskriptiven Dezisionismus« dargestellt hat. 43 Vgl. Günter Maschke, »Ein Problem, das nie zu lösen ist«, in: Panajotis Kondylis, Machiavelli, Berlin 2007, S. VII-XX, hier S. VII, IX, XI, XIII. Aus rechter Sicht scheint dieser, allzu ernst genommen, die Vorstellung einer Geschichte zu bestätigen, die von Willkürentscheidungen, nicht von moralischen Imperativen oder weltfremden Idealen bestimmt wird. Dass diese Wahrnehmung diejenige des »Schwerfälligere[n]« ist, der in über sie weit hinausgreifenden Gedanken nur die Bestätigung des Eigenen sehen kann, ist ihr bis heute oft nicht aufgegangen. Dass Kondylis die Liberalen, die sich für Rechte halten, mit ihren Illusionen konfrontiert, haben einige ihrer Autoren allerdings durchaus zur Kenntnis genommen. 44 Vgl. Adolph Przybyszewski, Art. »Konservativismus«, in: ders., Erik Lehnert (Hg.): Staatspolitisches Handbuch. Bd. 2: Schlüsselwerke, S. 137-138, hier S. 138.

Fazit

Warum sollte man also heute Kondylis‘ Konservativismus lesen? Erstens lohnt es sich grundsätzlich, sich ein Werk, das vor allem mit fadenscheinigen Argumenten für irrelevant erklärt wurde, noch einmal zur Prüfung vorzulegen. Das gilt auch und insbesondere für historisch und politikwissenschaftlich interessierte Leserinnen und Leser, die weniger an einem normativ missverstandenen Common Sense als an Perspektiven interessiert sind, die die eigenen Erwartungshaltungen produktiv enttäuschen. Zweitens bietet Kondylis eine Problemstellung auf, die sich auch in der neueren ideengeschichtlichen und politikwissenschaftlichen Diskussion zunehmend als Desiderat erweist: eine nichtvulgäre Ideologiekritik des europäischen Liberalismus und seiner Widersprüche, die bis heute in ihm wirksam und vor allem sichtbar sind. Aller historischen Situiertheit von Kondylis‘ Thesen zum Trotz – sein Horizont ist in weiten Teilen immer noch derjenige des Kalten Krieges und seiner Systemlogik -, bieten gerade die differenzierten Darstellungen polemischer Bewegungen eine Mikrologik ideologischer Auseinandersetzungen, die sich auch auf andere Bereiche produktiv übertragen lässt.

Drittens bietet Konservativismus die Möglichkeit, sich mit einer These bekannt zu machen, die im Kontext des Gesamtwerks vielfältige Vorarbeiten aufweist. Kondylis‘ »Theorie der Neuzeit« ist weit mehr als nur eine historische Studie, sie gehört zu denjenigen Genealogien, die eine weit zurückreichende Vorgeschichte unserer Gegenwart und ihrer weltanschaulichen Spannungen bietet. Dabei übertrifft sie an Komplexität viele aktuelle Ansätze, die regelmäßig auf Bestsellerlisten zu finden sind. Gerade weil ihr Wille zur historischen Informiertheit und die sehr bewusste Selektivität ihrer genealogischen Frage keinen Anspruch auf historische Vollständigkeit oder auf simple binäre Zuspitzungen zulässt, bietet Kondylis‘ Denken eine Ressource für eine Zeit an, die das richtige Maß an Komplexität dringend nötig hat.

Konservativismus fordert zum Widerspruch heraus und legt seinen Leserinnen und Lesern zugleich nahe, es sich mit diesem Widerspruch nicht allzu einfach zu machen. Es ist kein ungewöhnlicher Vorgang in der Geschichte des Denkens, dass eine Perspektive wie diejenige von Kondylis eine Zeit lang in Vergessenheit gerät. Ungewöhnlich wäre es, wenn ihre bleibende Qualität nicht für wert befunden würde, wiederentdeckt zu werden.

Kondylis, Panajotis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Berlin, Matthes & Seitz, 2023, S. 631 – 652. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.