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Sarah-Lee Heinrich: „Der Blick auf die Realität hat uns zu Marxisten gemacht.“

Mit Julia Werthmann hat Sarah-Lee Heinrich über die Gründe ihres Austritts bei den Grünen und über die neue Jugendorganisation »Zeit für was Neues« sowie die Möglichkeiten gesprochen, linke Politik wieder mehrheitsfähig in Deutschland zu machen.

Frau Heinrich, häufig heißt es: Kritisieren kann jeder. Etwas Besseres zu schaffen ist schon komplizierter. Sie und ihre Mitstreiter*innen sind bei den Grünen ausgetreten, weil Sie der Meinung waren, es sei »Zeit für was Neues«. Wie kamen Sie dazu? 

Ich finde die Kritik am Kritisieren irreführend. Sehr viele Menschen des politischen Betriebs machen Dinge, von denen sie nicht überzeugt sind, weil sie denken, es sei nicht anders möglich. Natürlich hätten wir in der Grünen Jugend bleiben können, weil wir dort noch ein Fünkchen Einfluss hatten. Aber gleichzeitig haben wir dafür gesorgt, die Regierungspolitik zu legitimieren. Mir haben Leute geschrieben: »Nur wegen Dir wähle ich die Grünen noch« – obwohl die Grünen das, wofür ich stehe, überhaupt nicht vertreten haben. Irgendwann habe ich mich gefragt, ob ich nicht linke Kritik in Parteien einhege, die dann überhaupt nichts damit machen und verhindere, dass Neues entsteht. Deshalb finde ich: Es ist auch gut, Dinge zu lassen. Unter keinen Umständen hätte ich noch authentisch Wahlkampf für die Grünen machen können.

Wann haben Sie gemerkt, dass innerparteilicher Druck keinen Sinn mehr hat? 

Wir haben auf vielen Wegen versucht, Einfluss auf die Partei zu nehmen. Beispielweise haben wir Leute reingeschickt, aber schnell gemerkt: Das Problem ist die gesamte Regierung, eine einzelne Person kann da wenig bewirken, es braucht mehr Druck von der Straße. Deshalb haben wir uns in Demobündnissen engagiert, wo uns die Leute schief angeschaut haben, weil wir die Jugendorganisation einer regierenden Partei waren. Zuletzt haben wir erkannt: Auch einzelne Demos können nichts ausrichten, es braucht langfristig eine linke Gegenkraft von unten. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg, heute sind eher die Rechten Ansprechpartner für konkrete Sorgen und Nöte. Als Grüne Jugend haben wir am Ende noch versucht, wieder stärker mit den Menschen ins Gespräch darüber zu kommen, was ihre Probleme sind. Aber die haben gesagt: »Was ihr sagt, ist cool. Aber wieso soll ich Teil einer Partei werden, die dafür mitverantwortlich ist, dass es mir schlecht geht?« Sie hatten recht. Unser Austritt folgte der Erkenntnis: Aus den Grünen heraus können wir keine linke Kraft aufbauen. 

Sarah-Lee Heinrich

Sarah-Lee Heinrich ist politische Aktivistin und studiert Sozialwissenschaften. Sie ist eines der bekanntesten Gesichter der neuen Jugendorganisation »Zeit für was Neues« und ehemalige Bundessprecherin der Grünen Jugend. Bild: Sarah-Lee Heinrich.

Nun sind Sie dabei, etwas Neues aufzubauen. Anfang Dezember haben Sie sich zu einer Auftaktkonferenz getroffen. Was haben Sie besprochen? 

Wir haben erstmal darüber diskutiert, vor welcher schlechten Ausgangslage wir stehen und dass wir einen linken Jugendverband gründen wollen, der etwas daran ändert. Wie? Mit konkreten Projekten vor Ort. Welche Projekte das genau sein werden, ist noch offen und wird sich Anfang des nächsten Jahres zeigen. Die Konferenz war dafür da, einen Grundstein zu setzen, auf dem wir jetzt aufbauen werden.  

Was kann man sich unter konkreten Projekten vor Ort vorstellen? 

Es können Projekte sein, in denen man sich gegenseitig hilft wie Nachhilfe-Cafés oder sich gegenseitig berät und unterstützt, wenn es etwa um Miete oder Bafög geht. Auch wenn die einzelnen Projekte noch nicht stehen, ist der Weg für uns klar: Wir werden nur in einer besseren Gesellschaft ankommen, wenn sich viele Leute daran beteiligen und wir Solidarität wieder erfahrbar machen. 

Wer ist »wir«, sind Sie nur ehemalige Grüne Jugend Mitglieder?  

Vor allem ehemalige Grüne Jugend, aber auch aus dem Umfeld und darüber hinaus.  

Die Grüne Jugend war lange Zeit für viele gleichbedeutend mit einer bürgerlich geprägten Klimabewegung. Mit Ihrem Austritt haben Sie vermehrt Klassenthemen angesprochen. Wie kam der Wandel von Klimabewegung zu Klassenkampf?  

Viele junge Menschen sind zur Grünen Jugend gekommen, weil sie Angst vor der Klimakatastrophe haben und alles Menschenmögliche dagegen unternehmen wollten. Und auch wenn es bei mir nicht zutrifft, so glaube ich doch, dass der bürgerliche Hintergrund bei vielen zu dem Selbstbild führte, wirklich etwas verändern zu können. Man wurde bis dahin seltener vom Leben gedemütigt als andere und hat Sicherheit in seinem Umfeld erfahren. Da kann man sich auch was trauen. Und dann steht man auf einmal vor der Klimakrise und merkt: Oh, das hängt mit unserem Wirtschaftssystem zusammen. Wir müssen Profitzwänge loswerden, sonst kann man diesen Planeten nicht mehr retten. Und wenn man nun mit diesem Wunsch nach Veränderung auf das Wirtschaftssystem schaut, fällt einem auf, dass die Mehrheit überhaupt nicht davon profitiert, dass die Dinge so laufen wie sie laufen – und dass es notwendig ist, diese Mehrheit zu mobilisieren, damit sich etwas ändert. Das führt auch zu der Erkenntnis, dass wir in einer Klassengesellschaft leben und nicht Teil der Klasse sind, die sich von der Klimakrise einfach freikaufen kann. Unsere einzige Option ist: die eigene Klasse zu organisieren. Kurzum: Der Blick auf die Realität hat uns zu Marxisten gemacht!  

Wie stehen die Grünen denn Ihrer Meinung nach zu den Auswüchsen des Kapitalismus? 

Das Programm der Grünen steht eigentlich links von der SPD. Aber das Problem ist, dass sie sich als Moderatoren in den Konflikten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, zwischen Mietern und Vermietern sehen, der mit ruhiger Stimme so lange einen Kompromiss vorschlägt, bis alle zufrieden sind. Zwar erkennen sie Missstände, sehen darin aber keinen Grundsatzkonflikt. In diesem Sinne kann man zwar beschließen, dass die Mieten um 2 Prozent weniger steigen. Was man damit aber nicht ändert, ist: dass Wohnen überhaupt etwas ist, dass man sich leisten können muss. 

Die Grünen ignorieren also die Klassendimension von Politik? 

Ja, die Grünen haben in dieser Regierung versucht, Klimaschutzziele zu verfolgen, waren aber auf der sozialen Frage so blank, dass bei den Leuten ankam: Klimaschutz macht mich ärmer, die reißen mir die Heizung raus. Deshalb ist es für kommende Regierungen auch so einfach, bereits erreichte Fortschritte in der Nachhaltigkeit wieder rückgängig zu machen. Wir wollten gar nicht, dass die Grünen weniger Klima machen, aber dass sie es sozial machen. 

Und wie ist ihre Gegenposition? 

Wir leben in einer Gesellschaft mit unterschiedlichen Interessen und müssen uns entscheiden, für welche wir uns einsetzen. Ich habe auch nichts gegen Arbeitgeber oder Mietkonzerne, aber ihr Interesse ist nun mal, Profite einzufahren. Profiterhöhung auf der einen Seite sind hohe Mieten auf der anderen Seite. 

Viele meinen, das wäre auch eine Frage des Alters. Die Jugend und somit auch die Parteijugend ist radikal und mit der Zeit wird man pragmatischer … 

Ich weigere mich zu glauben, dass die politische Ausrichtung eine Frage des Alters ist. Ich finde, wir sollten in einer Gesellschaft leben, in der wir darüber entscheiden können, wie wir zusammenleben. Und trotzdem werden grundsätzliche Änderungswünsche sehr schnell aufgegeben, weil man denkt, dafür gäbe es keine Machtmittel. Und bei den Grünen stimmt das ja auch – sie haben die Menschen wirklich nicht hinter sich. Macht hat nicht, wer an der Regierung ist, sondern wer die Mehrheit hinter sich hat. Nur so lässt sich etwas durchsetzen. Wie oft haben wir gehört, die Grünen seien traurig über die Dinge, die sie beschließen. Aber sie hatten keine Idee, wie sie aufhören könnten, diese Dinge zu tun. 

Julia Werthmann

Julia Werthmann hat ihren Master im Bereich Politischer Theorie in Wien mit einer Arbeit zum Netzwerkkapitalismus. abgeschlossen Im Rahmen ihrer Arbeit als freie Journalistin sind ihre Texte bei der SZ, dem Philosophie Magazin und dem DATUM erschienen.

Wenn man das hört, denkt man: Wieso gehen Sie nicht zur Linkspartei? Nach der Abspaltung des BSW und dem Führungswechsel bestehen immerhin große Überschneidungen. 

Wir wollen einen eigenständigen Jugendverband aufbauen. Wir sind der Überzeugung, dass es wieder eine starke linke Kraft braucht, die den Status quo überwindet und beobachten deshalb sehr interessiert, wie sich die Linkspartei entwickelt. Allerdings reicht es nicht, dass es irgendeine linke Partei gibt. Der Machthebel sind die Menschen. Die Bedingung für Wandel ist, dass die Linke allgemein wieder gesellschaftlich Fuß fasst – und genau dazu möchten wir beitragen. Wenn wir uns in diesem Prozess der Linkspartei oder anderen Organisationen annähern, ist das schön. Wir verschließen uns nicht, aber wir haben eigene Ziele und wollen sie keinem Parteiwohl unterordnen. 

Ihrem Ansatz, sich der Parteipolitik fernzuhalten, könnte man entgegenhalten, was Anton Jäger zuletzt als »Hyperpolitik« kritisiert hat. Und zwar, dass die Linke immer wieder neue Bewegungen hervorbringt, aber relativ schlecht darin ist, auf institutioneller Ebene Veränderungen zu erwirken. Wie möchten Sie verhindern, dass Sie nicht bloß eine neue Bewegung schaffen, die nach einer Welle der Aufmerksamkeit wieder verschwindet?  

Genau weil wir keine Hyperpolitik wollen, tun wir, was wir tun. Viele haben uns gesagt: Ihr müsst jetzt das Momentum nutzen! Aber wir haben entgegnet: Nein, wir wollen nicht nur von Debatte zu Debatte rennen, ein Jugendverband sein, der sich immer zu allem äußert und ein Share-Pic durch die Gegend sendet. Aus den letzten Jahren haben wir gelernt, dass das nichts bringt. Was gegen Hyperpolitik hilft, ist langfristige Organisierung und die konkrete Arbeit vor Ort. Dafür braucht es aber nicht unbedingt eine Partei. Denn auch die kann von Kampagne zu Kampagne springen, statt sich langfristig zu verankern. Wir haben uns von diesem Politik- und Regierungszirkus gelöst und das ist auch gut so, weil auch der Großteil der Gesellschaft davon ausgeschlossen ist. Und mit genau diesem Teil wollen wir was reißen. Wenn sich gesellschaftliche Stimmungslagen ändern, dann bewegen sich Regierungen mit. Einfach weil sie Sorge haben, dass sie sonst nicht mehr unterstützt werden. Wie das geht, haben wir bei der Ampel gesehen: In Migrationsfragen wurde sie von einer rechts mobilisierten Stimmung getrieben. 

Ist ein Jugendverband mit seinem jungen Zielpublikum denn in der Lage eine Mehrheit der Gesellschaft zu organisieren? Oder wollen Sie Ihr Projekt auf lange Sicht verallgemeinern? 

Es ist erstmal ein Jugendverein, weil wir junge Leute sind und realistischerweise auch junge Leute erreichen. Wir glauben zwar nicht an den großen Generationenkonflikt oder dass die Jugend das einzige revolutionäre Subjekt der Gesellschaft ist. Aber wir denken, dass es gut ist, irgendwo anzufangen. Außerdem sind junge Menschen oft noch nicht so stark abgestumpft und offener für Wandel. Aber wir werden sehen, was daraus noch erwächst. Und wir haben auch nichts gegen ältere Leute (lacht)

Kurz nachdem Sie den Grünen den Rücken gekehrt haben, ist die Ampelkoalition zerbrochen. Jetzt steht wieder Wahlkampf an, Robert Habeck wirbt mit Taylor Swift-Armbändchen und gewohntem Feel-Good-Optimismus. Hatte Ihr Austritt keinen Effekt auf die Grünen? 

Es gibt durchaus linke Grüne, die geblieben sind, weil sie sagen: Wir teilen Eure Analyse, aber glauben, dass noch was möglich ist. Die versuchen jetzt, für soziale Anliegen Druck zu machen. Es kann auch sein, dass sie damit Erfolg haben. Mein Gefühl ist jedoch leider, dass es nicht gelingt. In der Opposition werden die Grünen zwar gute Forderungen vertreten, die sie dann aber in einer Regierung wieder aufgeben. Wieso sollte eine nächste grüne Regierungszeit anders sein als die letzte? 

Die einzigen, die derzeit vom Unmut der Bevölkerung profitieren sind die Rechten. Wie kann ihnen die Linke die Rolle des Vertreters des »kleinen Mannes« wieder streitig machen? 

Darauf habe ich keine feste Antwort. Aber wir wollen uns der Frage mit dem Jugendverband stellen, indem wir wieder in die Klasse reingehen. Menschen dazu einladen, sich gemeinsam für Dinge einzusetzen, statt von oben mit einem fertigen Programm anzukommen. Man muss sich nur beim Einkaufen mit jemandem unterhalten, der sich fragt, wer von diesen hohen Preisen profitiert. Daraus ergeben sich genügend politische Forderungen. Und bei alledem sollte man auch keine Angst haben, sich bei den Regierenden, den Medien oder auf Twitter unbeliebt zu machen.  

Ihre Strategie, sich auf Basisarbeit zu fokussieren, um wieder eine linke Machtbasis aufzubauen, zeigt in einer größeren Perspektive die historisch miserable Lage der Linken. Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung gibt für diesen langen Weg? 

Wichtig ist, dass wir erstmal anerkennen, dass die Lage so schlecht ist. Wenn wir das nicht tun, werden wir immer nur schnelle Lösungen suchen. Was mir dabei Hoffnung gibt, sind all die motivierten jungen Leute, die ich in den letzten Jahren und bei unserer Auftaktkonferenz gesehen habe. Sie wollen nicht akzeptieren, dass ihre Zukunft am seidenen Faden hängt. Das ist das Potenzial, aus dem wir schöpfen können. 

Danke für das Gespräch!