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Was heißt liberal?

Ist die Geschichte des Liberalismus identisch mit der Geschichte, die Liberale über sich selbst erzählen? Warum gilt John Locke heute als Vordenker des Liberalismus und nicht die lange Reihe der Philosophen von Cicero bis Spinoza? In seiner ersten Kolumne widmet Daniel-Pascal Zorn sich der Fähigkeit des Liberalismus, sich als die Vernunft jenseits der Extreme zu inszenieren.

Die Geschichte politischer Ideen ist untrennbar mit der Geschichte verbunden, die sich die Vertreter dieser Ideen über sich selbst erzählen. Politische Ideen sind, so der Alltagsverstand, weltanschauliche Positionen. Weltanschauungen aber setzen sich zusammen aus Überzeugungen, Haltungen, bestimmten Formen des Fürwahrhaltens also, in und mit denen sich ihre Vertreter zur Welt und ihren Mitmenschen verhalten. Wer könnte also besser über politische Ideen als Weltanschauungen Auskunft geben als ihre Vertreter?

Was auf den ersten Blick plausibel ist, wirkt auf den zweiten, kritischeren Blick fadenscheinig: Ist denn die »Geschichte« in der »Geschichte politischer Ideen« und in der »Geschichte, die sich die Vertreter dieser Ideen über sich selbst erzählen« immer schon dieselbe? Die Geschichte politischer Ideen ist Gegenstand der Ideen- und Begriffsgeschichte, einer Abteilung der Geschichtswissenschaft, die sich mit dem konkreten Gebrauch von Ideen und Begriffen in der zeitgenössischen Literatur und Publizistik, ihrer polemischen oder analytischen Funktion auseinandersetzt. Die Geschichte, die sich die Vertreter dieser politischen Ideen über sich erzählen, ist dagegen selbst ein politischer Einsatz in der öffentlichen Debatte, gehört also zu dem, was die Ideen- und Begriffsgeschichte kritisch zu ihrem Gegenstand machen muss.  

Bemerkenswert ist, dass diese einleuchtende Unterscheidung zwischen Gegenstand und Gegenstandsbeschreibung bei Begriffen wie »Liberalismus« regelmäßig eingeebnet wird. So findet man in der Fachliteratur für politische Ideen aus der Politikwissenschaft oder der Philosophie regelmäßig Beschreibungen des Liberalismus, die sich dessen Selbsterzählung zu eigen machen, ohne sie kritisch von ihrer eigenen Gegenstandsbeschreibung zu unterscheiden. Die politikwissenschaftliche oder philosophische Einordnung des Liberalismus, die ihren Gegenstand ihren Lesern also aus einer möglichst sachbezogenen und nachprüfbaren Perspektive darstellen will, wird auf diese Weise regelmäßig selbst zu einer liberalen Stellungnahme – die Aussage über den »Liberalismus« wird unter der Hand zur Aussage des »Liberalismus«, der Gegenstand zum Subjekt der Aussage.

Daniel-Pascal Zorn

Daniel-Pascal Zorn ist promovierter Philosoph, Historiker und Literaturwissenschaftler. Er lehrt und forscht in Wuppertal und ist Autor beim Klett-Cotta-Verlag. Dort erschienen sind »Logik für Demokraten«, »mit Rechten reden« und »Das Geheimnis der Gewalt«. Im März 2022 ist sein neues Buch »Die Krise des Absoluten« erschienen.

Wie John Locke zum Vordenker des Liberalismus wurde

Ein schönes Beispiel für diesen problematischen Zusammenfall der Perspektiven ist der Philosoph John Locke. In etlichen Einführungen wird er – zusammen mit seinem älteren Landsmann Thomas Hobbes – als Vordenker des Liberalismus geführt, mithin also als einer der ersten liberalen Denker, auf die man sich heute noch stolz berufen kann. Natürlich hat John Locke als politischer Philosoph über den Begriff der »Freiheit« nachgedacht – das trifft aber auch auf seine Zeitgenossen Spinoza und Leibniz zu. Wie »Freiheit« zu denken ist, gehört zu den philosophischen Grundproblemen, seit der Kaiserzeit, also ab dem 2. Jh. nach Christus, zugespitzt durch den extremen Freiheitsbegriff »absolutus«, aus dem die Philosophie der deutsch-italienischen Frühen Neuzeit einen Ausdruck ihres eigenen Freiheitsproblems machen wird, den Begriff des »Absoluten«. Warum also ist John Locke und nicht die lange Reihe der Philosophen von Cicero bis Spinoza Vordenker des Liberalismus?  

Das hat mit einer Verschiebung in der Selbsterzählung des »Liberalismus« zu tun, mit der sich die Ideengeschichte befasst. Denn John Locke wurde erst zur Mitte des 20. Jahrhunderts hin zu einem Vordenker des Liberalismus. Der englische Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker Duncan Bell hat nachgezeichnet, wie es dazu kam 1 Bell 2014 . Für die Autoren des 19. Jahrhunderts, von denen einige in England die Begriffe »liberal« und »Liberalismus« mitprägten – affirmativ oder polemisch –, gehörte Lockes Denken einer überwundenen Vergangenheit an. Es galt nicht als sonderlich originell, sondern eben als Auseinandersetzung eines Philosophen mit seiner eigenen Zeit, mit gedanklichen Mitteln, die einem fortschrittlichen Philosophen wie John Stuart Mill »grob« und »ungeschickt« erschienen 2 Bell 2014, S. 696 . Manche priesen Locke als Metaphysiker, aber als politischer Denker hatte er nichts zu bieten, was die zeitgenössischen politischen Denker des 19. Jahrhunderts nicht besser wussten. 

Das alles ändert sich in der Zeit kurz vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die außenpolitische und bald auch militärische Auseinandersetzung mit dem Faschismus und Nationalsozialismus in Europa – die durch innenpolitische Auseinandersetzungen gespiegelt wurde – nötigte den Liberalen eine neue Selbstpositionierung ab. Wo sich ideengeschichtlich durchaus Verwandtschaften zwischen rechten und liberalen Weltanschauungen beschreiben lassen 3 Kondylis 2023, S. 625-627 , musste die liberale Selbsterzählung sich selbst in der Abgrenzung zu Bewegungen bestimmen, die sich ihrerseits durch Geschichtsphilosophien legitimierten, in Anknüpfung an das alte Rom oder an eine fiktive germanische Urkultur. Bell beschreibt zwei diskursive Bewegungen, durch die sich das liberale Narrativ geschichtsphilosophisch vertieft: Die erste betrifft jene nachträgliche Erweiterung einer »liberalen« Tradition in die Frühe Neuzeit, durch die auch John Locke als Vordenker des Liberalismus eingemeindet wurde. Die zweite Bewegung nimmt eine begriffliche Unschärfe des 19. Jahrhunderts – die oft polemische Gleichsetzung von »liberal« mit »demokratisch« von Seiten konservativer Kritik – und kehrt sie zu einer dezidierten Selbstpositionierung um, die nun im Schlaglicht der europäischen Totalitarismen an Schärfe gewinnt: »liberale Demokratie«.  

Mit dieser Kontrastierung wurde der Weg frei, um altenglische parlamentarische Traditionen wie die Whigs – ursprünglich ebenfalls eine polemische Bezeichnung – mit dem neuen Liberalismus zu identifizieren. Über das Scharnier des Parlamentarismus, zur Zeit seiner Abschaffung in Europa, verlängerte sich der Liberalismus selbst historisch bis ins 17. Jahrhundert zurück. Das forderte noch ambitioniertere Vorschläge heraus. So verlegte der russisch-britische Philosoph Isaiah Berlin mit dem von ihm kommentierten Alexander Blok 4 Berlin 1931a und 1931b die ursprüngliche freiheitliche Bewegung in die Zeit der italienischen Renaissance, zu Machiavelli, Montaigne und Erasmus von Rotterdam. Weil die Renaissance wegen der »Wiedergeburt« der Antike so genannt wurde, kam die Selbsterzählung des Liberalismus doch wieder bei Seneca als Vordenker an. John Locke, von jenen Liberalen des 19. Jahrhunderts, die den Begriff des »Liberalismus« geprägt haben, als unwichtiger Denker der Vergangenheit geschmäht, wurde als Engländer und Empirist für die englischen und empiristischen Philosophen zum Gründungsvater ihrer politischen Weltanschauung. 

Inhaltliche Vagheit und performative Entschiedenheit

Eines fällt bei dieser Selbstbestimmung jedoch auf: Sie ist denkbar allgemein gehalten. Weder »liberale Demokratie« noch die Identifikation von bestimmten Philosophen mit Vordenkern der eigenen Ideologie sagt Entscheidendes über eine politische Haltung, einen dezidierten politischen Inhalt aus. Die liberale Selbsterzählung gewinnt an Substanz vor allem in der Auseinandersetzung mit ihren Kritikern und in Abgrenzung von politischen Bewegungen, die als illiberal erkannt und zugleich als Wettbewerber auf dem Markt der politischen Ideen übertroffen werden müssen. »Liberalismus« ist, bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – als Ausgangspunkt aller heutigen »Liberalismen« – eine bemerkenswerte Kombination aus inhaltlicher Vagheit und performativer Entschiedenheit.  

Dieses Phänomen kann man bereits dort feststellen, wo die Begriffe »liberal« und »liberale Ideen« zum ersten Mal politisch als Beschreibung gebraucht werden 5 Rudolf Vierhaus 1982 . In seiner unpolitischen Bedeutung verweist »liberal« am Ende des 18. Jahrhunderts auf den eher charakterologischen Begriff »Liberalität«: Diese schreibt man dem zu, der – überlegen und überlegt – sich vorurteilsfrei und großzügig zeigt, wohlmeinend und parteilos Urteile fällt, tolerant und gütig mit seinen Mitmenschen umgeht. Wer Liberalität zeigt, zeigt Weltoffenheit und Toleranz, verhält sich unabhängig zu gesellschaftlichen Normen und Werten und behauptet einen eigenen Standpunkt. Ein Gutteil dieser Charakterisierungen, die zwischen generellen Vernunft- und Moraltugenden oszillieren, ist in das Selbstbild späterer Liberaler eingeflossen. Es ist dieses Selbstbild, das den Liberalismus enger mit der philosophischen Tradition verknüpft als jede andere politische Ideologie.  

Was auf der subjektiven Seite das Maßhalten, die Ausgeglichenheit und die Skepsis ist, erscheint in der sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts langsam etablierenden politischen Bedeutung als dezidierter Ausgleich der Extreme. Kein anderer als Napoleon stellt seine neue Weltordnung nach seinem Staatsstreich 1799 als Ausdruck von »idées libérales« vor. Diese »liberalen Ideen«, so eine zeitgenössische Quelle 6 Rudolf Vierhaus 1982, S. 748-749 Anm. 25 mit feinsinniger Rhetorik, bewegen die »liberalen« Gemüter, anders als die Revolution, die sich an die Leidenschaften wendet. Das Liberale ist eine Abkühlung des Revolutionären, die sich mit dem Konservativen, dem Erhaltenden verbündet, um gegen das Radikale vorzugehen. Das ist eine interessante Verkomplizierung des Begriffs des »Liberalen« in seiner ersten Erscheinung als politischer Ordnungsbegriff: Noch vor jeder inhaltlichen Bestimmung bezeichnet er in Anlehnung an den unpolitischen Vorbegriff jene Einstellung, die sich vom Extremen abgrenzt. Als politischer Begriff setzen sich die »idées libérales« mit der imperialen Ordnung Napoleons in Europa durch, also gerade jener Ordnung, gegen die wenige Jahre später die Freiheitskämpfer der antinapoleonischen Koalition streiten.

Was heißt liberal?

Für die deutsche Rezeption ist vor allem die innerdeutsche Diskussion über die Revolution entscheidend. Einerseits streben die »freiheitlich« Gesinnten in den deutschen Staaten eine Liberalisierung an. Andererseits fürchten sie sich vor der Revolution, ebenso wie ihre Gegner. Auch hier führt die polemische Herausforderung zu einer ideologischen Selbstauseinandersetzung und schließlich zu einer Bestimmung. In der Neuen Allemania fragt 1816 Johann Christoph von Aretin im Anschluss an den französischen Diskurs »Was heißt Liberal?« und skizziert, mit einigen interessanten Verschiebungen zum deutschen Diskurs 7 vgl. Leonhardt 2012, 50-52 , eine Selbstbestimmung, die ganz der bereits genannten Verkomplizierung entspricht: Das »Liberale«, so der Neo-Aufklärer Aretin, ist eigentlich identisch mit der Vernunft, »[d]ie liberalen Grundsätze sind keine anderen als die vernünftigen« 8 Leonhardt 2012, S. 51 . Sie wenden sich gegen die vergangene Despotie, sind als Vernunft und Aufklärung gegen den Dogmatismus von Thron und Altar gerichtet, und verteidigen die – in jener vergangenen Despotie etablierten – Gewissensfreiheit gegen Fanatismus und Unglauben.  

Doch die Mäßigung, versichert Aretin seinen Lesern, betrifft auch das Liberale selbst. Denn »[v]on der anderen Seite« bedrohen Atheismus, Anarchismus und »freche Spöttereien« als Vertreter einer »Ultra-Liberalität« 9 Aretin 1816, S. 169-170 die gesellschaftliche Ordnung. Demgegenüber betont Aretin »liberale Grundsätze« [ebd.], an denen sich der Liberale messen lassen muss. Welche das sind, sagt er leider nicht. Wieder begegnet das Schema der inhaltlichen Unbestimmtheit bei gleichzeitiger performativer Entschiedenheit: das Liberale ist dort am sichtbarsten, wo es sich gegen die Extreme stellt, gegen Despotie und Sklaverei, Absolutismus und Anarchie. Es bestimmt sich selbst als Vermittlung, stellt sich als Alternative zu diesen Extremen vor – aber worin genau diese Vermittlung bestehen soll, wie die Extreme des ganz Anderen im Eigenen vermieden werden sollen, das bleibt im Unbestimmten.  

Schließlich ist es gerade diese inhaltliche Unbestimmtheit, das nur skizzenhafte, sehr allgemeine Bekenntnis zu Freiheit, Vernunft, Aufklärung – oder wahlweise: Kultur –, die es dem Liberalismus erlaubt, sich recht beliebig zu erweitern oder zu verengen. Diese Selbstbestimmungen, die oft auch Neubestimmungen sind, haben immer mit politischen Situationen zu tun, in denen Liberale sich finden, sich von Gegnern abgrenzen oder – mächtigeren – Gegnern den Wind aus den Segeln nehmen; schließlich: klare Feindbilder ausmachen müssen. Diese letzteren Abgrenzungen sind besonders interessant, gerade weil aus einem anderen Blickwinkel als dem der ideologischen Selbstidealisierung die Adressaten dieser Feindbilder dem Liberalismus durchaus verwandt sind, in der einen oder anderen Hinsicht. Die Geschichte des Liberalismus ist nicht die Geschichte, die Liberale sich über die eigenen Ideen und ihre Geschichte erzählen. Sie ist die Geschichte der polemischen Selbstfindung einer Position, für die es politisch gerade von Vorteil ist, sich proteusartig in neuen Formen selbst wieder zu finden und alte Formen als Gegner oder Feinde von sich abzustoßen. Was diese bemerkenswerte Wandlungsfähigkeit mit dem Begriff der »Freiheit« zu tun hat, darum wird es in der nächsten Folge dieser Kolumne gehen.

Literatur

Johann Christoph von Aretin: Was heißt liberal?, in: Neue Allemannia für Recht und Wahrheit Bd. 1 (1816), S. 163-175 
Duncan Bell: What is Liberalism?, in: Political Theory 42,6 (2014), S. 682-715 
Isaiah Berlin: Alexander Blok »The Collapse of Humanism«, in: Oxford Outlook 11,55 (1931), S. 89–112 
Isaiah Berlin: Alexander Blok. Editorial II, in: Oxford Outlook 11,55 (1931), S. 73-76 
Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Berlin 2023 
Jörn Leonhardt: »Definierbar ist nur Das, was keine Geschichte hat«, in: Jochen A. Bär (Hg.): Geschichte der Sprache – Sprache der Geschichte. Probleme und Perspektiven der historischen Sprachwissenschaft des Deutschen. Festschrift für Oskar Reichmann zum 75. Geburtstag. Berlin 2012, S. 37-60 
Rudolf Vierhaus: Art. »Liberalismus«, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 741-785