Wenn die Milchmädchen rechnen
Freiheit, Feierabend und Finanzen: Eine Mehrheit der Vollbeschäftigten ist für die Vier-Tage-Woche. Der Arbeitgeberverband sieht darin hingegen nur eine Milchmädchenrechnung. Was hinter der Polemik steckt, wieso die Frage der Arbeit eine politische statt bloß ökonomische ist und was wir aus der Geschichte lernen können, schreibt Julia Werthmann.
»Deutlich weniger Arbeit bei vollem Lohnausgleich – wirtschaftlich ist das eine Milchmädchenrechnung« ließ der Chef des Arbeitgeberverbands (BDA) und ehemalige CDU-Politik Steffen Kampeter jüngst in Reaktion auf die virulenten Forderungen nach einer Vier-Tage-Woche gegenüber der BILD am Sonntag verlauten.
Bevor sich überhaupt dem Inhalt gewidmet werden kann, drängt sich die Frage auf, was das Problem mit der Rechnung eines Milchmädchens ist. Das geflügelte Wort geht auf die Fabel La Laitière et le Pot au lait (Die Milchfrau und die Milchkanne) des französischen Schriftsteller Jean de la Fontaines aus dem 17. Jahrhundert zurück. Auf dem Weg zum Markt rechnet sich das Mädchen aus, was es alles vom Erlös würde kaufen können: Circa Hundert Eier, aus denen Küken schlüpfen könnten, die man für ein Schwein, das wiederum später gar für eine Kuh mit Kalb eintauschen könnte – rechnet sie und verschüttet vor lauter Träumen die Milch. Zurück in die harte Realität gestolpert, bleibt ihr nur der Wunsch, der Ehemann würde sie wegen des entstandenen Schadens nicht verprügeln.
Jemanden einer Milchmädchenrechnung zu bezichtigen, hat den Zweck, ihm utopische Träumerei bar jeglicher Rationalität vorzuwerfen. Die Redewendung transportiert eine klare Moral der Geschicht‘, die Machtlosen wie dem Milchmädchen rät, bloß nicht, sei es auch nur träumerisch, außerhalb der Grenzen ihrer kümmerlichen Realität zu denken.
Julia Werthmann
Große Mehrheit befürwortet die Vier-Tage-Woche
Und damit wären wir mitten in der derzeit heiß geführten Diskussion um die Vier-Tage-Woche. Neuen Anstoß lieferte eine neu veröffentlichte, repräsentative Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (WSI): Rund 80 Prozent der Vollzeitbeschäftigten wünschen sich ihr zu Folge eine verkürzte Arbeitswoche bei vollem Lohnausgleich. Rückendeckung erhalten sie von den Gewerkschaften und der SPD-Politikerin Saskia Esken und der Linken. Die Studie der WSI argumentiert, dass die Arbeitszeitreduktion dem Fachkräftemangel entgegenwirke: Könne sie doch Berufe, die derzeit um Arbeitskräfte ringen, attraktiver machen. Auch wird von einem steigendem Arbeitsvolumen ausgegangen, da das Modell die bisher schwierige Vereinbarkeit eines Vollzeitjobs mit der Familie verbessern würde. In Deutschland haben 2022 laut Statisa knapp 50 Prozent der erwerbstätigen Frauen in Teilzeit gearbeitet. IG-Metall-Chef Jörg Hofmann schätzt nun: Zehn Prozent dieser Frauen für die Viertagevollzeit zu gewinnen, würden das Arbeitsvolumen stärker steigen lassen als die von der Bundesregierung angestrebte Fachkräfteeinwanderung von 400.000 Menschen pro Jahr. Darüber hinaus zeigen Studien in Ländern wie Island, Spanien, Japan, Schottland und Schweden, dass eine verkürzte Arbeitszeit weitere Vorteile mit sich bringt: Sie reduzieren Stress, Krankheitstage und Jobwechsel und erhöhen insgesamt die Produktivität der geleisteten Arbeitsstunden, sodass durch die verringerte Arbeitszeit keine Produktivitätsverluste entstehen würden. In vielen Ländern werden deshalb bereits Maßnahmen in diese Richtung ergriffen.
Das ist die eine Seite, die angebliche Milchmädchenrechnung. Dagegen steht die andere Seite, vertreten durch die Arbeitgeber sowie die Parteien FDP, CDU und weite Teile der SPD. Namentlich FDP-Wirtschaftsminister Christian Lindner positionierte sich auf Twitter gegen eine verkürzte Arbeitszeit. Stattdessen plädierte er für weniger Bürokratie um »weitere gesellschaftliche Wohlstandsverluste zu verhindern« und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken. Daneben werden vor allem der Fachkräftemangel, aber auch die aktuelle »Jahrhundert-Transformation« als Gegenargumente angeführt, die verlangen würden, so Mercedes-Vorstandschef Ola Källenius, »die Ärmel hochzukrempeln«. Die Ärmel, die hochgekrempelt werden sollen, sind die der Arbeitenden. Und das lieber fünf als vier Mal die Woche. Auch der sozialdemokratische Arbeitsminister Hubertus Heil ist wenig überzeugt. Statt einer Arbeitszeitreduktion wünscht er sich Flexibilisierungen – im Übrigen auch ein Ziel des Ampel-Koalitionsvertrags. Relativ vage ist hier die Rede von »flexiblen Arbeitszeitmodellen«, die man ermöglichen wolle. Zum Beispiel ein flexibler Umgang, oder eher die Möglichkeit des Umgehens von Höchstarbeitszeiten. Die Gewerkschaften hatten hierauf bereits im November letzten Jahres verlauten lassen: Hände weg vom Arbeitszeitgesetz! Eine Aufweichung von Errungenschaften wie der Tageshöchstarbeitszeit, sei mit ihnen nicht zu haben. Neben einer flexiblen Nutzung der Ressource Arbeit wünschen sich die Arbeitgeber keine generelle Verkürzung von Arbeitszeit. Im Gegenteil, eher »mehr Bock auf Arbeit« (nochmal Kampeter). Letzten Sommer forderte der Arbeitgeberverband Gesamtmetall gar: »Wir werden länger und mehr arbeiten müssen«: Darunter stelle er sich ein gehobenes Rententrittsalter auf 70 (statt 67) Jahre und eine verlängerte Wochenarbeitszeit vor.
Arbeit ist keine rein ökonomische, sondern eine sozialpolitische Frage
Man könnte jetzt eine Pro- und Contra-Liste aufstellen: Einerseits weniger Arbeitsstunden, andererseits mehr Produktivität. Synthese: Vielleicht in manchen Branchen, unter diesen und jenen Bedingungen. So lesen sich auch die meisten Debattenbeiträge. Die Herangehensweise suggeriert, es handle sich um ein Nullsummenspiel, bei dem sich alle Aspekte miteinander kommensurabel in einem Modell mit festen Variablen und vor allem gegebenen Ziel verrechnen ließen. Der Name des heiligen Ziels? Wirtschaftswachstum! Steigende, mindestens aber gleichbleibende Produktivität und Gewinne für die Unternehmen. Diese heiligen Kühe und das damit einhergehende Framing der Debatte gilt es zu hinterfragen. Nur diesem magischen Modell nämlich erscheinen die Forderungen als Milchmädchenrechnung. Befragt man allerdings ein paar Grundlagen, verschiebt sich die Perspektive. Dann ist die Frage nicht, was richtig für den objektiven Mechanismus einer unpersönlichen Wirtschaft ist, in dem ein vages »Wir« von Wohlstandsverlusten bedroht ist. Dann stünde nämlich die Frage im Vordergrund, wer dieses »Wir« ist. Ob es die Mehrheit der arbeitenden Menschen meint oder lediglich jene, die über die Gewinne der Unternehmen verfügen. Und, ob es andere Formen der Arbeitsorganisation gäbe, die ein gutes Leben für alle ermöglichen würden.
Diesen Blickwinkel forciert beispielsweise die politische Theoretikerin Kathi Weeks (Professorin an der Duke University, USA). In The Problem with Work stellt sie 2011 fest: »Der Arbeitsplatz wird, wie der Haushalt, typischerweise als privater Raum dargestellt, der eher das Ergebnis einer Reihe von individuellen Verträgen als einer sozialen Struktur ist.« Diese soziale Struktur regelt, wie in einer Gesellschaft bestehende Bedürfnisse, die dafür notwendige Arbeit und der dabei entstehende Gewinn koordiniert wird. Oder anders: wie Arbeit, Zeit und Geld verteilt werden. Das wäre die gesellschaftliche Seite von Arbeit. Die politische Seite ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die Entscheidung für das eine oder andere mögliche Organisationssystem von einem Interessenskonflikt bestimmt ist, der keine objektiv richtige Lösung zulässt. Welche Arbeitsorganisation sich durchsetzt, ist nicht allein eine Frage des durch unsichtbare Markthand hergestellten Gleichgewichts aus Angebot, Nachfrage und anderen Sachzwängen, sondern auch eine des Machtverhältnisses zwischen denen die Arbeit nehmen und Arbeit geben. »Das Ziel keiner der beiden Parteien in der Arbeitsbeziehung ist der Konsum; die eine sucht den Mehrwert, die andere das Einkommen«, formuliert Kathi Weeks. Arbeit als sozialpolitische Struktur ist Ergebnis des Machtkampfes zwischen diesen beiden Interessen. Das dabei entstandene Machtverhältnis gilt es offenzulegen: »Das Bemühen, Arbeit gleichzeitig öffentlich und politisch zu machen, ist also eine Möglichkeit, den Kräften entgegenzuwirken, die sie naturalisieren, privatisieren, individualisieren, ontologisieren und damit auch entpolitisieren würden«, so Kathi Weeks.
Seit den 1970er Jahren liegt die Entwicklung hinzu Arbeitszeitverkürzung still
Jener politische Charakter von Arbeit drängt sich auf, wenn der Blick zurück in die Geschichte gerichtet wird. Seit Beginn der Industrialisierung und der Entstehung des klassischen Arbeiters, ringen Arbeit und Kapital miteinander. Auch wenn es derzeit anders wirkt, waren Forderungen und Streiks dabei eher Regel als Ausnahme. Weder Ruhezeiten, Wochenende und Urlaubsansprüche noch das Recht auf Krankheit, Arbeitsunfähigkeit oder eine arbeitslose Kindheit waren im 19. Jahrhundert selbstverständlich. 1825 betrug die durchschnittliche Arbeitszeit 82 Stunden. 1839 wurde das erste Kinderarbeitsschutzgesetz für unter neun Jährige eingeführt, erst 1960 wurde Kinderarbeit schließlich auch in der Land- und Hauswirtschaft verboten. Vom Beginn des Kaiserreichs 1871 bis zum ersten Weltkrieg gab es mehrere Arbeitszeitverkürzungen. Nach der Novemberrevolution 1918 wurde mit dem Acht-Stunden-Tag eine 48-Stunden-Woche durchgesetzt. Beginnend ab den 1950ern stritt man dann um die 40-Stunden-Woche. Unter dem Slogan »Samstags gehört Vati mir!« wurde für die Fünf-Tage-Woche mobilisiert, die uns heute selbstverständlich erscheint. Die Errungenschaften gingen mit gestiegener Produktivität und technischem Fortschritt einerseits und der Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter durch Kollektivierung andererseits einher.
Über keinen dieser Schritte waren die Arbeitgeber erfreut, bedeuteten sie doch Profiteinbußen oder zumindest einen Verzicht auf potenziellen Profitzuwachs. Und jedes Mal aufs Neue haben sie einen Einsturz der Wirtschaft beschworen – der jedoch nie eintrat. Oder aber sie haben in philosophisch-paternalistischer Manier darauf hingewiesen, dass der Arbeiter nicht für die Freiheit gemacht sei. So ließ der VW-Chef Heinrich Nordhoff 1955 auf die Forderungen nach einer 40-Stunden-Woche verlauten: »Ich will auch, obwohl das vielleicht nicht populär ist, daran erinnern, daß es auch ein Glück der Arbeit gibt, dessen Befriedigung unendlich viel größer ist als die des Müßiggangs. Sicher wäre ein freier Samstag für viele ein schönes Geschenk, aber für viele auch ein Fluch. Die meisten Menschen leben ohnehin auf der Flucht vor sich selbst, ihnen wird ein freier Arbeitstag die Leere noch vergrößern und die trostlose Flachheit, in der freie Zeit vertrödelt wird noch stärker zutage treten lassen.« Man darf vermuten, dass er sich selbst hingegen schon die Fähigkeit zumisst, mit dieser Freiheit umzugehen. Zur selben Zeit wird der Münchner Medizinprofessor und SPD-Politiker Walter Seitz vom Spiegel wie folgt zitiert: »Ein verlängertes Wochenende würde jedenfalls […] dazu beitragen, die Spannkraft wieder zu wecken. Während der längeren Freizeit könne jeder einem Hobby nachgehen und ein bißchen mehr Persönlichkeit entfalten – und wenn er nur Wasserflöhe züchte oder mit der elektrischen Eisenbahn spiele.« In den 1960ern und 70ern wurde die 40-Tage-Woche schließlich in den meisten Branchen durchgesetzt. Zwar war es nicht immer die Wasserflohzucht, aber die Arbeiterinnen und Arbeiter haben gewusst, was sie mit sich anfangen sollen. Haben sich ausgeruht, Hobbies begonnen oder Zeit mit der Familie verbracht.
In Folge weiterer Auseinandersetzungen wurde sich in den Branchen der Metall-, Elektro-, und Druckindustrie in den 1980ern und 90ern auf eine schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche bis 1995 geeinigt. Vielerorts wurden das allerdings bald wieder zurückgenommen. Als wöchentliche Normalarbeitszeit gelten deshalb auch heute noch die 40-Stunden. Die durchschnittliche Vollarbeitszeit der deutschen Bevölkerung lag 2021 laut Statistischem Bundesamt bei knapp 41 Stunden.
Es ist erstaunlich, dass sich im Arbeitskampf, insbesondere in Bezug auf die Arbeitszeit, derart wenig getan hat seit den 1970ern. Schließlich ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen. Der Stillstand hängt eng mit einer Schwächung der Gewerkschaften durch Mitgliederschwund und neoliberale Politiken sowie einem Mentalitätswandel um die Jahrhundertwende zusammen. Arbeit wurde individualisiert und entpolitisiert, was zu einem verringerten Kollektivbewusstsein und Organisationsgrad der Arbeitenden führte. Der Klassenkampf, ja das Konzept Klasse überhaupt schien zunehmend veraltet. Mit den Forderungen nach einer Vier-Tage-Woche sowie den sie begleitende Streikwellen jüngster Vergangenheit für Lohnerhöhungen zeigt sich jedoch eine neue Politisierung von Arbeit. Politisierung bedeutet, die Debatte von rein wirtschaftlichen Überlegegen wegzubewegen. Stattdessen bringt die Idee der Vier-Tage-Woche Forderungen nach einem Anteil der Arbeitenden an Produktivitätsgewinnen, einer gerechteren Verteilung zwischen Lohnarbeit und unbezahlten Fürsorgetätigkeiten sowie ökologischer Transformationen vor. Aber der Reihe nach.
Produktivitätszuwächse haben vor allem Gewinne erhöht, nicht Reallöhne
Erstens: Zwar liegt die Entwicklung hinzu Arbeitszeitverkürzung seit den 1970ern, spätestens aber seit den 90ern brach. Andere Stellschrauben aber haben sich verschoben: Die Produktivität ist seither stetig gestiegen, der Reallohn jedoch immer weniger. Zuletzt sind sogar Reallohnverluste zu verzeichnen gewesen. Seit der Wiedervereinigung haben sich Lohn- und Produktivitätswachstum entkoppelt. Der derzeitige Reallohnverlust hängt mit der Inflation zusammen, die 2022 im Schnitt bei knapp 8 Prozent lag, teilweise gar Höchstwerte von über 10 Prozent erreicht hat. Zuletzt aber hat die Ökonomin Isabella Weber darauf hingewiesen, dass die Preissteigerungen nicht allein auf ein knappes Energieangebot im Rahmen des Ukrainekriegs und folglich gestiegenen Produktionskosten zurückzuführen ist. Vielmehr konnten Unternehmen ihre Profite ausbauen, indem sie die Preise noch weiter erhöhten. Die Krise diente ihnen als Deckmantel der Legitimität. Allerdings war das kein Ausnahmefall. Das Konzeptwerk Neue Ökonomie verweist darauf, dass Unternehmens- und Vermögenseinkommen seit 2000 stärker gestiegen sind als Löhne und Gehälter. In vielen Branchen geht es bei einer Vier-Tage-Woche also schlicht und ergreifend um eine Verteilung der Gewinne. Wenn überhaupt: Zieht man die Pilotstudien in Island und den USA zu Rate, die steigende Produktivität belegen, dann würden sich Arbeitszeitreduktion und Gewinnverluste sogar ausgleichen. Ohne Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer an den gestiegenen Produktivitätsgewinnen teilhaben zu lassen. So oder so wäre die Vier-Tage-Woche in vielen Branchen finanzierbar und alles andere als eine Milchmädchenrechnung.
Logischerweise gibt es auch Branchen, in denen Gewinne und Produktivitätszuwachse (allgemein oder im Falle der Arbeitszeitverkürzung) geringer ausfallen oder nicht existieren, weil sowieso schon Arbeitskräftemangel herrscht. Beispielweise im Pflege- und Gesundheitswesen. Hier könnte die Vier-Tage-Woche allerdings sowohl mit steigender Attraktivität der Berufe und damit einhergehender Personalerhöhung als auch verringerten Kündigungen und Krankheitsausfällen Abhilfe schaffen. Klar ist aber auch, dass die Arbeitszeitreduktion in chronisch unterfinanzierten, aber überbelasteten Bereichen mit mehr Investitionen verbunden werden muss. In Anbetracht steigender Unternehmensgewinne und Übergewinnen während der Pandemie in der Gesamtwirtschaft wäre das aber keine Unmöglichkeit – gesetzt des Falles, Arbeit würde als gesellschaftspolitische Verteilungsaufgabe betrachtet.
Eine geschlechtergerechtere Aufteilung der Arbeit wird möglich
Denn – und damit kommen wir zum zweiten Punkt: Keine Arbeit kann isoliert betrachtet werden. Sie ist Teil eines funktionierenden Ganzen namens Gesellschaft und hier wird allzu oft vergessen: Alle Produktion basiert auf Reproduktion. Sprich: Erziehungsarbeit von Kindern, Betreuung von Alten, emotionale Fürsorge, Kochen, Putzen und Aufräumen. Niemand tritt, so die Philosophin Judith Butler entgegen der neoliberalen Suggestion, unabhängig ins Leben oder wäre es jemals während seiner Lebenszeit. Der Mensch ist als soziales Wesen von Anfang bis Ende auf die Hilfe anderer angewiesen. Diese Bedingung des Seins und damit auch der Produktion kann verdrängt und missachtet werden, sie verschwindet dadurch aber nicht. Allerdings, darauf verweist die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser 2022 in ihrem neuen Buch Cannibal Capitalism, hat die kapitalistische Ökonomie seit jeher darauf basiert, die Bedingungen ihres Bestehens – weibliche Sorgearbeit, Sklavenarbeit, migrantisierte Arbeit und ökologische Ressourcen – als kostenlose oder billige Ressourcen zu nutzen und teilweise bis zur Irreparabilität auszubeuten.
Ein Teil der weiblichen Reproduktionsarbeit findet heute schlechtbezahlt, vor allem von Frauen und migrantisierten Menschen im Pflege- und Reinigungssektor statt. Der andere im Privaten. Damit geht es neben einer besseren Finanzierung der genannten Bereiche auch um eine bessere Verteilung der unbezahlten Arbeit, die die Lohnarbeit und ihre Gewinne trägt. Genau in diese Stoßrichtung geht die Vier-Tage-Woche. Allein mehr Frauen aus der Teilzeit in die Vollzeit zu bringen, wie es die Debatte bisher suggerierte, wäre dabei zu kurz gedacht. Die 66 Prozent der Mütter, die 2022 laut Statistischem Bundesamt in Teilzeit arbeiteten, sind keine ungenutzte Arbeitsressource, nur eine unbezahlte. Stattdessen geht es darum, das Missverhältnis zwischen den Geschlechtern auszugleichen. Auf der einen Seite machen Frauen den Großteil der unbezahlten Sorgearbeit, lohnarbeiten dafür aber im Schnitt weniger, sodass sie geringere finanzielle Sicherheit besitzen. Das macht sie finanziell und emotional abhängig von ihrem Partner. Für junge Frauen bedeuten wenig berufliche und finanzielle Ressourcen ein erhöhtes Risiko für Gewalt in der Partnerschaft. Im Alter wartet ein erhöhtes Armutsrisiko auf sie. Auf der anderen Seite stehen Männer, die im Schnitt Vollzeit arbeiten (nur 7% der Väter arbeiten Teilzeit) und sich weniger um Kinder, alte Menschen und den Haushalt kümmern. Sie sind finanziell unabhängig, im Alter besser abgesichert und arbeiten insgesamt weniger. Sie haben also mehr Zeit zur freien Verfügung. Eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich würde idealerweise darauf zielen, dass Frauen mehr Lohnarbeit, und Männer mehr Sorgearbeit verrichten können. Was ihre Gleichheit nicht nur hinsichtlich Einkommen und Zeit erhöht, sondern auch ihr soziales und emotionales Verhältnis gerechter gestaltet. Selbstverständlich folgt eine gerechtere Zeiteinteilung jedoch nicht aus der Vier-Tage-Woche. Müssten die geschaffenen Möglichkeiten doch durch eine veränderte Mentalität und Verantwortungsbewusstsein ausgefüllt werden. Allerdings wird das schwerlich passieren, wenn nicht zumindest die materiellen Bedingungsmöglichkeiten gegeben sind.
Arbeitszeitreduzierung korreliert mit Emissionsreduktion
Drittens besitzt der Vier-Tage-Vorschlags Möglichkeiten für den ökologischen Wandel. Fachleute wiederholen seit geraumer Zeit gebetsmühlenartig, dass Ressourcenverbrauch und Schadstoffemission reicher Staaten schrumpfen müssen.Das Konzeptwerk Neue Ökonomie sieht die Arbeitszeitverkürzung neben den sozialen Verbesserungen als zentralen Baustein der ökologischen Transformation. So ist der unhinterfragte Wert des Wirtschaftswachstums, den Gegnerinnen und Gegner der Vier-Tage-Woche entgegenhalten, angesichts des Klimawandels nicht haltbar. Um das 1,5 Grad Ziel zu schaffen und Emissionen zu reduzieren, müssen energieintensive Branchen mittelfristig schrumpfen und Produktionskapazitäten abgebaut werden. Das Konzeptwerk versteht darunter den fossilen Energiesektor, die Chemie- und Rüstungsindustrie, etwas weiter gedacht auch die Werbe- und Glücksspielbranche. Neben der Notwendigkeit sinkender Produktion in einigen Sektoren, deren Arbeitskapazitäten in den Pflege- Gesundheitssektor sowie alternativen Energiesektoren gebraucht werden, zeigen Studien, dass Arbeitszeit und Emissionsrückgänge korrelieren. 2006 zeigten Untersuchungen der Ökonomen David Rosnick und Mark Weisbrot, dass weniger Arbeitsstunden mit ähnlicher Leistung (USA im Vergleich mit der EU) einen geringeren ökologischen Fußabdruck mit sich brächten. Aber auch hier ist klar, dass eine verringere Arbeitszeit nicht die alleinige Lösung, sondern nur ein erster Anstoß sein kann: Muss sie doch in Zusammenspiel mit einem grundsätzlichen Umbau der Wirtschaft und Mentalität auf nachhaltigen Konsum und Produktion einhergehen.
Die Dimension des guten Lebens
Zuletzt öffnet eine Vier-Tage-Woche auch die Perspektive auf ein gutes Leben. Wenn Arbeit, Zeit und Einkommen fair verteilt werden, bleibt im besten Falle Zeit für politische Bildung, demokratische Teilhabe und kreative Tätigkeiten. In diesem Sinne hat die Soziologin Frigga Haug, bis 2001 Professorin an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, das 4-in-1-Modell gedacht: Je ein Viertel der wachen Zeit solle der produktiven Beschäftigung, Sorgearbeit, Kultur und Politik gewidmet werden, um ein gutes Leben für alle zu erzielen. Dass solch ein Konzept den Wünschen der Mehrheit entspricht, zeigt die zu Beginn angesprochene aktuelle Umfrage des WSI: Die Befragten geben an, die in einer Vier-Tage-Woche gewonnene Zeit für sich selbst (97%), die Familie (87%) und zivilgesellschaftliches Engagement (87%) nutzen zu wollen. Um noch einmal Kathi Weeks in Bezug auf Arbeit zu zitieren:
Es geht darum, darauf zu bestehen, dass es andere Wege gibt, diese Tätigkeit zu organisieren und zu verteilen, und uns daran zu erinnern, dass es auch möglich ist, außerhalb der Grenzen der Arbeit kreativ zu sein. Wir sollen darauf hinweisen, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, das Vergnügen zu erleben, das wir jetzt in der Arbeit finden, und auch andere Vergnügen, die wir entdecken, kultivieren und genießen möchten.
Eine Vier-Tage-Woche allein reicht noch nicht aus
Das Ringen um eine Vier-Tage-Woche ist der Anfang einer Repolitisierung von Arbeit, die sie aus ihrem erstarrten Gewand der Objektivität löst. Wie wir gesehen haben, hält sie sinnvolle Veränderungen für eine fairere Verteilung von Einkommen, Zeit und Arbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitenden sowie den Geschlechtern, zudem aber auch Impulse für eine ökologischere Wirtschaft bereit. Das kann jedoch nur der Startschuss sein. Nur in Kombination mit anderen Maßnahmen kann die Vier-Tage-Woche den gewünschten Effekt einer gerechten und sozialökologischen Transformation von Arbeit erwirken kann.
Ebenso sieht es mit der Anpassung des gegenwärtigen Missverhältnisses zwischen Arbeit und Wohlstand aus. »Systemrelevante« Berufe – hier sei auf das Buch »Verkannte Leistungsträger:innen« von Oliver Nachtwey und Nicole Mayer-Ahuja verwiesen –, Frauen und migrantisierte Menschen, die eher in eben jenen Bereichen arbeiten, werden schlecht entlohnt. Zeitgleich schießen Gehälter in anderen Bereichen ins Unvorstellbare. »Aktuell verdienen Vorstandsvorsitzende eines DAX-Unternehmens zum Beispiel im Schnitt 153-mal so viel wie durchschnittliche Einkommensbezieher*innen« hält das Konzeptwerk Neue Ökonomie fest. Dieses Verhältnis ist nicht neu. Nicht nur die Einkommensungleichheit steigt, auch die Vermögenungleichheit ist hoch. Wie in anderen liberalen Demokratien hat sie in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland zugenommen, da Vermögen wie Erbschaften nicht bis kaum besteuert werden. So teilt sich die untere Hälfte der Deutschen knapp ein Prozent des Vermögens, während ein Prozent gut ein Drittel besitzt. Der deutsche Philosoph Stefan Goosepath forscht an der Freien Universität Berlin zu Ungleichheit. Fehlende Vermögens- und Erbschaftssteuerkonzepte führten dazu, dass die Idee einer Leistungsgesellschaft zur einer Fantasiebehauptung mutiert. Oder zur Milchmädchenrechnung? Es ginge also darum, zu fragen, welche Arbeit welchen Teil zur gesellschaftlichen (Re-)Produktion beiträgt, wie sich dieser Wert in der Bezahlung niederschlägt, überhaupt niederschlagen kann, wenn die Karten von vornherein derart ungleich verteilt sind.
Nebenbei: Das arbeitsbefreite Leben gibt es bereits für eine Minderheit. 800.000 Menschen lebten 2021 in Deutschland laut Statistischem Bundesamt überwiegend von ihrem Vermögen und Kapitaleinkommen. Und es gibt fernab den Teilzeit-Müttern auch jene Erwerbstätige, die bereits das Drei-Tage-Wochenende austesten: Es sind die Einkommensstarken. Um auf eine gerechte Arbeits- und Zeitverteilung innerhalb der Gesellschaft zu wirken, braucht es demnach Diskussionen bezüglich der Angleichung von Gehältern, Vermögens- und Erbschaftssteuer und Umverteilung von Gewinnen lukrativer Branchen hinzu systemrelevanten, aber weniger profitablen Branchen – eine Vier-Tage-Woche reicht nicht aus.
Das Problem neuer Arbeitsformen
Soweit die identifizierten Lücken. Zuletzt gibt es aber noch ein bisher vernachlässigtes, nicht aber minder relevantes Problem mit dem Vorschlag der Vier-Tage-Woche: Arbeit hat sich seit den 1970ern fundamental gewandelt. Die Idee der Vier-Tage-Woche baut jedoch auf einem klassischen Verständnis von Arbeit und Beschäftigungsverhältnissen auf. Zwei zentrale Veränderungen liegen dazu quer: Die Neoliberalisierung von Arbeit im Sinne der Selbstausbeutung durch (Über-)Identifikation einerseits und individualisierte, atypische Beschäftigung andererseits. Kurzum: Inhalt und Form neuen Arbeitens.
Der Soziologe Luc Boltanski und die Wirtschaftswissenschaftlerin Ève Chiapello zeichnen die tiefschürfenden Veränderungen von Arbeit im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus 1999 hellsichtig in ihrer umfassenden Analyse Der neue Geist des Kapitalismus nach. In Auseinandersetzungen mit der Arbeitskritik der 68er, die mehr Authentizität angesichts entfremdeter Arbeit und mehr Freiheit entgegen starr hierarchischer Arbeitsprozesse fordert, haben sich im heutigen Postfordismus flexible, individualisierte und involvierte Arbeitsmodelle etabliert. Arbeitgeber haben auf die Forderungen reagiert, um die Produktivitätskrise der 70er zu überkommen. Unternehmen versuchen heutzutage demnach gezielt, Einzelne stärker kreativ und persönlich in ihre Arbeit einzubinden und übertragen durch abgebaute Hierarchien und Regeln mehr individuelle Verantwortung. Wenn sich Einzelne stärker mit ihrem Job identifizieren, fühlen sich dem Erfolg der Projekte stärker verpflichtet. Das kann Mehrarbeit und Selbstausbeutung nach sich ziehen. Die offizielle Arbeitszeit zu reduzieren, kann auf diesen Mechanismus nur bedingt zugreifen.
Dazu sind seit den 1970ern auch formell zunehmend atypische Beschäftigungsformen entstanden, die vom Normalarbeitsverhältnis – Vollzeit, unbefristet, im Unternehmen selbst angestellt – abweichen. Zu nennen sind projektbasierte, befristete, geringfügige, (schein-) selbstständige oder in Subunternehmen ausgelagerte Tätigkeiten. Diese Arbeitsformen sind prekär, weil sie weniger Sicherheiten und Rechte mit sich bringen. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin trägt den Großteil des Risikos von Krankheit, Konjunkturschwankungen und Fehlern selbst. Projektbasiert, selbstständig und ausgelagert sind Arbeitende nicht durch Betriebsräte repräsentiert, ihr individuelles Arbeiten unterbindet kollektives Einfordern von Rechten und Bemängeln von Problemen. Befristungen als gängige Praxis führen dazu, dass permanenter Performancedruck herrscht, entscheidet der Erfolg doch jeweils neu über die zukünftige Möglichkeit von Arbeit und Einkommen. Arbeitgeber profitieren von diesen flexiblen Verhältnissen. Mit der Flexibilisierung von Arbeit geht die allgemeine Privatisierung öffentlicher Daseinsvorsorge und der Abbau sozialer Rechte in den letzten Jahrzehnten einher. Krankheit oder Leerphasen dieses volatilen Arbeitsmodells können somit zu existenziellen Problemen mutieren. Der politische Theoretiker Oliver Marchart, der an der Universität Wien forscht, beschreibt deshalb 2013 die Entwicklung einer Prekarisierungsgesellschaft in seinem gleichnamigen Buch. Damit meint er folgendes: »Sie betrifft nicht eine kleine Gruppe von Abgehängten oder Ausgeschlossenen, sondern nahezu alle. Das heißt: Prekarisierung ist ein Phänomen von gesamtgesellschaftlicher Tragweite.« Denn: Auch die scheinbar Verschonten sind von der Prekarisierung als drohende Gefahr heimgesucht.
Die Vier-Tage-Woche richtet sich also vor allem an klassische Arbeitsformen mit klassischen Verträgen. Von einer Arbeitszeitverkürzung bei gleichem Lohn profitieren deshalb vor allem Festangestellte. Das Problem zunehmend irregulärer Beschäftigung und selbstausbeuterischer Überidentifikation würde jedoch weiterbestehen: Hier geht es nämlich weniger um Zeit als um den Output oder den Erfolg der Arbeit. Eine Wissenschaftlerin, deren Experiment glücken muss, damit ihr befristeter Vertrag verlängert wird, eine freie Web-Designerin, die krank wird und den Auftrag nicht fertig stellen kann – ihnen hilft die Vier-Tage-Woche wenig. Hier braucht es weitreichendere Ideen. In einem Interview mit dem Jacobin Magazin nennt der Soziologie Claus Offe einen alternativen Vorschlag: »Grundeinkommen, Transfer, nationale Dividenden, also die Verteilung gesamter volkswirtschaftlicher Leistungen und Erträge an Bürgerinnen und Bürger – und nicht nur an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.«
Arbeit ist also eine gesellschaftliche Aufgabe und politische Aushandlungsfrage. Es geht darum, wie Bedürfnisse, Arbeit, Zeit und Geld verteilt werden und wer mitentscheidet. Eben diese Prozesse müssen (wieder) als gesellschaftlich gestaltbar begriffen werden, anstatt von anonymen Sachzwängen auferlegt. Eine Vier-Tage-Woche könnte in vielen Bereichen ein guter Anfang sein. Aber die Debatte muss sich mehr erlauben: Die mit Arbeit einhergehenden Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen müssen angegangen werden sowie die hinzugekommenen Herausforderungen durch neue Formen des Arbeitens, die den klassischen Konflikt zwischen kollektivierter Arbeitskraft gegenüber den Arbeitgebern unterlaufen.
In diesem Sinne: Lasset die Milchmädchen ihre Rechnungen für eine kommende Arbeitsorganisation aufstellen: Eine in der sie nicht leben, um den Milchkrug zu Markte zu tragen, sondern in der sie den Milchkrug zu Markte tragen, um ein gutes Leben zu haben.