Wie gelingt multiethnische Demokratie?
Angesichts rassistischer Ausschreitungen und rechtspopulistischer Wahlerfolge in den vergangenen Monaten wirft Mounir Zahran in seinem Beitrag die Frage nach den Gelingensbedingungen einer multiethnischen Demokratie auf – und ob dieses Projekt überhaupt noch zu retten ist.
Im Kontext der bisher erfassten Menschheitsgeschichte erscheint die Wahrscheinlichkeit eines demokratischen Systems unter all den anderen politischen Systemen als unwahrscheinliches Ereignis. Noch unwahrscheinlicher erscheint unter diesen Demokratien die multiethnische Demokratie. Angesichts der raschen Abfolge aktueller Ereignisse stellt sich nicht nur die Frage nach den Bedingungen ihres Gelingens, sondern zunehmend auch die, ob dieses Projekt überhaupt noch zu retten ist.
So mag das berühmt-berüchtigte Sylt-Video vom Mai dieses Jahres, in dem junge Frauen und Männer ihre Abneigung gegen Ausländer zum Ausdruck brachten, irritiert haben, aber vielleicht hat man von den Angehörigen einer pseudo-liberalen Schicht unbewusst auch nichts anderes erwartet. Die stoisch anmutende Haltung, dass es »eben so ist und immer so war«, mag für viele als Schlussfolgerung ausreichen. Sie ist zwar alles andere als konstruktiv, dafür aber bequem und dürfte deshalb dem einen oder anderen Zeitgenossen für den Moment genügt haben.
Dann geschahen die Ausschreitungen in Großbritannien, wo rassistische Mobs Flüchtlingsunterkünfte und Moscheen angriffen. Kurze Zeit später folgten die rechtspopulistischen Wahlerfolge in Thüringen und Sachsen. Der Vorfall auf Sylt ist damit zu einer Fußnote des Jahres 2024 verblasst. Doch die Dynamik bleibt dieselbe: In beiden Fällen probt eine rassistische Minderheit die Revolte gegen die multiethnische Demokratie. So gesehen ist es auch in den neuen Bundesländern nur eine Frage der Zeit, bis der Protest von der elektoralen Ebene auf die Straße getragen wird. Aus der kleinen Irritation, die Sylt ausgelöst hat, wird – langsam, aber sicher – eine Verunsicherung. Diese Verunsicherung führt über kurz oder lang zu der eingangs erwähnten Frage: Wie kann multiethnische Demokratie noch gelingen?
Vormoderne und liberale Multikulturalität
Ein zentraler Aspekt einer funktionierenden multiethnischen Demokratie ist eine funktionierende Multikulturalität. Diese Schlussfolgerung ist keineswegs tautologisch. Denn hier soll zwischen zwei Arten von Multikulturalität unterschieden werden: einer vormodernen Multikulturalität und einer liberalen Multikulturalität. Letztere zeichnet sich durch die Abwesenheit von Dominanz aus.
Multikulturalität ist kein Produkt der westlichen Moderne, sondern ein altbekanntes Phänomen. Bereits im östlichen Mittelmeerraum der Antike bis zur Frühen Neuzeit lässt sich eine Koexistenz verschiedener Religionen, Ethnien und Kulturen beobachten. Allerdings geschah all dies unter klaren Machtverhältnissen. Es wäre daher naiv, diese Form der Koexistenz mit der Multikulturalität in westlichen liberalen Demokratien gleichzusetzen. Pluralität war hier kein Ideal, sondern eine Hierarchie: Eine dominante Gruppe – etwa die muslimische Elite von den Umayyaden bis zu den Osmanen – ermöglichte diese Koexistenz nach eigenem Gutdünken. Juden und Christen genossen eine eigene Gerichtsbarkeit und konnten unter den Kalifen sogar hohe politische Ämter bekleiden, doch war ihre Stellung stets kontingent; abhängig vom wechselnden Wohlwollen der herrschenden Elite. Ein Wohlwollen, das über die Jahrhunderte hinweg mal mehr und mal weniger vorhanden war.
Im Unterschied dazu steht die Multikulturalität liberaler Demokratien. Hier gilt Koexistenz nicht mehr als Zugeständnis, sondern als rechtlich abgesichertes Prinzip. In dieser modernen Spielart von Multikulturalität wird Koexistenz mit dem Zusatz »Freiheit von Dominanz« versehen. Die Bedingungen erscheinen hier nicht willkürlich, sondern gelten als zu jeder Zeit vom Staat als faktisch gesichert.
Mounir Zahran
Bedingungen multiethnischer Demokratien
Doch braucht es den Begriff der »multiethnischen Demokratie« wirklich? Schließlich trägt die liberale Demokratie all das, was hier beschrieben wird, ohnehin in sich. Die Bezeichnung kann gerechtfertigt werden, wenn der Fokus nicht nur auf den Institutionen, sondern auch auf die Gesellschaft gerichtet wird. So ist eine multiethnische Demokratie eine Staatsform, in der (a) sich die Institutionen unparteiisch gegenüber allen Anschauungen verhalten und (b) ihre Bürgerinnen und Bürger den Leiderfahrungen ihrer Mitbürger:innen weder relativierend noch selektiv begegnen. Gerade die zweite Bedingung, ist es, was eine multiethnische Demokratie von einer liberalen unterscheidet. Denn eine liberale Demokratie ist nicht notwendigerweise eine multiethnische Demokratie. Japan, Südkorea und Taiwan stellen reale Beispiele dieses Umstandes dar. Umgekehrt gilt jedoch: Wo eine multiethnische Demokratie existiert, ist sie immer auch eine liberale Demokratie. »Multiethnisch« macht sichtbar, was »liberal« oft verschleiert: die normative Herausforderung, Pluralität nicht nur zu tolerieren, sondern aktiv gerecht zu gestalten.
Einen Fahrplan zur Bedingung (b) liefert Richard Rorty. Im Unterschied zu John Rawls und Jürgen Habermas, deren liberale Demokratietheorien rationalistische Verfahren neutraler Entscheidungsfindung ins Zentrum rücken, setzt Rorty auf etwas anderes: auf die Erzeugung einer emotionalen Grundhaltung, die in der wechselseitigen Anerkennung von Leidensfähigkeit wurzelt. Sein in dieser Hinsicht ausgereiftestes Werk Kontingenz, Ironie und Solidarität (1989) ist ein eindrucksvolles Beispiel für eine in die politische Theorie eingewobene Empathie. Die Frage, wie wir in Zukunft in einer multiethnischen Demokratie zusammenleben wollen, wird nicht nur analytisch klug, sondern auch empathisch beantwortet. Liberalismus muss nicht nur kühler, sachlicher Prozeduralismus, sondern kann ebenso emotional und empathisch sein.
Die Sätze »Ich möchte nicht, dass du leidest« und »Auch ich möchte, dass du nicht leidest« markieren sowohl den Beginn des gesellschaftlichen Zusammenhalts als auch den Ort des Konflikts. Gerade Demokratien – und dazu gehören auch solche multiethnischer Prägung – leben vom Streit, vor allem vom Streit um politische Mehrheiten. Es ist wichtig, den Konflikt unter diesen Gesichtspunkten zu gestalten. Es reicht nicht aus, Feinde, wie Chantal Mouffe vorschlägt, zu Gegnern zu deantagonisieren. Es geht darum, Gegner als Leidensfähige zu begreifen. Der politische Streit endet nicht, aber er wird durch Empathie zivilisiert.
Ein zivilgesellschaftliches Projekt
Manchem könnte dieser Satz vielleicht geschmacklos, defätistisch oder zu liberal erscheinen: Es wird immer eine Minderheit geben, die sich nicht in die plurale, multireligiöse, areligiöse oder multiethnische demokratische Grundordnung integrieren lässt. Dies ist dann auch den liberalen Institutionen geschuldet, die langfristig eher zu einer Vielfalt als zu einer Einheit von Anschauungen führen. Indem liberale Institutionen sich durch eine Indifferenz gegenüber Ansichten als neutral idealisieren, ermöglichen sie auch eine Ablehnung dieser Indifferenz.
Das Dilemma, das sich hier auftut, ist offensichtlich: Eine multiethnische Demokratie muss ihre eigenen Grundlagen sichern, ohne dabei die liberalen Rechte einer illiberalen Minderheit zu verletzen. Multiethnische Demokratien können aber nur funktionieren, wenn sie liberal bleiben – und verlieren genau diesen Charakter, sobald sie versuchen, ihren multiethnischen Anspruch durch Illiberalität zu erzwingen. Der Preis für das Gegenteil wäre eine multiethnische Autokratie, wie sie in Singapur funktional, in Syrien dysfunktional sichtbar wird.
Eine in die Öffentlichkeit zur Schau gestellte Fremdenfeindlichkeit wird es in Demokratien immer geben, es ist nicht die Aufgabe ihrer liberalen Institutionen diese zu verhindern. Liberale Institutionen machen das Projekt multiethnische Demokratie lediglich möglich, forcieren es aber nicht. Der Staat, der neutral bleiben will, kann nicht zugleich Akteur im kulturellen Konflikt sein.
Autokratien hingegen nehmen die Verhinderung ethnischer Konflikte oft als Staatsaufgabe wahr – mal erfolgreich, mal scheinheilig. In einigen Fällen führt dies zu einer Hierarchisierung der Minderheiten, wie im Vorkriegssyrien, wo systematisch zwischen ‚guten‘ Armeniern und ‚schlechten‘ Kurden unterschieden wurde. Die scheinbare Stabilität solcher Systeme täuscht: Sie beruhen nicht auf Koexistenz, sondern auf selektiver Dominanz. Eine multiethnische Demokratie hingegen ist keine staatliche Verordnung, sondern ein gesellschaftliches Projekt. Im Sinne Rortys liegt ihre Verwirklichung in den Händen der Bürger – eine liberale Demokratie schafft die Bedingungen dafür, doch die Entscheidung zur Umsetzung bleibt der Gesellschaft überlassen.
Der Erfolg der Umsetzung kann auch nicht allein am Ausbleiben rassistischer Vorfälle gemessen werden. Im Syrien der Vorkriegszeit geschahen rassistische Ausschreitungen vermutlich weitaus seltener als in der Bundesrepublik. Das leuchtet ein: Autoritäre Regime betrachten jede Anfechtung ihrer Ordnung, einschließlich ihrer kontrollierten Multikulturalität, als existenzielle Bedrohung. Stabilität wird erzwungen, nicht gelebt.
Der wahre Erfolg einer multiethnischen Demokratie zeigt sich nicht in der Abwesenheit von Fremdenfeindlichkeit, sondern in der Stärke der gesellschaftlichen Opposition dagegen. Und genau hier bedarf es einer politisch-aktiven gesellschaftlichen Mehrheit, die ihre Ablehnung jeder fremdenfeindlichen Haltung zu jedem geeigneten Zeitpunkt signalisiert.
Von einer solchen gesellschaftlichen Mehrheit wird verlangt, anzuerkennen, auf wie viele verschiedene Weisen andere Menschen, auf die sich das eigene Handeln auswirkt, gedemütigt werden können 1 Rorty 2012: 156–157 . Nach dieser Auffassung ist die wirksamste Weise, Menschen anhaltenden Schmerz zuzufügen, »darin sie zu demütigen, indem man alles, was ihnen besonders wichtig schien vergeblich, veraltet, ohnmächtig erscheinen läßt.« 2 Rorty 2012: 153 . Fremdenfeindlichkeit ist auch das: eine Demütigung, die die Authentizität von Leiderfahrungen leugnet.
Blick auf die Bundesrepublik
Allerdings kann man mit Blick auf die Bundesrepublik nur von einer teilweise gelungenen Umsetzung sprechen. Rassistische Vorfälle lösen nicht immer eine klare, geschlossene Verurteilung aus. Das Problem liegt nicht bei der breiten Mehrheit, sondern bei den politischen, akademischen und medialen Eliten, die im Umgang mit Rassismus oft versagen. Das zeigt sich besonders dann, wenn rassistische Gewalt mit selektiver Solidarität, Relativierungen oder schlichtem Schweigen beantwortet wird. Ja, selbst angesichts der rassistischen Gewalt in Großbritannien, die nicht gerade durch Ambiguität oder das Attribut der Komplexität ausgezeichnet ist, fällt es nicht wenigen deutschen Journalist:innen und Politiker:innen bisweilen schwer, die Geschehnisse eindeutig zu verurteilen.
Im Falle dieser und ähnlicher Fälle werden in letzter Zeit vermehrt zwei Positionen sichtbar: die Position, die das Leid einer Gruppe anerkennt und eine solche, die das Leid einer Gruppe durch Zweifel, Schweigen oder Relativierungen delegitimiert. Diese selektive Haltung hat immer denselben Effekt: Sie spricht den Betroffenen ihr Leid ab. Jede Relativierung und jedes Strohmannargument ist nicht nur eine rhetorische Figur, sondern eine performative Verweigerung von Empathie. Ein solches selektives Gewissen kann langfristig mehr Schaden anrichten als ein bizarres Video aus Sylt. Die Enttäuschung über einen solchen Vorfall ist dann wahrscheinlich kurzfristig, die inadäquate Reaktion auf jenen Vorfall enttäuscht hingegen langfristig und führt dazu, dass sich ein Teil der Gesellschaft früher oder später vom Rest entfremdet.
Im Gegensatz zur nicht-liberalen Multikulturalität des früheren östlichen Mittelmeerraums kann man aber auch in diesem Fall immer noch von einer Abwesenheit von Dominanz sprechen. Dennoch muss man sich fragen, ob man sich mit dieser optimistischen Feststellung nicht einer kognitiven Dissonanz aussetzt. So kann man sich zumindest in der Bundesrepublik des Eindrucks nicht erwehren, dass die Gewissheit, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird, nach wie vor vom Wohlwollen einer Elite abhängt, die statt in Palästen nun in den Leitmedien, dem höheren Beamtenapparat in Justiz und Verwaltung und in der Politik residiert.
Es ist eine Elite, die zunehmend taub wird für die Leiderfahrungen der anderen. Die Fortschritte der letzten Jahrzehnte betrachtet sie nicht mit Stolz, sondern mit Unbehagen – weil ein Erfolg der multiethnischen Demokratie nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Zusammensetzung dieser Elite selbst verändern würde. Und dabei wird von letzterer befürchtet, dass der Kuchen, den es zu teilen gilt, nicht mehr allein in den vertrauten Kreisen verteilt werden kann.
Eine solche Haltung zeugt nicht nur von Verlustängsten, sondern auch von einer Heuchelei. Eine Elite, die ihre eigene Exklusivität über die Prinzipien der Gleichheit stellt, selbst wenn sie diese Gleichheit öffentlich affirmiert, ist bestenfalls pseudo-liberal.
Literatur
Richard Rorty (2012): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp