Wirtschaftswende oder Wachstumsblockade?

Die FDP verkauft ihre »Wirtschaftswende« als Rettung für Deutschlands stagnierende Wirtschaft – doch hinter den großen Worten steckt eine aus der Zeit gefallene Agenda, die Wachstum eher behindert als fördert, schreibt Patrick Kaczmarzcyk.

Die Glaubwürdigkeit der FDP hat in den letzten Wochen seit dem überraschenden Ampel-Aus stark gelitten. Je mehr Hintergründe und Details im Zuge der »D-Day-Affäre« ans Licht kamen, desto stärker musste die FDP zurückrudern. Nach den Enthüllungen der ZEIT und der Süddeutschen Zeitung wurde immer offensichtlicher, wie die Freien Demokraten versucht hatten, die deutsche Öffentlichkeit zu täuschen. Als Klientelpartei der obersten 1 Prozent kann es der FDP im Grunde aber egal sein, wie groß die Unterstützung in der breiten Bevölkerung ist. In den kommenden Wahlkampfwochen wird es ihr einzig und allein darum gehen, irgendwie über die 5-Prozenthürde zu kommen und den Wiedereinzug in den Bundestag zu schaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, setzt die Partei alles auf eine Karte: die sogenannte »Wirtschaftswende«.

Das Narrativ der »Wirtschaftswende«

In den Wochen seit dem Ampel-Aus beruhte der ›politische Spin‹, den die FDP öffentlich zu setzen versucht hat, auf zwei Argumenten. Zunächst hatten Politiker der FDP in der Öffentlichkeit mantraartig die Frage »Wo ist die Nachricht?« wiederholt. Das Narrativ war simpel: auch die anderen Parteien hätten sich auf ein Ampel-Aus vorbereitet. Da jedoch die Vorbereitung auf ein mögliches Ende der Koalition etwas anderes ist als die gezielte Sprengung derselben, verpuffte diese Linie nach den Enthüllungen zum berüchtigten »D-Day-Plan«. 

Dadurch wurde ein anderes Element wichtiger: das Argument, dass die FDP die »Wirtschaftswende« gewollt habe, diese mit den Koalitionspartnern aber nicht zu machen war. Mit dieser Rhetorik versucht die FDP vom eigenen Versagen in der Ampelregierung abzulenken und ein inhaltliches Argument in Stellung zu bringen. Mal geht es dabei in Richtung »Wachstum sei das beste Sozialprogramm« – wobei der Eindruck vermittelt wird, dass niemand außer der FDP an Wachstum interessiert sei. Mal werden die üblichen Floskeln zu Bürokratieabbau mit einem Hashtag #Wachstumswende versehen. Und mal werden die geringen Wachstumsraten Deutschlands damit in Verbindung gebracht, dass die FDP ihr Programm zur Wirtschaftswende nicht mehr umsetzen konnte.

Patrick Kaczmarczyk

Dr. Patrick Kaczmarczyk ist Ökonom am Kompetenzzentrum Transformation der Universität Mannheim und Berater bei der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD). Derzeit arbeitet er dort in der Africa, Least Developed Countries and Special Programmes Division (ALDC). Zuvor war er Leiter für volkswirtschaftliche Grundsatzfragen beim Wirtschaftsforum der SPD und Berater in der Debt and Development Finance Branch (DDFB). Im Westend Verlag erschien zuletzt »Kampf der Nationen« (2022).
 

Hiermit suggeriert die FDP, dass das Papier des damaligen Finanzministers für mehr Wachstum gesorgt hätte. Die Umsetzung wäre womöglich »schmerzhaft« gewesen, mittel- bis langfristig aber genau die richtige Medizin, um eine »Wirtschaftswende« in Deutschland in Gang zu bringen. Doch selbst wenn die üblichen FDP-nahestehenden Ökonomen und die liberale Wirtschaftspresse Lindner und Co. in dieser Auffassung bekräftigen, muss man ihr widersprechen. Einerseits gehen die vorgeschlagenen Lösungen an den Problemen der deutschen Wirtschaft vorbei. Andererseits würden die Vorschläge, selbst wenn sie im Rahmen einer neuen »Agenda 2010« umgesetzt würden, in einem völlig anderen Kontext stattfinden als die schröderschen Reformen – die viele Probleme verursacht und sogar vertieft haben, mit welchen die deutsche Wirtschaft sich heute herumschlagen muss.

Was umfasst »Wirtschaftswende«?

Mit dem Begriff der »Wirtschaftswende« knüpft die FDP bewusst an historische Vorbilder an, insbesondere an den Bruch der sozialliberalen Koalition 1982 und die anschließende sogenannte »geistig-moralische Wende« der 1980er-Jahre, als unter Helmut Kohl eine neoliberale Reformagenda durchgesetzt wurde. Wirtschaftspolitisch werden in dem Lindner-Papier drei Handlungsfelder identifiziert: »Neue Dynamik entfesseln«, »europäische Klimapolitik statt deutschem Sonderweg« und »Mobilisierung des Arbeitsmarkts«.

Beim ersten Handlungsfeld, der »Entfesselung« der Wirtschaft 1 Ein Begriff, der suggeriert, dass irgendwelche Kräfte des Staates die Wirtschaft mit aller Macht hemmen. , setzt die FDP ganz auf Bürokratieabbau. Es soll ein Moratorium zum Stopp aller neuen Regulierungen geben. Berichtspflichten müssen ausgesetzt werden, der Soli soll abgeschafft und die Körperschaftssteuer gesenkt werden. Das Risikokapital soll gefördert werden. Kein Wort verliert die Partei über die bröckelnde Infrastruktur. Kein Wort über die Nachwirkungen der Energiekrise, die zu hohen Reallohnverlusten führte und die mit dafür verantwortlich ist, dass der private Konsum stagniert. Kein Wort zu den gegebenen Investitionsbedarfen oder zur Geldpolitik. Auch kein Wort zur fehlenden, strategischen Ausrichtung des Staates, die den Unternehmen mehr Planungssicherheit bieten würde. Zur »Entfesselung« der Dynamik glauben die Wirtschaftsexperten der FDP offenbar schlicht, dass die Unternehmen unabhängig von der Entwicklung der Auftragslage wie verrückt investieren werden – sofern sie nur weniger Zettel ausfüllen müssen. 

Im Bereich der Klimapolitik sollten die Sektorzieleabgeschafft werden, ebenso wie klimapolitische Subventionen. Der Emissionshandel soll als marktbasierte Lösung für die Transformation sorgen. Wie neue Technologien ohne Subventionen zur Marktreife geführt werden sollen, bleibt jedoch ein Geheimnis. Genauso wenig verlieren die Liberalen ein Wort darüber, wie die alternativen Produktionsmethoden und Produkte entstehen sollen, sofern die »Bestrafung« über höhere Preise das einzige Anreizinstrument bleibt. Ein Blick in die USA und nach China hätte vor Augen geführt, dass ein zeitgemäßer wirtschaftspolitischer Ansatz in erheblichem Maße auch auf die »Belohnung« zur Entwicklung neuer Technologien setzen muss – sei es über gezielte Steuervorteile oder andere Formen der Subventionen. Mit dem Wirtschaftswende-Papier mag man ordoliberale Schönheitswettbewerbe gewinnen, in der Entwicklung neuer Schlüsseltechnologien wird man damit aber nicht weit kommen.

Zur »Mobilisierung des Arbeitsmarkts« sind Lindner und der FDP wiederum nur Spitzen gegen das Bürgergeld, die Forderung nach mehr »Flexibilität« (ein späteres Renteneintrittsalter zum Beispiel) und eine Eindämmung des Anstiegs der Sozialversicherungsbeiträge eingefallen. Gerade angesichts der Risse, die sich nun auf dem deutschen Arbeitsmarkt abzeichnen, wo die Zahl der offenen Stellen zurückgeht und die Zahl der Arbeitslosen steigt, bleibt die FDP auch hier seriöse Antworten schuldig. Das Einzige, was sie zur Lage zu sagen hat, ist, dass man einer steigenden Arbeitslosigkeit am besten durch »mehr Arbeit« entgegentritt.

Einfach »Wachstum« sagen bringt kein Wachstum

Die deutsche Wirtschaft leidet unzweifelhaft an strukturellen und konjunkturellen Problemen. Die heutige Nachfrageschwäche kann angesichts der Entwicklung des Konsums sowie der Auftragseingänge bei den Unternehmen nicht mehr schöngeredet werden. Strukturell reicht schon eine Bahnfahrt (wenn die Bahn denn fährt…), um festzustellen, wo es in Deutschland hakt. Das Rückgrat einer funktionierenden Volkswirtschaft – nämlich die Infrastruktur – ist in desolatem Zustand. Haushalte und Unternehmen müssen auf Schienen, Brücken und Straßen zurückgreifen, die marode sind. Genau so wenig können sie von digitalen Technologien und Dienstleistungen profitieren, weil die dafür notwendige Infrastruktur nicht ausgebaut ist. Auch am Humankapital der Zukunft wurde und wird in Deutschland gespart – in den Schulen fehlt es an Lehrpersonal, während die Schul- und Universitätsgebäude gelegentlich damit Schlagzeilen machen, dass die Decken einstürzen. Ganz oft auf Wachstum zu verweisen, wie es die FDP tut, führt zu nichts, wenn es dem Grundgerüst einer Wirtschaft an Substanz mangelt. Allein auf kommunaler Ebene werden die Investitionsdefizite auf 186 Milliarden Euro beziffert. 29 Prozent davon entfällt auf Schulen, 26 Prozent auf Straßen. Mehr als die Hälfte der Kommunen gibt an, notwendige Projekte nicht anzugehen, da die Eigenmittel fehlen – und die Politik der FDP, deren pauschale Steuergeschenke bekanntlich in erster Linie in die Taschen der Länder und Kommunen greifen, würde die Situation nur verschlimmern. 

Für die Zukunftsinvestitionen wiederum fehlt in der vielzitierten »Wirtschaftswende« ebenfalls die zündende Idee, wie die Bedarfe gedeckt werden sollen. Dabei zeigt mittlerweile jede Studie, dass die Bedarfe gigantisch sind: der Bundesverband der Industrie (BDI) beziffert die Mehrbedarfe bis 2030 auf 1,4 Billionen Euro (457 Milliarden davon öffentlich). Das IW und IMK schätzen die zusätzlichen öffentlichen Investitionsbedarfe über die kommenden 10 Jahre auf 600 Milliarden Euro. Das Dezernat Zukunft wiederum kommt auf 782 Milliarden Euro an zusätzlichen öffentlichen Geldern bis 2030. 

Wie man es auch dreht und wendet: eine Partei, die Antworten auf die drängendsten ökonomischen Herausforderungen des Landes geben möchte, wird um diese Investitionsbedarfe nicht herumkommen. Bürokratieabbau und weitläufige Steuersenkungen, was das Programm der FDP kurz zusammenfasst, geht an diesen Herausforderungen vorbei – ganz abgesehen davon, dass der Bürokratieabbau selbst auch mit erhöhten Investitionen (z.B. in die Digitalisierung der Behörden und Prozesse) und teils mit mehr Personal in den Ämtern einhergeht.

Die Wirtschaftswende, die keine ist

Stellt man die wirtschaftlichen Herausforderungen auf die eine Seite und die Antworten der FDP auf die andere, so stellt sich heraus, dass die »Wirtschaftswende« mehr Schein als Sein ist. Sie basiert auf einem veralteten wirtschaftspolitischen Paradigma, das weder den aktuellen Herausforderungen gerecht wird noch eine zukunftsfähige Perspektive bietet. Statt Lösungen für die drängendsten Probleme wie Investitionsstau, demografischer Wandel und Klimakrise zu entwickeln, setzt die FDP auf eine Wirtschaftspolitik, die die bestehenden Defizite nur verschärft. Die tatsächlichen Wachstumsimpulse aus ihren Forderungen im Rahmen der »Wirtschaftswende« dürften dagegen bei null liegen.

Wahrscheinlich liegt der Charme und die »Attraktivität« der Vorschläge nur in den Erinnerungen an die Agenda 2010, die wach gerufen werden. Den oft erhobenen Forderungen, man bräuchte ein ähnliches Reformprogramm für Deutschland, fehlt jedoch der Bezug zur Weltlage und zu den Auswirkungen der Reformen auf die Handelspartner. So liegt der deutsche Leistungsbilanzüberschuss (2023) bereits bei 6 Prozent. Bei dieser Ausgangslage stellt sich die Frage, wie viel mehr man seine Handelspartner mit »mehr Wettbewerbsfähigkeit« noch in Grund und Boden konkurrieren will? 

Die Hoffnung darauf, dass Impulse aus dem Ausland die deutsche Wirtschaft wieder aus der Patsche helfen, dürften an der Gemengelage in Europa und der Welt scheitern. Einerseits stehen den Überschüssen in Deutschland nämlich Defizite des Auslands in exakt derselben Höhe gegenüber, andererseits sind die Spielräume für eine weitere Verschuldung im Ausland begrenzt. In Europa regiert wieder der Zwang zur Konsolidierung, sodass eine höhere Verschuldung gegenüber Deutschland – deutsche Überschuss bedeuten Defizite europäischer Handelspartner – politische Sprengkraft birgt. In Ländern, in welchen ein höherer Spielraum vorhanden wäre, wie in den USA, sind die Leistungsbilanzdefizite bereits seit Jahrzehnten ein Politikum. Unter Donald Trump könnte es nun aber ernst werden, denn der angehende Präsident hat bereits mit Zöllen gedroht – und in der Vergangenheit lag Deutschland mit seinen hohen Überschüssen im Fadenkreuz seiner Kritik.

Doch selbst wenn die USA und Europa weiterhin das Schuldenmachen für Deutschland übernehmen, wäre es fraglich, wie nachhaltig ein solches Modell ist. Hohe Leistungsbilanzungleichgewichte gehen mit zunehmender finanzieller Instabilität einher. Nicht umsonst bezeichnete der damalige Chefökonom des IWF, Maurice Obstfeld, die Leistungsbilanzungleichgewichte im Jahr 2018 als »eine mittelfristige Bedrohung der globalen Finanzstabilität« und gab Deutschland eine Mitschuld am aufkommenden Handelskrieg. Auch aus deutscher Sicht sind langanhaltende Überschüsse problematisch, denn einerseits gerät die Zahlungsfähigkeit der ausländischen Schuldner immer mehr infrage, je mehr die Handelspartner sich verschulden müssen. Andererseits schafft es enorme Abhängigkeiten von ausländischer Nachfrage, was die politischen Handlungsspielräume einschränkt. Wenn neuerliche Impulse aus dem Ausland nicht zu erwarten sind – weder von Europa noch aus den USA oder China, wo der Nachfrageboom nach deutschen Investitionsgütern nach der Finanzkrise Deutschland aus der Klemme half – sind die wirtschaftspolitischen Optionen rar gesät. Vor allem wenn man sich Impulse aus der deutschen Binnenwirtschaft verbaut.

Denn gerade die Binnenwirtschaft würde im Zuge einer neuen Agenda im Stile Gerhard Schröders weiter geschwächt werden. Der Druck auf die Löhne verschärft die Konsumflaute und Altersarmut 2 niedrige Löhne sind gleichbedeutend mit niedrigen Einzahlungen in die Rentenkassen , befeuert eine weitere Spaltung der Gesellschaft und schafft so einen idealen Nährboden für den Rechtspopulismus. Solange das Klientel der FDP damit auf kurze Sicht gedient sein mag, ist die Partei sicher willens, für eine solche Politik weiter Werbung zu machen. Langfristig hat dieses Programm aber weder etwas mit Wachstum noch mit nachhaltiger und dynamischer Entwicklung zu tun.

Wer Wachstum will, darf nicht FDP wählen

Das Framing »wir wollen Wachstum, die anderen blockieren!« der FDP sollte angesichts dessen, was im Wirtschaftswendepapier gefordert wird, als das anerkannt werden, was es ist: eine Nebelkerze ohne Antwort auf die drängenden Herausforderungen unserer Zeit. Dass sich einige Lobbyverbände wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) oder die Familienunternehmer (ein Lobbyverband für die reichsten 1 Prozent) hinter dieses Papier gestellt haben, ändert ebenso wenig an dieser Tatsache, dass es bei einigen lobbynahen Ökonominnen und Ökonomen auf so große Begeisterung stieß. Wer Wachstum beziehungsweise (als Nicht-Milliardär) eine verbesserte materielle Grundlage für sich und den Großteil der Gesellschaft will, sollte die FDP scheuen wie der Teufel das Weihwasser – unabhängig von der demokratieschädigenden und peinlichen D-Day Aktion. Bis zur Bundestagswahl wird hoffentlich noch breiter diskutiert werden, dass die FDP nicht nur aufgrund ihres Verhaltens nicht ins Parlament gehört, sondern idealerweise auch, weil ihre »Antworten« auf die wichtigen ökonomischen Herausforderungen ein aus der Zeit gefallener Marktfundamentalismus ist, der der deutschen und europäischen Wirtschaft einen ungeheuren Schaden zufügen würde.