Zurück zur Utopie: Elon Musk, Karl Mannheim und die Krise des Liberalismus
Die Gegenwartsdiagnose von der Erschöpfung des Liberalismus stellt vor fast 100 Jahren Karl Mannheim auch für seine Gegenwart. Seine Analyse lohnt eine Relektüre – auch weil sie helfen kann, der libertär-autoritären Okkupation der liberalen Tradition entgegenzutreten.
Ob Elon Musk ein Faschist sei – diese Frage geht der aggressiven Parteinahme Musks für die AfD lange voraus. Wo sie öffentlich gestellt oder in die ein oder andere Richtung hin beantwortet wird, gilt sie meist ohnehin nicht ihm persönlich, sondern ihm als Sprachrohr und Heilsfigur eines diffusen E-Komplexes von (Tech-)Unternehmern und Meinungsmachern, die sich in der Fundamentalopposition gegen ein »links-sozialistisch-wokes« Establishment zusammengeschlossen haben. Es gibt noch andere Begriffe als jener des »Faschismus«, mit denen die Programmatik dieser Fundamentalopposition zu greifen versucht wird: »libertärer Autoritarismus« zum Beispiel. In der Regel aber werden diese neuen Begriffsangebote noch flankiert und verstärkt vom »Faschismus«-Begriff – der von den so Benannten eifrig zurückgespielt wird: »faschistisch« ist auch im Musk-Kosmos der Anwurf der Wahl gegen die Gegner.
»Faschismus« ist ein Kampfbegriff, und im geographischen und normativen Westen der Kampfbegriff einer Sprecherposition, die sich als liberal versteht: Der »Faschist« ist der Anti-Liberale. Der Kampf wiederum, der gegenwärtig mit diesem Begriff ausgetragen wird, ist einer um dem Liberalismus: Elon Musk persönlich und seine Anhänger beanspruchen für sich politische Legitimität und moralische Autorität mit der Behauptung, die wahre Erben der liberalen Tradition zu sein. Es ist bemerkenswert, dass der Widerspruch zu dieser Aneignung – trotz aller argumentativen Schwächen und hermeneutischen Fehler, mit denen dieselbe erfolgt – weit stärker über den Faschismus-Begriff geschieht als über eine affirmative Erzählung des Liberalismus, die aus sich heraus Überzeugungskraft gewinnt. Die Diagnose der Krise des Liberalismus als politisches und moralisches Projekt scheint hier eine weitere Bestätigung zu finden: Wo nur noch ex negativo über den Liberalismus gesprochen werden kann, muss eine tiefe Verunsicherung über seine Überzeugungskraft vorliegen.
Karl Mannheim und der Liberalismus
Welchen Weg gibt es aus dieser Krise? Dieselbe Frage, ausgehend ebenfalls vom »Faschismus«-Begriff, stellte bereits Mitte der 1920er Jahre Karl Mannheim in »Ideologie und Utopie«. Er ist zu diesem Zeitpunkt bereits Augenzeuge der Errichtung und Niederschlagung der kurzlebigen ungarischen Räterepublik geworden, in die sein akademischer Mentor Georg Lukacs politisch involviert war; er ist nach Deutschland emigriert und wird hier die Destabilisierung der Weimarer Republik miterleben. Die politischen Unruhen der Zwischenkriegszeit sind für Mannheim das Symptom einer großen intellektuellen Krise der modernen Welt, die er in »Ideologie und Utopie« als eine Krise des Liberalismus erschließt. Mannheim eignet sich den Begriff des Liberalismus zwar zu diesem Zeitpunkt seines intellektuellen Schaffens 1 Zu Mannheims intellektueller Biographie vgl. Reinhard Laube: Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Göttingen 2004, Ders.:‚Historicization and Sociology of Knowledge‘, in: The Anthem Companion to Karl Mannheim, ed. V. Meja and D. Kettler (London and New York: 2017), S. 137–152 and Reinhard Blomert: Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit, München 1999. noch nicht positiv an: Im geschichtsphilosophischen Subtext von »Ideologie und Utopie« steht der Liberalismus am Beginn einer dialektischen Fortschrittsgeschichte, die im Sozialismus als Synthese von Liberalismus und dem ihm als Widerstreiter erwachsenden Konservatismus einen vorläufigen Höhepunkt findet. 2 Vgl. Mannheim 2015, S. 108-116. Mannheim definiert den Sozialismus allerdings solchermaßen, dass er als post-liberal im besten Sinne erscheint: Als Liberalismus, bereinigt um jene Elemente seiner historischen Wirklichkeit, die Liberale blind machten für die materiellen Bedingungen ihres Freiheit-Ideals bzw. die einer Rechtfertigung ungerechter ökonomischer Verhältnisse dienten. Mannheim ist ein Liberaler: überzeugt, dass kein Fortschritt möglich ist ohne die liberale Tradition und dass Fortschritt im emanzipatorischen Sinne der Befreiung zur Freiheit eine moralische Aufgabe der Menschheit ist.
Carlotta Voß
Aus der Krise durch die Krise
»Ideologie und Utopie« lässt sich als Analyse anti-liberaler Kipppunkte der Moderne lesen und als solche hat das Werk erhebliches Aktualisierungspotential. Schlüsselpunkt der Analyse ist der »Faschismus«-Begriff: Durch ihn vermittelt begründet Karl Mannheim den Auftrag, der Krise der liberalen Welt mit intellektueller Selbstdisziplin, denkend, zu begegnen.
Mannheims halb soziologische, halb phänomenologische Untersuchung des Faschismus steht am Ende einer Reihe: Ihr voran geht die Analyse der drei großen »-ismen« bzw. sozial-politischen Weltperspektiven und Denksystemen bzw. Ideologien und Utopien (bzw. in Mannheims geschichtsphilosophischer Konzeption auch: »Stufen«) der Moderne, nämlich Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus. Mannheim bringt sie in den Vergleich und in den Zusammenhang, indem er sie in eine Matrix einordnet, die das jeweilige Verständnis von politisch-historischem Wandel und Geschichte entlang der Kategorien von »Rationalität« und »Irrationalität« abbilden soll. Ein liberales Verständnis von politischem Wandel als Resultat der Umsetzung von diskursiv erlangtem Erkenntnisfortschritt, in dessen Verlauf alles »Irrationale« im gesellschaftlichen Leben sukzessive rational durchdrungen werden kann, steht in dieser Logik dem Konservatismus gegenüber, der das »Irrationale« im Sinne hier nicht von unvernünftigen, sondern übervernünftigen Kräften als Triebkraft der Geschichte erkennt und entsprechend als großen Staatsmann jenen versteht, der mit Instinkt und Tugend das Gebot der Stunde zu erkennen vermag. 3 Ebenda, S. 104-108. Als Gegensatz zwischen »planmäßigem Machen und Wachsenlassen« in der Konzeption von Fortschritt bringt Mannheim das Verhältnis von Konservatismus und Liberalismus auf den Punkt. 4 Ebenda, S. 105.
Seiner Analyse des Faschismus stellt Mannheim die Vorbemerkung einer doppelten Schwierigkeit voran: Zum einen sei der Faschismus noch »im Werden begriffen«, zum anderen lege er »keinen besonderen Wert auf eine einheitlich durchgestaltete Theorie«, ändere entsprechend sein Gesicht gemäß der Notwendigkeiten des Tages. 5 Ebenda, S. 117. Das Amorphe ist für Mannheim folglich ein Wesenszug des Faschismus und diesen Wesenszug erklärt er soziologisch: Der Faschismus, so schreibt er, sei eine Elitenideologie, genauer: die Ideologie einer Elite, die unter dem Eindruck steht, weniger politische Macht zu haben, als ihr zustünde. Anders als den anderen »-ismen« fehlt dem Faschismus ein gesellschaftspolitisches Programm, eine Utopie: Er wolle nicht »eine andere Welt und Sozialordnung an Stelle der vorhandenen setzen, sondern innerhalb der vorhandenen Klassenordnung eine herrschende Schicht durch eine andere ersetzen«. 6 Ebenda, S. 127. Als Beleg für diese These führt Mannheim exemplarisch ein Zitat Mussolinis an, nach dem mit ihm „die wirkliche Geschichte vom Kapitalismus“ erst beginne. Seine Rhetorik sei die Rhetorik der Selbstvergewisserung dieser umstürzlerischen Elite; eine breite Anhängerschaft finde er in jenen historisch-politischen Situationen, die der Entstehung einer »Masse« günstig seien 7 Ebenda, S. 125. :
Im Prozeß der Transformation der modernen Gesellschaft gibt es […] Perioden, in denen die durch das Bürgertum geschaffenen Apparaturen zur Fortführung des Klassenkampfes (z.B. der Parlamentarismus) nicht ausreichen, wo der evolutionäre Weg zeitweise versagt, in denen offene Krise entstehen, die Klassenschichtung in Verwirrung gerät, das Klassenbewusstsein der kämpfenden Schichten sich verdunkelt, in denen es deshalb leicht zu momentanen Bildungen kommen kann und die Masse entsteht, nachdem der einzelne seine organische oder klassenmäßige Orientierung verloren hat.
Faschismus als Theorie der Geschichtslosigkeit
Disproportional zu seiner inhaltlichen Leere ist in Mannheims Konzeption des Faschismus dessen Rhetorik und Ästhetik: Der Faschismus erhebt Disruption, Revolution, Kampf, Umsturz zum Prinzip; er hypostasiert die »historische Zeitlichkeit durchbrechende(n) Tat« 8 Ebenda, S. 119. des großen Führers. Er sei insofern »aktivistisch und irrationalistisch« 9 Ebenda, S. 116 : Legitimation hat jener, der Tatsachen hat schaffen können. Zu diesem Zweck freilich schätzt der Faschist bei Mannheim das Wissen vom Menschen in Form der Sozialpsychologie, die Manipulation erlaubt: Die Gleichzeitigkeit von tiefer Wissenschaftsfeindlichkeit, insbesondere gegenüber den Geisteswissenschaften, einerseits – »der Mensch handelt hier [im Faschismus], obschon er denkt« – 10 Ebenda, S. 126. , und dem Faible für eine »formalistische Sozialmechanik« 11 Ebenda, S. 120. , für Positivismus andererseits, steht im Zentrum von Mannheims Analyse des Faschismus und mittels ihrer weist er diesen als genuin modern aus.
Dass der Faschist rhetorisch und ästhetisch gerne Anleihen bei der Geschichte nimmt – z.B. am »Römischen Reich« 12 Ebenda. – darf, insistiert Mannheim, nicht darüber hinwegtäuschen, sondern muss gerade als Beweis dafür verstanden werden, dass es sich bei dem Faschismus wesentlich um eine »Theorie der Geschichtslosigkeit« 13 Ebenda. handelt: um die Negation von Geschichte als Sinnzusammenhang und kritischem Maßstab und von historischer Bedingtheit (und damit vom Wert historischer Erkenntnis). Geschichte interessiert den Faschisten nur als Kostümkiste und Mythenreservoir, aus der er sich willkürlich bedient, um jene zu manipulieren, die für ihn nicht Subjekte mit freiem Willen sind, sondern eine triebgesteuerte Masse. Die fundamentale Differenz von Faschismus einerseits und Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus andererseits steht für Mannheim damit fest: Die drei letztgenannten »-ismen« sind in seiner Analyse verbunden in der Überzeugung, dass es »Geschichte« als sinnhaftes Geschehen und potentielles emanzipatorisches Fortschrittsgeschehen gibt und dass die eigene Gegenwart als historischer Standpunkt verstanden werden muss. Mit Mannheims eigener Logik könnten wir sagen: Alle drei beziehen sich positiv auf eine liberale Tradition. Der Faschismus verwirft diese liberale Idee (die für Mannheim auch eine geschichtsphilosophische Wahrheit ist): Er ist programmatisch anti-liberal. 14 Vgl. Ebenda, S. 119: »All das, was die Konservativen, den Liberalismus, den Sozialismus verbindet, ist die Voraussetzung, dass in der Geschichte ein Zusammenhang der Ereignisse und Gestaltungen aufweisbar ist, wodruch alles mehr oder minder einen Stellenwert in der Geschichte hat, weswegen auch nicht alles immer möglich ist. Vom Facismus aus aber erscheint dann auch jede Geschichtsauffassung als pure Konstruktion, Fiktion, die es zugunsten der die historische Zeitlichkeit durchbrechenden Tat abzubauen gilt.«
Die faschistische Rhetorik von Elon Musk
Mannheims Phänomenologie des Faschismus liest sich über lange Strecken wie eine Beschreibung der Rhetorik und des Gebarens von Elon Musk und seinen Anhängern. Wir finden auch hier die frenetische Feier der Disruption, der »die historische Zeitlichkeit durchbrechenden Tat«. Wir finden die Gegenüberstellung von »Masse« und »großen Führern«, deren Führungsanspruch durch Instinkt, Mut und Genius gerechtfertigt wird (Elon Musk selbst führt gerne seinen Autismus als die vermeintliche wissenschaftliche Evidenz dafür an, dass er alles drei vereint). Wir finden bei Musk und seinen Anhängern die Gleichzeitigkeit einer Faszination für Sozialpsychologie und aggressive (Geistes-)Wissenschaftsfeindlichkeit (»woke mind virus«! »Elfenbeinturm«!). Wir finden martialische Rhetorik und viel Ancient-Rome-Fandom: Die KI-generierten Bilder der Mars-Kolonie, die SpaceX als Unternehmensziel ausgibt, muten zum Teil an wie ein Collage von »Rome Total War« und »Star-Trek«; Elon Musk persönlich empfahl zuletzt die Lektüre von Cäsars »Gallischem Krieg« (außerdem auf seiner Leseliste: die »Ilias« und, natürlich, Ernst Jüngers »In Stahlgewittern«) und der X-Account »Elon Musk Book Club« legt Edward Gibbons »The History of the Decline and Fall of the Roman Empire« nahe. Der Impetus dieser historischen Privat-Forschungen scheint jeweils nicht ein Interesse an Geschichte als Gesamtzusammenhang, sondern Geschmack am (vermeintlich) Heroischen und die Hoffnung auf Inspiration.
Auch Mannheims soziologische Analyse des Faschismus trägt in ihren Grundzügen – liest man zwischen den Zeilen ihres klassenkämpferischen Überschwangs – noch für ein Verständnis des Musk’schen Ideologie: Dessen zentrale Proponenten sind, so wie Mannheim es am Faschismus seiner Zeit feststellt, Angehörige einer Elite: Musk und viele seiner Unterstützer im internationalen und deutschen Kontext gleichermaßen haben einen hohen formalen Bildungsabschluss, zum Teil große Fachkompetenz und/oder große wirtschaftliche Macht – nicht aber die kulturelle Macht, und politische Macht nur in einem Maße, von dem sie meinen, dass es im Verhältnis zur ihrer Leistung und Kompetenz nicht adäquat ist. Folgerichtig zielen die Salven der Gegenwartskritik, die aus dem Musk’schen Bannkreis gefeuert werden, nicht auf Strukturen eines Systems, sondern ad personam auf all jene, die als Inhaber kultureller und politischer Macht identifiziert werden: das Establishment in der Verwaltung, in den politischen Parteien, in den »legacy media«, im Elfenbeinturm, an den Lehrstühlen. Nach innen werden die Reihen durch eine Selbstlegitimierung mittels sozialdarwinistischer Ideen und Genius-Gehabe geschlossen, wobei letzteres gerne wissenschaftlich verbrämt daherkommt: »high IQ« und Neurodivergenzen von Autismus bis ADHS gelten den Musk-Anhängern als faktische Evidenz für Genialität und einen legitimen politischen Führungsanspruch gleichermaßen. Die Unterstützung für Musk und seinen Herrschaftsanspruch wiederum durch jene, die selbst zu keiner Elite gehören und mehr oder weniger ausdrücklich von jenem verachtet und verhöhnt werden, ist auch noch mit Mannheim zu erklären: über die Erfahrung zementierter ökonomischer Ungleichheit und die Erschöpfung des Fortschrittsversprechens.
Der Ur-Utopie des Liberalismus
Mannheim bietet aber nicht nur eine soziologische, sondern auch eine historische und geschichtsphilosophische Erklärung des Faschismus an. Sie findet sich im 4. Kapitel von »Ideologie und Utopie«, in dem Mannheim die Fragen, die er zuvor vom »Ideologie«-Begriff her in den Blick genommen hat, noch einmal mittels des »Utopie«-Begriffs durchdenkt.
Eine »Utopie« ist in Mannheims Definition eine »wirklichkeitstranszendente Orientierung« 15 Ebenda, S. 169. bzw. »seinstranszendente Vorstellung« mit transformativer Kraft: Was »utopisch« ist, zielt für ihn auf die Umwälzung einer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und muss darin auch tatsächlich erfolgreich gewesen sein (dem Begriff der »Utopie« ist für Mannheim insofern immer auch ein historisches Urteil zentral). 16 Ebenda, S. 178f. Es ergibt sich aus dieser Definition, dass die Utopie im engeren Sinne für Mannheim eine genuin moderne Erscheinung ist: Sie setzt ein kollektives Bewusstsein für die Gestaltbarkeit von Welt und Gesellschaft, sie setzt einen liberalen Geschichtsbegriff voraus. Wenn Mannheim im Anschluss an seine Begriffsdefinitionsarbeit dazu übergeht, in Analogie zum Ideologie-Kapitel idealtypisch die formativen Utopien der Moderne zu charakterisieren – und zwar sowohl über einen systematischen als auch über einen ideengeschichtlichen Zugang –, steht folgerichtig die »liberal-humanitäre Idee« am Beginn. Sie ist bei Mannheim gewissermaßen eine Ur-Utopie und Meta-Utopie zugleich, insofern sie – in seiner Deutung – in den regulativen Idealen von Vernunft, Freiheit, Persönlichkeit und Fortschritt liegt.
Die Utopielosigkeit des Faschismus
Ebenso folgerichtig beschreibt Mannheim keine Utopie des Faschismus: Im Ideologiekapitel hat er den Faschismus darüber charakterisiert, dass dieser weder einen Begriff von Geschichte als Sinnzusammenhang hat noch die Idee des freien Willens akzeptiert. Entsprechend kann der Faschismus keinen utopischen Gehalt in Mannheims Sinne haben: Er ist nie transformativ, sondern immer eine leere Geste von Disruption, eine Simulation von Zukunft. Dass er gerade darum ein Gegenwartsphänomen ist – das ist die implizite These von Mannheims Utopie-Aufsatz, die sich freilich nur erschließt, wenn man ihn mit dem Ideologie-Kapitel zusammenliest. Nachdem er die Genese der liberalen Utopie (und die konservative Reaktion auf sie wie auch die Entwicklung der sozialistischen Utopie aus ihr) nachgezeichnet hat, bietet er nämlich eine Gegenwartsdiagnose an, in deren Kern die These eines »Endes der Geschichte« als kollektiver Verlust eines qualitativen und kritischen Geschichtsbegriffs steht.
Mannheim findet für diese Gegenwart – die in seiner Beschreibung stark an Diagnosen unserer Gegenwart erinnern, die unter der These stehen: »Der Liberalismus hat sich zu Tode gesiegt« – die Metapher der »Trockenheit«, in Anlehnung an ein Zitat Gottfried Kellers: »Der Freiheit letzter Sieg wird ein trockener sein«. 17 Ebenda, S. 216. Trocken meint hier: bar der Utopien im Politischen, der »Seinstranszendenz«, des Willens zur Geschichte als moralische Menschheitsaufgabe. An diesem »Ende der Geschichte« gibt es für Mannheim Politik als Ort der Freiheit und Befreiung nicht mehr, sondern nur noch als Verwaltung »technisch-organisatorischer Probleme«. 18 Ebenda, S. 219.
Mannheim identifiziert zwei Ursachen dieser Entwicklung. Einerseits: Den Relativismus, das Bedingtheitsbewusstsein, die »Krise des Absoluten«, das der Kampf der Ideologien gezeitigt habe und das jeder Utopie ihre mobilisierende Kraft nehme. Andererseits: Die liberale Ordnung, in der die ökonomische Ungleichheit so stark durch politische Repräsentation eingehegt sei, dass die »utopische Zielstrebigkeit« der unterdrückten Schichten zerbröckle. 19 Ebenda, S. 216.
Mannheim lässt zunächst offen, ob dieser Zustand der Trockenheit als »Krise« verstanden werden muss. Vielleicht, schreibt er – und intoniert dabei streckenweise den abgeklärt-defensiv bis melancholischen Ton, den Samuel Moyn zuletzt am »Kalter-Kriegs-Liberalismus« aufgewiesen hat – , ist unsere Welt tatsächlich »am Ziele«, das Bestmögliche erreicht; ab jetzt kann und sollte es nur noch um Verwaltung und mittelfristige Ziele gehen. 20 Vgl. Ebenda, S.128-220. Er lässt diesen Gedanken kurz in der Luft hängen, aber dann hält er ihm, mit den letzten Sätzen des Utopie-Kapitels, eine energische Gegenrede entgegen. Sie ist zugleich ein Bekenntnis zu der Überzeugung, dass hinter die liberale Utopie nicht zurückgegangen werden darf und kann, wenn wir an der Idee des Menschen als Person mit Würde und als Subjekt der Geschichte festhalten wollen 21 Ebenda, S.225. :
Für die Zukunft ergibt sich daraus, dass eine absolute Ideologie- und Utopielosigkeit prinzipiell zwar möglich ist in einer Welt, die gleichsam mit sich fertig geworden ist und sich stets nur reproduziert, dass aber die völlige Destruktion der Seinstranszendenz in unserer Welt zu einer Sachlichkeit führt, an der der menschliche Wille zugrundegeht […]. Das Verschwinden der Utopie bringt eine statische Sachlichkeit zustande, in der der Mensch selbst zur Sache wird. Es entstünde die größte Paradoxie, die denkbar ist, dass nämlich der Mensch der rationalsten Selbstbeherrschung zum Menschen der Triebe wird, dass der Mensch […] mit dem Aufgehen der verschiedenen Gestalten der Utopie den Willen zur Geschichte und damit den Blick in die Geschichte verliert.
Die neue »Sachlichkeit« der geschichtslosen Welt wird keinesfalls notwendig sachlich auch insofern sein, dass sie dauerhaft friedvoll ist – darauf weist die Analyse des Faschismus im Ideologie-Kapitel hin: Er ist in Mannheims Darstellung gleichsam der Geist der geschichtslosen Welt, insofern er die Geschichtslosigkeit zum politischen Programm erhebt. Wo aber der Mensch kein historisches Wesen mehr ist, ist er nur noch Triebwesen; wo die Gegenwart in keinem Verhältnis mehr zur Vergangenheit und zur Zukunft steht, gibt es keinen Fortschritt als politischen Auftrag, keine historische Verantwortung und keinen Standpunkt und Maßstab für eine Kritik der Gegenwart in ihrer historischen Kontingenz. Was in dieser verabsolutierten Gegenwart als gesellschaftliches Organisationsprinzip übrigbleibt, ist das Recht des Stärkeren; was von Politik übrigbleibt, ist Kampf und Manipulation. Einen Utopie-Ersatz wiederum, eine Transzendenz-Simulation, kann diese totalisierte Gegenwart nur noch auf dem Mars finden (in unserer Gegenwart jedenfalls, in der der Utopie-Ersatz der »Rassenreinheit« sich historisch überlebt hat).
Die wachsende »Trockenheit« der Moderne: Sie ist für Mannheim eine existenzielle »Krise« der liberalen Moderne. Und er lässt keinen Zweifel daran, dass sie nur im Festhalten an die liberale Utopie überwunden werden kann. Nur: Wie lässt diese sich wiederbeleben? Mannheim gibt darauf keine Antwort. Er erforscht die Krise, in der er sich weiß – als Krise nicht allein politischer und ökonomischer Natur, sondern als Krise des Denkens. Er benennt ihre größte Gefahr, den Untergang des modernen »Menschen«. Er bietet keine Lösung, er weist keinen Weg aus der Krise – aber er legt sich darauf fest, dass dieser Weg auch ein intellektueller sein muss, weil die Krise auch eine intellektuelle ist.
In Zeiten, in denen Denken und Handeln, intellektuelle Arbeit und Problemlösung wieder gegeneinandergestellt werden, in denen die disruptive Tat zum Prinzip und Kardinalsweg aus »der Krise« erklärt wird, sollten wir Mannheims Text als fortbestehenden Auftrag und als Ermunterung lesen: zu intellektueller Disziplin, zum Widerstand gegen einen leeren Aktionismus und zum »Willen zur Geschichte«, der sich im »Blick in die Geschichte« formt.
Literatur
Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. Mit einer Einleitung von Jürgen Kaube, Frankfurt a. M. 2015.