
Die Anthropologie des Eigennutzes
In Politik, Gesellschaft und Wissenschaft ist es selbstverständlich, sich auf die Interessen des Einzelnen zu berufen – ganz so, als handle es sich um eine anthropologische Konstante, über die nicht gestritten werden braucht. Im vierten Teil seiner Kolumne zeigt Daniel-Pascal Zorn, aus welchen historischen Kontroversen das Paradigma des Eigennutzes stammt und wer ihm schließlich zum Durchbruch verholfen hat.
»Der Mensch ist ein rationales, nutzenmaximierendes Individuum, das nach Durchsetzung seiner Interessen strebt« – wenige Thesen über den Menschen haben so weitreichende Konsequenzen gezeitigt wie diese. Sie ist so gut etabliert, dass sie vielen als selbstverständlich gilt. Die alltägliche Anschauung gibt ihnen Recht: Egoismus und Eigennützigkeit sind in der Tat allgegenwärtig. Alle anderen handeln egoistisch und wer es nicht tut, hat das Nachsehen. Doch die These vom eigennützigen Menschen ist nicht nur mit Blick auf alltägliche Erfahrung plausibel. Sie ist auch in der theoretischen Literatur überall zu finden. Als Figur des ›homo oeconomicus‹ ist sie eine grundlegende Annahme der Ökonomik, mit der diese menschliches Denken und Handeln modelliert. Die These ist Ausgangspunkt einflussreicher handlungstheoretischer und moralphilosophischer Theorien: Rational Choice Theory, Spieltheorie, Utilitarismus – sie alle gehen von einem Akteur aus, der seine eigenen Interessen verfolgt und nach rationalen Wegen sucht, sie durchzusetzen. Die eigennützige Einteilung der Welt macht alles andere zu einem Mittel für die eigenen Zwecke.
Das reicht so weit, dass manche den Eigennutz zu einer Art Lebenskunst erhöhen: Warum sollte man Bücher lesen, wenn man nicht weiß, welchen Nutzen man davon hat? Schließlich hat man nur begrenzt Zeit – und die will man optimal nutzen. Mit welchen Tricks bringt man andere dazu, das zu tun, was man von ihnen will? Ob Geschäfts- oder privater Partner – Zeit und Geld sind knappe Güter und wollen gut investiert sein. Was vor ein paar Jahrzehnten noch in Management-Ratgebern in der Bahnhofsbuchhandlung vor sich hin schimmelte, verbreitet sich heute in den Sozialen Netzwerken als Blaupause für Erfolg und ist besonders bei jungen Männern beliebt. Eine krude Mischung aus Recht des Stärkeren, sozialem Ellbogen, manipulativer Rhetorik und Küchenstrategie verspricht das Ende aller Unsicherheit und den Anfang von garantiertem Erfolg.
Verbunden wird die These vom rationalen, nutzenmaximierenden Individuum für gewöhnlich mit Adam Smith und seiner Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations von 1776, in der die »unsichtbare Hand« des Marktes dafür sorgt, dass die eigennützigen Interessen der Vielen zum Wohlstand aller beitragen. Doch Adam Smith ist Moralphilosoph und kein Management-Ratgeber: Die Inquiry setzt ein argumentatives Konzept um, das Smith in seiner Theory of Moral Sentiments entwickelt hat. Sie rechnet mit dem autoritären Staat des späten 18. Jh., nicht mit einer modernen Demokratie. Vor allem aber argumentiert Smith dialektisch: Die von ihm zunächst rational eingeführte Arbeitsteilung führt zu unvertretbaren Härten, wenn sie nicht mit einer »humanity« kombiniert wird: der Ausgestaltung der Arbeitswelt nach der Maßgabe der Erhaltung von Möglichkeiten, nicht ihrer Ausbeutung. Adam Smiths Forderung nach einem Ausgleich von Privat- und Gemeininteresse durch eine ethische Haltung ist zeitgenössisch. Sie verweist aber auch darauf, dass diese Forderung nach einem Ausgleich nötig wurde. Wo kommt also die Anthropologie des eigennützigen Menschen eigentlich her?

Daniel-Pascal Zorn
Schadenersatz und Eigennutz
Um diese Frage zu beantworten, muss man sich mit der Begriffsgeschichte des Begriffs »Interesse« beschäftigen. Die Vieldeutigkeit dieses Begriffs erklärt nämlich nicht nur seine polemischen Verwendungen im Lauf der Geschichte. Sie erklärt auch den eigentümlichen Anspruch, eine anthropologische Konstante zum Ausdruck zu bringen, die stets in Frage steht. Sie erklärt, reflexiv ausgedrückt, das Interesse daran, den Menschen auf »Interesse« zu reduzieren. Der verschlungene Weg des »Interesses« führt von der spanischen Mystik zum Moralismus des französischen Hochadels, von der antitheologischen Polemik der Materialisten zur englischen Moralphilosophie und Ökonomik. Dort geht das eigennützige Interesse in eine Anthropologie ein, die spätestens ab 1800 in den Regierungstechniken der autoritären liberalen Staaten vorausgesetzt wird.
»Interesse« kommt aus dem Lateinischen, wo die mehrdeutige Relation »inter-«, »zwischen« gleich mehrere Bedeutungen annimmt: Als Differenz von Zweien bedeutet es »zwischen«, »verschieden sein«; als Bezug des Subjekts auf sein Objekt wird es im Sinne von »dabei sein«, »teilnehmen« und, in der Qualifikation des Bezugs, im Sinne von »wichtig sein« verwendet. Beide Verwendungsweisen zeigen sich auch bei der Ableitung »interest«, das »es macht einen Unterschied« ebenso bedeuten kann wie »es ist von Wichtigkeit« 1 Orth 307 . Wichtig kann einem sein, was man erwartet, aber nicht bekommen hat – die Wendung »id quod interest« im römischen Recht steht für die Zuweisung eines Anspruchs auf Schadensersatz. »interest« bedeutet also im römischen Recht zunächst einfach »Schadensersatz«, im Sinne eines rechtlich einklagbaren Anspruches. In der mittelalterlichen Rechtssprache gewinnt dieser Sinn einen rhetorisch-taktischen Nutzen: »Um Zinsen nicht als ›usura‹ bezeichnen zu müssen, werden sie … unter das ›id quod interest‹ … gebracht und als ›interesse‹ bezeichnet. … Dass mit diesem Mittel das … kanonische Zinsverbot umgangen werden kann, wird von der Glosse ausdrücklich notiert.« Das Zinsverbot orientiert sich an der christlichen Moralvorstellung, die Wucher als sündhaft verwirft. Zinsen heißen »usura«, also »Gebrauch« oder auch »Genuss« und zeigen damit eben diesen sündhaften Anspruch an. Indem man sie mit »interest« als »Schadensersatz« betitelt, gibt man also einem moralisch verwerflichen Anspruch den Anschein einer zivilrechtlich selbstverständlichen Restitution. Diese Praxis ist so erfolgreich, dass »interest« bald mit »Zins« gleichgesetzt wird.
Mit dieser ersten Bedeutung von »interest« verbunden ist auch die zweite: der Eigennutzen. Wichtigkeit und Anteilnahme und Schadensersatzanspruch ermöglichen die Verwendung als Ausdruck für »(insbesondere materielle[n]) Nutzen, Vorteil, Profit, Gewinn«, für die »Gesamtheit all dessen, was jemandem nützt« 2 Fuchs Sp. 480 . Dieser Sinn wird in der Frühen Neuzeit auf zwei Bereiche übertragen, die in der Literatur zunehmend diskutiert werden: den Staat und das Individuum. Im Mikrokosmos der italienischen Stadtstaaten und ihrer Machtkämpfe beschreibt »interesse« den Konflikt zwischen Staats- und Privatinteresse. Es wird bis Mitte des 17. Jh. zum Analyse- und Kritikbegriff staatlicher Räson, prominent in England am Vorabend des Bürgerkriegs.
Bedeutsamer für die heutige Verwendung ist aber die Übertragung auf das Individuum. Dabei handelt es sich um den Einzelnen in einer dezidiert christlichen Ordnung, der sich von den sündhaften Anderen abgrenzen und in der Nachfolge Christi beweisen muss 3 Orth 319; Fuchs 481 . Die spanische Mystik zu Beginn des 16. Jh. als Teil der Restauration beklagt die kulturelle Dominanz der Geldwirtschaft, die den Juden und Muslimen zugeschrieben wird: »Liebe und Ehre«, schreibt der Trinitariermönch Alonso de Castrillo 1521, »sind vom Interesse, dem ›Señor de la mar y de la tierra‹ überwältigt worden.« 4 Vgl. Fuchs Sp. 481-482 Aus der spanischen Mystik wird der polemische Sinn in den Mainstream der jesuitischen Moraltheologie übertragen. In einflussreichen Traktaten der Schule von Salamanca – z. B. bei Domingo de Soto am Ende des 16. Jh. – findet sich beides, die Problematisierung des Geldwuchers und die Gegenübersetzung von »interesse« im Sinne von Eigennutz und einer uneigennützigen Gottesliebe. Die scholastische Festschreibung dieser Position bei der jesuitischen Avantgarde macht sie im folgenden Jahrhundert zum polemischen Gegenstand, vor allem in Frankreich.
Moralismus in Frankreich
Begriffsgeschichte verläuft nicht in idealen Bahnen über die Köpfe der Menschen hinweg. Sie ist vor allem die Geschichte des oft polemischen Gebrauchs von Begriffen. Der Begriff »Interesse« macht dabei keine Ausnahme. Im Frankreich der ersten Hälfte des 17. Jh. prägt er zentral eine polemische Diskussion, die eng mit der Auseinandersetzung von Adel und Königtum verbunden ist. Die Konfliktlinien sind unübersichtlich: sie verlaufen zwischen den Katholiken und den protestantischen Hugenotten, zwischen dem König bzw. seinen Ratgebern Richelieu und Mazarin und dem Papst, sowie zwischen dem Adel und dem König. Mit der katholischen Reaktion gegen die Hugenotten entsteht »ein rigoristisches, inquisitorisches Christentum […]; sie hat die Überwachung der Sitten und des Schrifttums meist einflussreicher Personen zum Ziel« 5 Grimm 148 . Der König und seine Ratgeber wollen, gegen die römische Kirche, eine französische katholische Staatskirche etablieren und die Macht des Königs in Richtung Absolutismus ausweiten – der Adel steht dagegen.
In dieser Gemengelage entstehen verschiedene moralistische Traditionen. Die erste ist ein – ebenfalls katholischer – ›humanisme dévot‹, eine vom Renaissance-Humanismus inspirierte Antwort auf protestantischen und katholischen Rigorismus gleichermaßen. Er predigt »eine heitere Frömmigkeit, die sich mit einer weltzugewandten Lebensführung verbinden lässt« 6 Grimm 148 . Zu ihren Autoren gehört Jean-Pierre Camus, der den Interessebegriff gegen die strenge jesuitische Alternative differenziert. Er versteht »›Interesse‹ als negative[n] intérét propre … und positive[n] intéret nôtre, welch letzterer auf Gott und das Verhältnis des Menschen zu ihm bezogen ist«. Die jesuitische Unterscheidung wird aufgenommen und verwandelt: Auch der Gottesbezug, so die Pointe, ist eine Form des Interesses. Diese Linie der theologischen Moralkritik wird in der zweiten Hälfte des 17. Jh. von François Fénelon fortgeführt, der den Begriff weiter entfaltet. Fénelon unterscheidet das natürliche Eigeninteresse, das den Menschen an einen Gegenstand bindet, von einem rein pragmatischen, an die Sache gebundenen Interesse, dem bloßen Nutzen. Beide Formen des Interesses werden überwunden von einer Gottesliebe, in der sich das Interesse gewissermaßen selbst einfängt: das Interesse an Gott wird zum Desinteresse an den Gegenständen, an die man sich gebunden hat.
Die zweite moralistische Tradition ist die des französischen Hochadels, der Mitte des 17. Jahrhunderts gegen die absolutistischen Neigungen des Königs opponiert. Ihre Autoren sind Höflinge, Salonlöwen, ehemalige Intreganten, die ihre abenteuerliche Biographie in moralisierenden Aphorismen zum Besten geben. Es handelt sich dabei nicht um ernsthafte Moralphilosophie, eher um eine »Art Gesellschaftsspiel«: Man »vertreibt … sich die Zeit damit, … Reflexionen … zu erfinden, die in prägnanter Form das Wesen des Menschen und sein Verhalten in der Gesellschaft erfassen« 7 Grimm 169 . Einer dieser ›Salonpiraten‹ ist François de La Rochefoucauld, der das höfische Ideal der ›Ehrbarkeit‹ aufs Korn nimmt: Die durchorchestrierten Umgangsformen der französischen Höflinge verbergen kalt kalkulierende Zwecksetzungen. La Rochefoucauld adressiert also das soziale Haifischbecken der Höflingskultur, keine allgemeine Gesellschaftstheorie. Der höfische Habitus, so La Rochefoucauld, ist von Eigenliebe und Heuchelei geprägt: »Liebe, Freundschaft, Treue, Tapferkeit, Opferbereitschaft, Güte sind … nichts anderes als die täuschende Außenseite eines allgegenwärtigen Selbsterhaltungstriebes, der in der streng hierarchischen höfischen Gesellschaft jedoch sorgfältig verborgen werden muss« 8 Grimm 169 .
Die dritte moralistische Tradition ist diejenige der Jansenisten, einer aus Holland nach Frankreich eingewanderten neuaugustinischen Bewegung. Die Jansenisten sind ein wenig wie katholische Calvinisten: sie vertreten eine Lehre der Vorherbestimmung, nach der nur wenige von Gott auserwählt sind. Der Philosoph Blaise Pascal ist einer ihrer herausragenden Vertreter; für ihn ist der Mensch hin- und hergerissen zwischen Gut und Böse, Vernunft und Unvernunft. Auch er fordert das Ideal der ›Ehrbarkeit‹ der französischen Höflinge heraus. Seine »Anthropologie [gründet] … auf einer genauen Beobachtung des ‚honnête homme‘, der seine Funktionslosigkeit im autoritären Staat durch gesellschaftliche Zerstreuung kompensiert.« 9 Grimm 150 Die Jansenisten sind die erklärten Gegner der Jesuiten, die den freien Willen des Menschen betonen. So rekrutiert sich auch die Anhängerschaft im französischen Bürgertum: Der fatalistische Jansenismus »findet vor allem in den Kreisen des Adels und des Parlamentsbürgertums Rückhalt«, die sich »durch die absolute Monarchie Ludwigs XIV. einer Art innerweltlicher Prädestination ausgeliefert« sehen. Die pragmatischeren Jesuiten haben ihre Anhänger im »Finanzbürgertum« und dem »vergnügungssüchtigen Adel, denen die Möglichkeit moralischer Kompromisse größere Handlungsfreiheit gewährt« 10 Grimm 149 . »Wenn dein Interesse dein größtmöglicher Nutzen ist«, so Pascals berühmte Wette, »dann hast du nichts verloren, wenn es Gott nicht gibt, aber alles gewonnen, wenn es ihn gibt«. Der französische Moralismus setzt in allen drei Richtungen das eigennützige Interesse voraus – aber als Grundlage der höfischen Gesellschaft.
Das wohlverstandene Eigeninteresse
Der französische Moralismus sorgt bis zum Ende des 17. Jahrhunderts für drei Verschiebungen im Begriff »Interesse«: Erstens wird der Begriff zunehmend auch positiv besetzt, gegen die als zu strikt wahrgenommene jesuitische Moral, die man im Hochadel als Heuchelei identifiziert. Zweitens wechselt der Begriff die hermeneutische Ebene. Er etabliert ein ›Dahinter‹ der eigentlichen Motive, die sich in zwischenmenschlichen Beziehungen verbergen. Drittens gewinnt er auch deswegen zunehmend erkenntnistheoretische und ästhetische Funktion: der ›interessierte‹ Mensch ist nun nicht mehr nur der auf Eigennutz bedachte, sondern der aktiv Teilnehmende, nach der lateinischen Wortbedeutung: derjenige, der einer Sache Aufmerksamkeit zumisst, weil sie ihm wichtig ist.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts zeigen sich diese drei Verschiebungen auch in einem veränderten Begriffsgebrauch, vor allem aber in der Verallgemeinerung des Interesses. Zwischen 1700 und 1750 etabliert sich der Interessebegriff so als anthropologischer Grundbegriff. In einer Parallele zur französischen Entwicklung polemisiert der niederländische Arzt Bernard Mandeville gegen die Tugendlehre des 3. Earl von Shaftesbury, der Enkel des berühmten Mentors von John Locke. In seiner satirischen Fable of the Bees (1714) argumentiert Mandeville ganz in der Tradition des französischen skeptischen Moralismus: Der Mensch ist nicht von Natur aus tugendhaft. Seine Tugend ist, im Gegenteil, Effekt einer Selbstverleugnung seiner wahren Natur: »Statt altruistischer Neigungen lenk[en] Eigenliebe und das Streben nach Selbsterhaltung das gesellschaftliche Handeln der einzelnen Individuen.« 11 Schrader 39
Die Lehre vom eigennützigen Interesse beginnt sich auszubreiten, erst in Frankreich, dann in England. In Frankreich zeigt sich die moralistische Tradition noch einmal bei Diderot, der 1765 in einem Artikel zum moralischen Gebrauch von »Interesse« versucht, Eigennutz und natürliche Selbstliebe zu differenzieren. Diderot kann sich aber nicht mehr gegen den neuen Diskurs zum Interesse durchsetzen. Er wird exemplarisch vertreten von Claude-Adrien Helvétius, Sohn des Leibarztes der französischen Königin. Helvétius streicht die subtilen moralphilosophischen Differenzen der Moralisten durch und erklärt das eigennützige Interesse kurzerhand zum Naturgesetz der Gesellschaft: »So wie die natürliche Welt den Gesetzen der Bewegung unterworfen, eben so ist die sittliche Welt der Bewegung des Eigennutzes unterworfen. Der eigene Nutzen ist auf dem Erdboden der mächtige Zauberer, welcher im Angesicht aller Creaturen die Gestalt aller Gegenstände verändert.« 12 Helvétius 55 Der »persönliche Vortheil« ist »der alleinige und allgemeine Bestimmer des Werths der menschlichen Handlungen« – die Tugendhaftigkeit, »Redlichkeit«, ist »nichts anderes … als eine Gewohnheit in Handlungen, welche diesen einzelnen Menschen persönlich nützlich sind« 13 Helvétius 55-56 .
Helvétius polemisiert hier immer noch – wie die französischen Moralisten – gegen die theologisch begründete Moral. Aber die Koordinaten haben sich verschoben. Die Theologen geraten zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in der später ›Aufklärung‹ genannten Epoche, zunehmend in die Defensive. Helvétius ist Atheist – er hat es nicht mehr nötig, sich einer theologischen Tradition anzuschmiegen, so verwässert sie auch ist. Er ist auch Naturalist: die Gesetze der Natur, nicht irgendeine übernatürliche Macht, bestimmen die Geschicke auf Erden. Seine Erkenntnistheorie, die er über die Linie eines von Locke und Condillac herkommenden Sensualismus entwickelt, ähnelt derjenigen David Humes: sie ist skeptisch, pragmatisch und orientiert sich an sozialen Binnenerfahrungen. In England entfaltet die Lehre vom Interesse als gesellschaftliches Naturgesetz dann auch ihre größte Wirkung.
Von der Moralkritik zur Regierungstechnik
Die englische Rezeption weist auch hier Parallelen zu Frankreich auf. Formuliert Mandeville in den 1710ern seine Satire noch gegen eine christliche Restauration in England, die von solchen libertären Thesen nichts wissen will, betont Samuel Johnson 1755 im Dictionary of the English Language unter »Interesse« vor allem den positiven Bedeutungsgehalt: »affektive Anteilnahme und Vorteil, Profit sowie … Wichtigkeit, während die negative Komponente nur noch mit einem schwachen Hinweis auf den Eigennutz erscheint.« 14 Fisch 313 Der europäischen Entwicklung folgend, nutzt man auch in England zum Ende des 17. Jahrhunderts den Begriff zunehmend für »wirtschafts- und handelspolitische Probleme« 15 Orth 323 . Aber in der Mitte des 18. Jahrhunderts setzt sich »Interesse« auch als Analysebegriff für Staat und Gesellschaft durch.
Massiv durch Helvétius beeinflusst ist Jeremy Bentham, der den Interessebegriff ebenso wie Helvétius vor ihm radikalisiert, indem er ihm eine neue Wendung gibt 16 Vgl. Rosen 92 . Bentham übersetzt die Gesellschaftslehre von Helvétius und Hume sukzessive in einen Rechtsbegriff: in seiner Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789) argumentiert Bentham, dass »the principle of utility, rooted in pleasure and pain, was the sole end to be advanced by the legislator, and that the individual should be ›made to fashion this behavior‹ according to this principle« 17 Rosen 92 . Aus einer polemischen Attacke gegen die bürgerliche Moral wird eine gouvernementale Anweisung: Bentham »learned that the principle of utility could be employed in a prescriptive manner to transform legal systems and societies … Bentham would subsequently refine and apply these tools in so profound a manner as to leave Helvétius behind« 18 Rosen 95 .
Deutschland hinkt dieser Entwicklung ein wenig hinterher. Zwar beruft sich schon Friedrich II. 1740 in seinen Antimachiavelli auf La Rochefoucauld, um für die Übereinstimmung von »wahre[m] Interesse« 19 Zit. nach Orth 320 und Staatsinteresse zu plädieren. Als Regierungstechnik wird die neue Optik aber erst durch Christian Jacob Kraus eingeführt, der ab 1794 quasi im Alleingang die preußischen Staatsbeamten in seiner Version smithianischer Administration schult. Wie bei Bentham, der die Arbeiter als »national live stock which has no feathers to it, and walks upon two legs« 20 Bentham 366 bezeichnet, spielen auch bei Kraus die Interessen der arbeitenden Bevölkerung keine wesentliche Rolle. Die Bürokraten, so Kraus, sollten in Lohnfragen an den wohlverstandenen Eigennutzen der Unternehmer appellieren. Der humanitäre Aspekt von Smiths Argument ist verschwunden, übrig bleibt allein die Perspektive der Nützlichkeit: Wenn ihre »Nachfrage nach Arbeitern fortwährend befriedrigt werden« soll, dann »müssen sie einen Lohn bewilligen, der nicht nur zum eigenen Unterhalt der Arbeiter hinreicht, sondern der es zugleich möglich macht, dass der gesammte Stamm der Arbeiter, die alle sterblich sind, und deren Auferziehung Kosten macht, entweder vollzählig erhalten oder vermehrt werde, nach Maaßgabe, wie die Nachfrage entweder sich gleich bleibt oder zunimmt.« 21 Kraus 207
Der politische Liberalismus wird im 19. Jahrhundert die Geste des französischen Moralismus wiederholen: Er wird zugeben, dass alles durch Interessen geleitet wird und diese durch ethische Prinzipien zu leiten versuchen. Solche Prinzipien kann sich natürlich nur leisten, wer nicht einfach nur Teil einer Verfügungsmasse ist, die »vermehrt« oder verringert wird, je nach Nachfrage. Der taktische Effekt einer Anthropologie des rationalen Eigeninteresses liegt freilich darin, dass auch jeder Widerstand gegen sie als Ausdruck eines Interesses und damit als ihre Bestätigung gesehen wird. Der Zirkel, der in diesem Gedanken liegt, prägt das moderne Denken bis in unsere Gegenwart.
Literatur
Bentham, Jeremy: Outline of the Non-Adult Value Table [1798], in: Bowring, John (Hg.): The Works of Jeremy Bentham, Part XVI, Edinburgh: Tait 1841
Fuchs, Hans-Jürgen: Art. Interesse, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4, Basel 1971, Sp. 479-484
Grimm, Jürgen: Das ‚klassische Jahrhundert‘, in: Ders.: Französische Literaturgeschichte, Stuttgart/Weimar 41999, S. 136-182
Helvetius: Diskurs über den Geist des Menschen [1758], David Siegerts Leipzig: 1760
Kraus, Christian Jakob: Staatswirthschaft Bd. 1, Breslau: Schletter 1837
Orth, Ernst Wolfgang / Fisch, Jörg / Koselleck, Reinhart: Art. „Interesse“, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 305-365
Rosen, Frederick: Classical Utilitarianism from Hume to Mill, London 2003
Schrader, Wolfgang H.: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume, Hamburg 1984