Die Rückkehr des Geldes in die Politik
Man hat das Geld häufig als eine politisch neutrale Infrastruktur moderner Marktwirtschaften zu begreifen versucht. Doch die Ideologie des unpolitischen Geldes verliert an Überzeugungskraft. Insbesondere die Mechanismen der Geldschöpfung rücken ins Zentrum neuer politischer Konflikte.
Im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs hielt Beardsley Ruml, Chairman der Federal Reserve Bank in New York, einen Vortrag vor Juristen der American Bar Association. Der Vortrag, einer von unzähligen in Rumls facettenreicher Karriere, wäre wohl in den Annalen der Geschichte verloren gegangen, hätte ihn nicht das Magazin „American Affairs“ für die Nachwelt abgedruckt. Im Editorial erklärt der Herausgeber seine Beweggründe: Rumls Vortrag gebühre die Aufmerksamkeit eines größeren Publikums, schließlich würde darin eine ungeheure, aber politisch höchst brisante Behauptung aufgestellt. Die Behauptung nämlich, die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika sei „free of all money worries“, von allen Geldsorgen befreit.
Der Titel des Vortrags lautete im Original: „Taxes for Revenue are Obsolete“, zu Deutsch: Steuereinnahmen sind überflüssig geworden. Eine fast schon groteske These, möchte man mit Blick auf den eigenen Lohnzettel sagen – wenn Steuereinnahmen überflüssig wären, warum verschwindet dann ein großer Teil des Gehalts beim Fiskus? Wir nehmen diesen Malus gemeinhin deswegen zähneknirschend hin, weil wir wollen, dass mit diesem Geld Schulen betrieben und Straßen saniert werden. Ruml forderte nun allerdings nicht, auf diese Ausgaben zu verzichten und deswegen die Besteuerung der Bürgerinnen und Bürger einzustellen. Man bräuchte sie, also die Steuern, schlicht nicht länger als Geldquelle, erklärte Ruml seinem sicherlich verdutzten Publikum.
Fiat-Geld – unser Vertrauen macht es wertvoll
Als Begründung führte er den Aufbau des Geldsystems an. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte man mit etwas zu tun, das damals noch nicht so lange in Gebrauch war, heute allerdings profan erscheint: sogenanntes Fiat-Geld. Fiat-Geld-Systeme sind solche, in denen Geld nicht mehr aus wertvollen Dingen wie Gold oder Silber besteht und auch nicht, wie im sogenannten Goldstandard, durch Edelmetall gedeckt ist. Fiat-Geld ist stoffwertlos; es besteht aus elektronischen Datenbankeinträgen, Papierscheinen und zu einem ganz kleinen Teil aus Metallmünzen, dessen Material aber auch nicht mehr wertvoll ist. Nur die Verwendung und unser Vertrauen macht Fiat-Geld wertvoll, nicht sein Material.
Beardsley Rumls Überlegung lag also auf der Hand: Wenn man kein Material mehr benötigt, dann kann man das Fiat-Geld doch nach Bedarf herstellen. Solche Hinweise auf Staaten, die sich den Maschinerien der Gelderzeugung bedienen, können in unserem kollektiven Unterbewussten Panikreaktionen auslösen. Schnell ist die Formulierung einer „Staatsfinanzierung mit der Notenpresse“ bei der Hand. Das hört sich so falsch an wie nur irgendwas. Besonders in der deutschen Erinnerung ist das Gelddrucken untrennbar mit Gewalt und Elend verbunden. Hat nicht die Weimarer Republik auf die hohen Reparationszahlungen an die Gewinner des Ersten Weltkriegs mit einer Flut frischem Papiergeld reagiert, damit die Hyperinflation ausgelöst und letztendlich, freilich in Verbindung mit einer ganzen Kette weiterer ungünstiger Umstände, Hitler zur Macht verholfen? Waren es in der Geschichte nicht überhaupt vor allem Kriege, die mithilfe heiß laufender Notenpressen bezahlt wurden?
Bis heute ist die sprichwörtliche „Staatsfinanzierung durch die Notenpresse“ ein Synonym für politisches Versagen, für Bananenrepubliken, Staatspleiten, inflationären Abwärtsspiralen und Chaos. „Notenpresse“, das klingt nach ökonomischem Suizid, das klingt nach korrupten Kleptokraten oder verrückten Despoten mit Midas-Komplex. Wer nicht genügend einnimmt, um seine Rechnungen zu bezahlen, der wirtschaftet schlecht, der hat unternehmerisch versagt. Das gilt, so die gemeine Unterstellung, natürlich auch für Staaten. In diesem Lichte besehen erscheint es also bestenfalls müßig, schlimmstenfalls sogar fahrlässig, an Beardsley Ruml und seine Irrationalitäten zu erinnern.
Aaron Sahr
Das sehen allerdings nicht alle so. Der gut 70 Jahre alte Vortrag feiert derzeit seine Wiederauferstehung. Zunächst nur in den USA, inzwischen aber auch hierzulande wird gegenwärtig eine geldtheoretische und wirtschaftspolitische Denkschule populär, die sich ganz explizit und positiv auf Beardsley Ruml bezieht: die sogenannte Modern Monetary Theory, kurz: MMT. Eine der führenden Vertreterinnen dieser Denkschule ist Stephanie Kelton. Sie ist die ökonomische Beraterin von Bernie Sanders, dem bekannten US-Senator, der sich derzeit erneut darum bewirbt, von der Demokratischen Partei als Präsidentschaftskandidat ins Rennen gegen Donald Trump geschickt zu werden.
Green New Deal – Geldschöpfung als Teil des politischen Diskurses
Politischer Aufhänger ist ein Programm, auf das sich auch und ebenfalls mit Bezug auf die MMT der neue demokratische Star Alexandria Ocasio-Cortez eingeschworen hat: der sogenannte Green New Deal. Der Green New Deal ist – in dieser Version zumindest – ein gewaltiges Investitionsprogramm, das die gröbsten Folgen der Klimakrise durch einen radikalen Umbau der US-Wirtschaft zu einer Null‑Emissions‑Ökonomie abmildern will. Ferner gehören zu diesem Deal auch eine allgemeine Krankenversicherung und die Abschaffung der Arbeitslosigkeit durch eine staatliche Arbeitsplatzgarantie. Es scheint, als sollten alle Probleme der Vereinigten Staaten mit einem Pinselstrich vom Tisch verschwinden. Dem Green New Deal wird nun aber nicht nur wegen seiner Ambitionen Aufmerksamkeit geschenkt, sondern wegen des Gestus der Machbarkeit, mit dem er vorgetragen wird: Die notwendigen astronomischen Summen zusammenzubekommen, so Kelton und Co., sei kein Problem, man könne sie schließlich einfach schöpfen.
Nun ist es keinesfalls so, dass die MMT oder zuvor auch Ruml schlicht fordern, angesichts von katastrophalen ökologischen und sozialen Zuständen jeden finanziellen Sachverstand über Bord zu werfen und die monetären Druckerpressen auf Volllast laufen zu lassen. Die MMT steht vielmehr für eine Neuorientierung des politischen Feldes. Kelton und Co. behaupten nicht, dass Staaten unendliche Geldquellen besitzen, aber sie wollen Geldschöpfung als ein politisches Problem begreifen, genauer gesagt: Geldschöpfung als Machtressource zurück in den politischen Willensbildungsprozess dirigieren.
»Die Architektur des Geldes bestimmt, wer in unserer Gesellschaft die Geldschöpfung übernimmt, wer also entscheidet, wie viel Geld es gibt und für wen, das heißt: zu welchem Zweck es ursprünglich geschaffen wird.«
Das ist, gelinde gesagt, ungewohnt. Geldschöpfung gehört nicht zum Grundinventar unseres politischen Diskurses. Freilich wird viel, praktisch täglich, darüber gestritten, wie man das Geld am besten verteilt – ob mehr oder weniger Steuern angebracht wären, ob man die Verteilung des Geldes eher Märkten oder eher politischen Institutionen überlassen sollte. Aber über den Eintritt von neuem Geld in die Wirtschaft hörte man kaum etwas.
Dabei kann Geld freilich erst durch Märkte verteilt oder durch Wohlfahrtsstaaten umverteilt werden, wenn es zuvor von irgendjemandem erzeugt wurde. Denn obwohl es sicherlich stets vernünftig ist, im eigenen Haushalt immer nur Ausgaben vorzusehen, die man auch durch Einnahmen gegenfinanzieren kann, so geht das für die ganze Wirtschaft gewiss nicht. Schließlich ist Geld weder einfach da, noch wächst es auf Bäumen; es ist ein Kunstprodukt, ein Artefakt. Und Artefakte können auf unterschiedliche Weisen konstruiert werden. Die Architektur des Geldes bestimmt, wer in unserer Gesellschaft die Geldschöpfung übernimmt, wer also entscheidet, wie viel Geld es gibt und für wen, das heißt: zu welchem Zweck es ursprünglich geschaffen wird. In modernen Geldwirtschaften wie der unsrigen ist diese Kompetenz eine entscheidende Machtressource; eine Machtressource, die im politischen Diskurs kaum vorkommt.
Gelderzeugung – alles andere als neutral
Schuld an diesem Schattendasein ist eine Denkgewohnheit, die man ‚Ideologie des unpolitischen Geldes‘ nennen kann: eine verbreitete Art und Weise, über Geld zu sprechen und über Geld nachzudenken, die die Gelderzeugung als eine Art neutrale ökonomische Technologie behandelt, die dann am besten im allgemeinen Interesse operiert, wenn man sie vor Partikularinteressen schützt; das heißt wenn die Politik sich raushält. Die Idee der Neutralität entspringt klassischen liberalen Geldtheorien, wie sie etwa von Adam Smith, Carl Menger, Milton Friedman oder Friedrich August von Hayek vertreten wurden. Im Grundsatz findet sie sich bis heute in vielen Lehrbüchern für Volkswirtschaftslehre. Hier ist Geld im Kern ein Medium, das das Tauschen erleichtert. Seine Entstehung wird mit dem Verweis auf Händler erklärt, welche die Unbequemlichkeiten eines ohne Geld ablaufenden unmittelbaren Tausches von Gütern zu überwinden hofften. Der sogenannte Realtausch von Gütern gegen andere Güter hat nämlich ein Problem: Es ist fürchterlich kompliziert, Angebot und Nachfrage zusammenzubringen.
Ein Schäfer wünscht sich vielleicht neue Schuhe, die Schusterin hat aber kein Interesse an Schafen. Um dieses Dilemma zu überwinden, müsste der Schäfer versuchen, seine Schafe gegen etwas einzutauschen, was die Schusterin gerne hätte; was sie also im Austausch gegen neue Schuhe zu akzeptieren bereit wäre. Weil der Schäfer aber auf lange Sicht nicht nur Schuhe will, sieht er sich beim Tauschen nach Dingen um, die allgemein begehrt sind – die er also mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen die Dinge eintauschen kann, die er am Ende wirklich will. Allgemein begehrt waren zum Beispiel Edelmetalle wie Gold oder Silber. Der Schäfer und schließlich auch die Schusterin tauschen ihre Produkte also gegen Gold oder Silber, nicht um deren selbst willen, sondern als Zwischenschritt. Edelmetalle werden zu einem Medium, einem Tauschmittel. Gold und Silber werden so zu einer Funktion, sie erfüllen einen vermittelnden Zweck, es kommt auf sie selbst gar nicht mehr an. Diese Funktion sahen die liberalen Geldtheorien als die Essenz des Geldes an. Weil Geld um seiner Funktion begehrt wurde, konnte in seiner weiteren Entwicklung dann auch auf den Stoffwert verzichtet werden. Papierscheine und immaterielle Bucheinträge ersetzten die schweren Gold- und Silbermünzen als Vermittlungsmedium. Das Tauschmittel konnte stoffwertlos werden, weil es eben genau das ist: ein Tauschmittel, eine Funktion.
Ideologie des unpolitischen Geldes
Als historische Theorie der Entstehung und Entwicklung des Geldes taugt diese Geschichte einer im Handel entstandenen Vernunftlösung freilich nichts. Als Denkfigur dominiert sie aber bis heute. Insbesondere im Hinblick auf die in dieser Geschichte und ihrer Fokussierung auf Geld als Tauschmittel angelegte Rolle der Politik im Geldsystem. Es ist gemäß dieser Denkfigur schließlich dem freien Spiel der Marktwirtschaft allein gelungen, das Tauschmittel zweckdienlich einzurichten und seine Funktionalität zu gewährleisten. Als Tauschmittel wird Geld zu einem indirekten Vermögen, einer Art Symbol, das die relativen Preise aller Waren auszudrücken vermag, die zu Markte getragen werden.
Weil Geld eine so zweckmäßige Erleichterung des Handels ist, obliegt der Politik allenfalls, die Funktionalität des Tauschmittels technisch sicher zu stellen. Einer der Vordenker moderner Volkswirtschaftslehre, Adam Smith, wollte dem Staat allenfalls die Aufgabe zugestehen, bei der Messung des Gold- und Silbergehalts von Münzen zu assistieren. Heute bedeutet dieses technisierte Verständnis von Geldpolitik freilich nicht mehr, den Metallgehalt von Münzen zu prüfen, sondern die Wertrelation zwischen Geld und Waren stabil zu halten. Der Ideologie unpolitischen Geldes gemäß bedeutet Geldpolitik heute, für Preisstabilität zu sorgen – also die Wertrelation zwischen Geld und Schafen und Schuhen möglichst unter Kontrolle zu halten. Alles, was über dieses enge Verständnis von Geldpolitik hinausgeht, gerät automatisch unter Verdacht, nicht im allgemeinen Interesse zu sein, also nicht das Tauschmittel Tauschmittel sein zu lassen.
Weltweiter Siegeszug: Idee der unabhängigen Zentralbank
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts feierte diese Ideologie des unpolitischen Geldes ihren politischen Siegeszug. Nach und nach wurden die staatlichen Einflussmöglichkeiten auf das Geldsystem dekonstruiert; die Möglichkeit etwa, die Ein- und Ausfuhr von Geldvermögen zu reglementieren. Weil die Aufrechterhaltung der Tauschmittelfunktion eine Frage statistischer Berechnungen und ökonomischen Sachverstandes ist, leuchtete es ferner vielen ein, die Geldpolitik an politisch möglichst unabhängige Zentralbanken zu übertragen. Hätte man hingegen Parlamente mit der technischen Steuerung beauftragt, so die Annahme, würden verschiedene Interessengruppen ständig an den Wertrelationen des Tauschmittels herumschrauben und damit die Funktionalität als Tauschmittel und damit die politisch neutrale Essenz des Geldes selbst kompromittieren. Etwa dadurch, dass sie neues Geld für ihr Wählerklientel schaffen würden, ohne dass es mehr Schafe oder Schuhe gäbe, die mit diesem Geld gehandelt werden könnten. Die Idee einer unabhängigen Zentralbank feierte fast überall in der Welt ihren Siegeszug. Die Europäische Zentralbank galt als Paradebeispiel dieser Ideologie: Die Staaten der Eurozone können nicht nur nicht direkt über geldpolitische Entscheidungen der EZB verfügen. Die EZB darf allein zur Wahrung eng definierter geldwertpolitischer Ziele in Märkte eingreifen und auch nur so, dass sie Wertrelationen möglichst unangetastet lässt.
Geldsystem dient partikularen Interessen
Das Fatale an dieser Ideologie unpolitischen Geldes ist, dass sie uns ein Geldsystem eingebrockt hat, das eindeutig partikularen Interessen dient, während es behauptet, ein neutrales Gut zu sein. Unserem Geldsystem fehlen Mechanismen, die Geld und Güter koppeln. Kein Mechanismus in unserem Geldsystem stellt sicher, dass Geld dann geschaffen wird, wenn mehr Waren zu Markte getragen werden, und es existiert auch kein Mechanismus, der dafür sorgt, dass mit neu geschaffenem Geld mehr produziert wird, also Wachstum entsteht. Das Leitkriterium unseres Geldsystems ist Profitabilität: Es entsteht neues Geld für profitable Geschäfte, nicht für gesellschaftlich sinnvolle oder gesamtökonomisch nützliche.
Im gegenwärtigen Arrangement ist die Geldschöpfung nämlich weitestgehend privaten Firmen überlassen worden. Ganz so, wie es die Ideologie unpolitischen Geldes vorsieht. Private Banken entscheiden heute maßgeblich darüber, wie viel Geld es gibt und für wen und welchen Zweck es geschaffen wird. Grundsätzlich besteht unser Geldsystem aus zwei Sorten von Geld: Zentralbankgeld und Privatbankgeld. Zu dem von der Zentralbank bereitgestellten Geld gehören das Bargeld, aber auch die Kontostände von Banken und Regierungen, die nämlich beide ihre Geschäfte über ein Zentralbankkonto abwickeln. Zwar bezahlen die Deutschen im Vergleich zu vielen anderen Ländern noch ungewöhnlich gerne in Bar, aber größere Zahlungen wie Mieten oder Löhne werden in der Regel über das Girokonto abgewickelt. Auf dem Girokonto befindet sich das sogenannte Giralgeld. Dieses Giralgeld ist ein elektronischer Datenbankeintrag auf den Servern einer privaten Bank. Es ist, anders gesagt, Privatbankgeld. Und in dessen Entstehung liegt der Clou: Dieses Privatbankgeld auf den Girokonten können Banken nach eigenen Vorstellungen erzeugen.
»Auch die Deutsche Bundesbank sagt inzwischen ganz offen, dass wir die Kontrolle über unsere Geldmenge privatwirtschaftlicher Nachfrage und Profitkalkulationen überantwortet hätten – Geld wird geschaffen, wenn Banken ein Geschäft für profitabel halten. Neues Geld bekommt, wer die sichersten Renditen versprechen kann.«
Jedes Mal, wenn eine Bank einen Kredit vergibt, weil ihre Kundinnen und Kunden Häuser oder Autos kaufen oder investieren wollen, entsteht neues Geld. Banken müssen nicht zunächst Geld einsammeln, um es an anderer Stelle verleihen zu können. Sie schaffen diese Mittel selbst, durch eine einfache Buchung auf dem Konto. Schließlich ist das Privatbankgeld nicht mehr als ein Buchungseintrag in einer Datenbank. Es kommt für die Bank lediglich darauf an, das neue geschaffene Geld durch einen neuen Vermögenswert auszugleichen. Dafür verwendet sie aber den Kredit selbst: Wenn jemand einen Kredit beantragt, dann kann die Bank diesen Kredit als Vermögen in ihrem Buchhaltungssystem registrieren und das geliehene Geld als neuen Kontostand der Schuldnerin buchen – also aus dem Nichts erzeugen.
Private Banken geben den Takt der Geldschöpfung vor
Dieses Geldschöpfungsprivileg privater Banken ist kein Geheimnis, auch wenn es – wie etwa Umfragen des Soziologen Klaus Kraemer zeigen – nicht wirklich zum allgemeinen Wissensschatz der Bevölkerung gehört. Lange wurde dieses außergewöhnliche Privileg allerdings auch akademisch ignoriert, weil man davon ausging, dass die Zentralbanken die Hoheit über die Geldmenge hätten. In älteren Ökonomielehrbüchern findet man häufig die Behauptung, die Zentralbank würde die Geldschöpfung der privaten Banken wirksam steuern oder wenigstens nach freien Stücken begrenzen können. Schließlich müssen private Banken ihre Geldschöpfung mit einer Mindestreserve an Zentralbankgeld unterlegen. Indem sie die verfügbaren Mittel an Reservegeld rationiert, so die Überlegung, bestimme die Zentralbank doch wohl zumindest indirekt, wie viel Geld geschaffen werden könne. Die formale Abhängigkeit hat allerdings in der Praxis kaum Relevanz, wie zuletzt auch die Zentralbanken in aller Deutlichkeit eingestanden haben. Zumindest in konjunkturell stabilen Zeiten scheren sich private Banken bei ihrer Kreditvergabe wenig um die verfügbaren Guthaben auf ihrem Zentralbankkonto, weil jeder Bedarf an zusätzlichen Mitteln routinemäßig durch Neuschöpfung von Zentralbankgeld ausgeglichen werden kann – und auch wird. Die Zentralbanken haben gar kein Mandat, etwas anderes zu tun; ihre Aufgabe ist, für Preisstabilität und das Funktionieren des Geldsystems zu sorgen. In der Praxis bedeutet das, dass die privaten Banken den Takt der Geldschöpfung vorgeben – und nicht, oder nur in Ausnahmefällen, die Zentralbanken. Auch die Deutsche Bundesbank sagt inzwischen ganz offen, dass wir die Kontrolle über unsere Geldmenge privatwirtschaftlicher Nachfrage und Profitkalkulationen überantwortet hätten – Geld wird geschaffen, wenn Banken ein Geschäft für profitabel halten. Neues Geld bekommt, wer die sichersten Renditen versprechen kann.
Geldmenge deutlich stärker gewachsen als die Wirtschaft
Dieses Arrangement war äußerst fruchtbar – für einige wenige. Denn die Banken haben im letzten halben Jahrhundert zwar Unmengen Geld erschaffen, aber damit kaum, jedenfalls nicht in vergleichbarem Maße, für allgemeine Wohlstandszuwächse gesorgt. Besonders zugespitzt hat sich diese Situation in den letzten Dekaden, was man gut an zwei Zahlen ablesen kann. Erstens: Im Jahr 1980 gab es in Europa nicht einmal ein Prozent der heute verfügbaren Geldmenge. Vergleicht man diesen enormen Zuwachs mit der Entwicklung des eigenen Kontostandes, wird sofort klar, dass dieses Geld woanders gelandet sein muss als in den Portemonnaies der Bevölkerungsmehrheit. Zweitens: Global betrachtet gab es 1960 Geld im Wert von etwa 50 Prozent der Wirtschaftsleistung, im Jahr 2018 waren es rund 124 Prozent. Man sieht, dass diese Massen frischen Geldes nicht in gleichem Maße für Wachstum gesorgt haben. Die Geldschöpfung hat also nicht dafür gesorgt, dass in gleicher Menge auch mehr Güter produziert wurden. Deswegen ist die Geldmenge deutlich stärker gewachsen als die Wirtschaft.
Dieses Wachstum ist mindestens insofern beachtenswert, als dass die abwehrende und abwertende Formulierung des „Anschmeißens der Notenpresse“, die häufig reflexartig gegen eine staatliche Geldschöpfung in Stellung gebracht wird, gemeinhin genau auf solch ein Auseinanderdriften zielt: Wer meint, man könne seine Ausgaben nicht mit den Notenpressen bezahlen, der sagt doch, das frisch gedruckte Geld hätte in der Wirtschaft keinen Gegenwert. Dieser Einwand aber verliert dann rapide an Überzeugungskraft, wenn man einsieht, dass die privaten Banken Weltmeister im unproduktiven Geldschöpfen sind. Wir blicken schließlich auf ganze Dekaden zurück, in denen Milliarden und Abermilliarden neue Dollar, Pfund und Euro in Märkte gepumpt wurden, ohne dass sie in gleichem Maße für Wachstum gesorgt hätten. Es gab viel mehr Geld, als es Schafe oder Schuhe zum Tauschen gegeben hätte.
Wofür aber wurde das ganze Geld dann erschaffen? Gemäß dem Grundprinzip unserer Geldschöpfungsordnung wurde es für jene Käufe geschaffen, welche die sicherste und gleichzeitig höchste Rendite versprachen. Und das waren eben immer weniger unternehmerische Investitionen und immer mehr Käufe von Aktien und Immobilien, also: Käufe von Vermögenswerten. Dadurch ist der Preis dieser Anlagen – zumindest in der Masse betrachtet – immer weiter gestiegen. Man spricht hier auch von einer Vermögenspreisinflation. Wer heute eine Wohnung in einer beliebten Großstadt kaufen möchte und über die Quadratmeterpreise erstaunt ist, der wird mit dem Effekt einer Entwicklung konfrontiert, bei der nicht nur bestehende Geldsummen dorthin geflossen sind, wo am meisten zu holen war; sondern eben auch ständig mehr Geld erzeugt wurde, um die Preise in die Höhe zu treiben.
Privatisierte Geldschöpfung führt zu eklatanter Verteilungsproblematik
Global betrachtet wird der allergrößte Teil dieser Vermögen von sehr wenigen, dafür aber sehr wohlhabenden Haushalten besessen – man kann auch sagen: Die Vermögen sind an der Spitze der Vermögenspyramide konzentriert. Deswegen hat die privatwirtschaftlich betriebene unproduktive Geldschöpfung vor allem das Vermögen dieser kleinen Gruppe vermehrt, nicht aber in auch nur annähernd gleichem Maße für allgemeine Wohlstandszuwächse gesorgt.
Das privatisierte Geldschöpfungsregime hat uns in eine eklatante Verteilungsproblematik manövriert, die jetzt von den Vertreterinnen und Vertretern der Modern Monetary Theory MMT und anderen geldpolitischen Strömungen aufgegriffen wird. Denn nach Jahrzehnten unfassbaren Wachstums der verfügbaren Geldbestände fehlt es trotzdem an allen Ecken und Enden an Geld: Die Infrastruktur vieler Länder verfällt, auch Deutschland lebt von der Substanz, die Bahn bräuchte Milliardeninvestitionen, die Schulgebäude verfallen, Pflegenotstand und Lehrermangel bekommen die Alten und die Jungen gleichermaßen zu spüren, die Sozialsysteme sind chronisch überlastet, die Löhne vieler Menschen halten nicht mit ihren Kosten schritt – die Liste ließe sich noch lange weiter führen. Ferner fordert die Klimakrise gewaltige Investitionen, sei es nun in präventive Maßnahmen wie Küstenschutz oder Aufforstung, in den ökonomischen Strukturwandel oder die Kompensation von Strukturwandelverlierern. Im Angesicht dieser Aufgaben droht jede Politik zu versagen, die allein auf Umverteilung bestehender Geldvermögen setzt und dabei, angeleitet von der Ideologie des unpolitischen Geldes, die Geldschöpfung als Ressource politischer Handlungsfähigkeit ignoriert.
EZB darf Geld nur an die Privatwirtschaft ausgeben
Dabei ist es freilich nicht so, dass diese Ressource nicht bereits hinlänglich zum Einsatz käme. Dass private Banken bei der Geldschöpfung die Hosen anhaben, heißt nämlich selbstredend nicht, dass Zentralbanken nicht auch Geld schöpfen würden; im Gegenteil: Im Zuge ihrer unkonventionellen Rettungsmaßnahmen hat die EZB zwischen 2015 und 2018 ungefähr 2,6 Billionen Euro aus dem Nichts erschaffen. Das sind mehr als eine Million Euro pro Minute! Allerdings hat sie dieses Geld nicht den von Jugendarbeitslosigkeit gebeutelten südeuropäischen Ländern gegeben, auch nicht das europäische Bahnnetz saniert oder für die Integration von Kriegsgeflüchteten gesorgt: Sie hat stattdessen damit privaten Investoren ihre Wertpapiere abgekauft. Man hielt es bei der Konstruktion der Eurozone nämlich für eine gute Idee, dass Märkte darüber entscheiden sollten, ob die Mitgliedsländer an neues Geld kommen oder nicht. Die EZB darf Geld deswegen nur an die Privatwirtschaft ausgeben, nicht an staatliche Institutionen – selbst im Falle einer Finanz- und Staatsschuldenkrise.
»Man hielt es bei der Konstruktion der Eurozone für eine gute Idee, dass Märkte darüber entscheiden sollten, ob die Mitgliedsländer an neues Geld kommen oder nicht. Die EZB darf Geld deswegen nur an die Privatwirtschaft ausgeben, nicht an staatliche Institutionen – selbst im Falle einer Finanz- und Staatsschuldenkrise.«
Freilich birgt eine Neuemission von Billionenbeträgen über realwirtschaftliche und sozialpolitische Investitionen die Gefahr einer Verbraucherpreisinflation. Schließlich würde das neue Geld schneller in den Taschen von Konsumentinnen und Konsumenten landen und so die Nachfrage anheizen; etwas, das in Europa derzeit allerdings schmerzlich vermisst wird. Es würde aber auch für Produktion und Wachstum sorgen; es würden also neue Dinge entstehen, die mit dem neu geschaffenen Geld gekauft werden könnten – und nicht nur Vermögenstitel gehandelt werden.
Steuern – laut Ruml Instrument der Geldmengenverkleinerung
Außerdem steht den Staaten ein Instrument zur Verfügung, das – ebenfalls nach politischen Vorgaben – dem System jederzeit Geld wieder entziehen kann: Steuern. Steuern sind aus der Perspektive der an Beardsley Ruml anschließenden MMT ein Instrument der Geldmengenverkleinerung, nicht der Staatsfinanzierung. Was also insbesondere die MMT um Stephanie Kelton im Anschluss an Ruml vorschlägt, ist eine neue, durchweg politische Beschreibung der Trias Staatsschulden, Geldschöpfung und Steuern: Formal betrachtet kann ein Staat jede Ausgabe in der eigenen Währung tätigen, sofern die Zentralbank seine Anleihen als Vermögen verbucht und dadurch neues Geld zur Finanzierung der Staatsausgaben erschafft. Steuern dienen dann in der Tat nicht mehr der Finanzierung dieser Ausgaben, sondern dem Abtragen der Staatsschulden und damit der Reduktion der Geldmenge. Steuern werden dadurch zu einem Tool, mit dem sehr präzise inflationäre Tendenzen in spezifischen Bereichen der Wirtschaft – etwa durch eine Vermögenssteuer – bekämpft werden können.
Man muss Beardsley Ruml oder Stephanie Kelton nicht in allen Punkten ihrer politischen und ökonomischen Programme zustimmen, um den Impuls in diesem Sinne aufzunehmen: Die Regelung der Geldschöpfung hat profunde sozio‑ökonomische Konsequenzen. In den vergangenen Jahrzehnten haben private Banken durch Geldschöpfung eine Vermögenspreisinflation erzeugt, ohne dass diese Form der Inflation wirksam bekämpft wurde. Es geht bei der MMT also nicht darum, ein gut laufendes Geldsystem durch eine inflationäre „Staatsfinanzierung mit der Notenpresse“ zu ersetzen. Alles Geld entsteht durch eine buchhalterische „Notenpresse“ und jede Geldschöpfung beeinflusst auch Preise. Es geht darum, diesen Umstand als ein politisches Problem zu begreifen und es damit auch zum Gegenstand gesellschaftlicher Willensbildungsprozesse zu machen.
Dieser Beitrag entstand als Sendung im Auftrag des Deutschlandfunks-Essay und Diskurs und wurde dort am 17.11.2019 gesendet.