Kant und die Lohnarbeit
Kant beschäftigte sich nicht nur mit Ethik und Völkerrecht: In seiner Rechtsphilosophie finden sich Ausführungen zur Rechtmäßigkeit und Unfreiheit der Lohnarbeit, die auch heute noch Sprengkraft besitzen. Gehört zur Würde des Menschen etwa, über Eigentum zu verfügen?
Wie alle öffentlichen Jubiläen neigt auch das Kant-Jubiläum dazu, in erster Linie Selbstvergewisserungen hervorzubringen. Kaum ein Philosoph scheint dazu besser geeignet zu sein als Immanuel Kant: praktische Vernunft, ewiger Friede, Menschenwürde, Moralgesetz – an Stichworten mangelt es nicht, wenn man assoziative Verbindungen zum Hier und Heute herstellen will. Schwieriger wird es dagegen, wenn man sich mit den unbekannteren Seiten seines Werks befasst. So führt zum Beispiel die kantische Rechtsphilosophie in der öffentlichen Wahrnehmung eher ein Schattendasein. Für die in ihr enthaltenen ökonomisch-öffentlich-rechtlichen Spezialfragen gilt das in besonderer Weise. Wer weiß etwa schon, dass Kant dort den schwierigen Versuch unternimmt, die politische Freiheit verschiedener Bürgergruppen – Hausherren, Diener, Tagelöhner, Handwerker … – zu beurteilen?
Die Rechtsphilosophie im Ganzen fragt bekanntlich danach, unter welche Gesetze Vernunftwesen ihre äußere Willkür bringen müssen – überhaupt frei handeln können, ist für Kant eine der vornehmsten, reflexiv begründbaren Bestimmungen des Menschen. Wir sind keine bloßen Objekte, die nur physischen Mechanismen gehorchen, sondern dazu in der Lage, uns selbst zu bestimmen. Doch diese Freiheit äußert sich unter den Bedingungen einer endlichen Welt notwendigerweise so, dass sie der Freiheit anderer im Weg stehen kann. Aufgabe der praktischen Philosophie als Rechtsphilosophie ist es, den »Inbegriff der Bedingungen« anzugeben, »unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«, wie es bereits in der Einleitung zur Rechtslehre heißt.
Die einzelnen Begründungsschritte auf diesem Weg müssen hier übergangen werden. Um nur die Hauptresultate zu nennen: Zu den Bedingungen eines solchen rechtlichen Zustands gehört die Errichtung eines gemeinen Wesens, eines Staates, der die provisorischen Freiheitsrechte der Menschen unter öffentlich bekannten und zwangsbewährten Gesetzen sicher und bestimmbar macht sowie auf Dauer stellt. Die öffentlichen Gesetze eines freien Staates sind also nicht einfach ein notwendiges Übel oder eine bloße Einschränkung der Freiheit, sondern ihre vernunftnotwendige Bedingung. Die Staatsbürger eines solchen Gemeinwesens muss man zuallererst als frei betrachten, d. h. sie haben notwendigerweise das Attribut, »keinem anderen Gesetz zu gehorchen« als jenem, zu dem sie »ihre Beistimmung gegeben« haben. Dies ist nicht so zu verstehen, dass jeder, der »Nein« sagt, ungehorsam gegenüber den Autoritäten sein darf. Kant spricht hier nicht schon über ein reales Gemeinwesen mit allen Meinungs- und Interessensunterschieden, die dazugehören, sondern von einem »Staat in der Idee«, d. h. wie er nach vernünftigen Prinzipien eingerichtet sein muss. Idealiter sollen die Gesetze also so beschaffen sein, dass sie als Ausdruck des freien vernünftigen Willens der Staatsbürger gelten können. Darüber hinaus sind die Staatsbürger in einer fundamentalen Hinsicht einander gleich: Alle können einander nur rechtlich verpflichten und zwingen, insofern sie selbst rechtlich verpflichtet und gezwungen werden können – es herrscht Reziprozität der Rechtsverhältnisse. An dritter und letzter Stelle folgt nun ein Attribut, das weniger leicht zu begreifen und bis heute Anlass von Forschungskontroversen ist: »bürgerliche Selbständigkeit«. Was ist darunter zu verstehen?
Oliver Weber
Was heißt »bürgerliche Selbstständigkeit«?
In der vier Jahre zuvor erschienen Abhandlung »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« ist das Kriterium der »Selbständigkeit« noch relativ einfach zu verstehen: »In dem Punkte der Gesetzgebung selbst sind alle, die unter schon vorhandenen öffentlichen Gesetzen frei und gleich sind, doch nicht, was das Recht betrifft, diese Gesetze zu geben, alle für gleich zu achten«. Um »Mitgesetzgeber« sein zu können, so Kant, darf man keinen besonderen Willen äußern, sondern den allgemein-vernünftigen. Genau dies aber ist nicht gewährleistet, wenn jemand als Diener oder Tagelöhner seine Existenz dem Willen eines anderen verdankt – er dient dann zunächst diesem Mitbürger, nicht dem Gemeinwesen als Ganzes. Politische Mitbestimmung hängt für den Kant des Gemeinspruchs also an einer ökonomischen Bedingung: materielle Unabhängigkeit – entweder als Grundeigentümer, als Handwerker, der auf eigene Rechnung arbeitet, oder als Staatsdiener. Diese kantischen Festlegungen sind vor dem Hintergrund der klassischen politischen Tradition keineswegs außergewöhnlich. Von Aristoteles angefangen lässt sich eine lange und breite Tradition ausmachen, die die mehr oder minder autonome Führung eines Oikos als Bedingung politischer Freiheit erachtet: Keine Republik ohne Selbsterhaltung, sonst sind die Bürger erpressbar und handeln aus materiellen Gründen eigen- bzw. fremdbestimmt, statt gemeinwohlorientiert. 1 Zum systematischen Argument vgl. Zorn: https://politischeoekonomie.com/die-dialektik-ideologischer-verstaerkung-im-neoliberalen-kapitalismus-ein-gedankenspiel/; zur Tradition vgl. Riedel, Manfred (1975): Metaphysik und Metapolitik. Studien zur Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp; Bien, Günther (1972): Revolution, Bürgerbegriff und Freiheit. Über die neuzeitliche Transformation der alteuropäischen Verfassungstheorie in politischer Geschichtsphilosophie. In: Philosophisches Jahrbuch. Band 79, S. 1-18; Weber, Oliver (2021): Freiheit ohne Selbsterhaltung. Rousseaus republikanische Ökonomie und das Paradox der Modernen, Zeitschrift für Politik 68 (3), S. 233-252.
Für den vier Jahre älteren Kant der Rechtslehre ist die Antwort deutlich verzwickter. Strenger als im Gemeinspruch bezeichnet Kant »Selbständigkeit« nun als ein »rechtliches … Attribut«. Gemäß seines jetzt konsistenter verfolgten Begründungsprogramms, eine apriorische Rechtsbegründung zu leisten, d.h. eine, die von Erfahrungstatsachen absieht bzw. nur exemplarisch darauf Bezug nimmt, erscheinen die empirisch-ökonomischen Bestimmungen aus dem Gemeinspruch problematisch zu sein. Ist materielle Unabhängigkeit nicht ein empirischer Sachverhalt – und die daraus entspringende Abhängigkeit des Willens bzw. Erpressbarkeit desselben auch? Viele Interpreten haben Kant diese Stelle deshalb zum Vorwurf gemacht, ihm Inkonsequenz vorgeworfen oder ihn für vorurteilsbelastet erklärt. Wenn man genau nachliest, erkennt man, dass Kant selbst strenger argumentiert und Eigentum bzw. Besitz nicht mehr als definitorisches Merkmal erwähnt, sondern abstrakter davon spricht, dass, wenn man als selbständig gelten will, »die bürgerliche Persönlichkeit in Rechtsangelegenheiten durch keinen Anderen vorgestellt« werden darf.
Achim Brosch hat jüngst überzeugend dafür argumentiert, dass hier in erster Linie diejenigen gemeint sein dürften, die als Kinder oder Diener eines Hauses in eine bestimmte Form der teilweisen Unfreiheit hineingeboren werden bzw. sich freiwillig dort hineinbegeben haben; etwa Knechte eines Hauses, die zwar qua ihres Menschenrechts laut Kant jederzeit kündigen dürfen und auch vor Misshandlungen geschützt sind, aber doch inhaltlich unbestimmt den Zwecken des Hausherrn zugeordnet sind. Sie ordnen sich in begrenzter Weise der Hausherrengewalt unter und werden in der Öffentlichkeit in der Tat durch ihn rechtlich »vorgestellt«, d. h. repräsentiert. Für Kant nehmen sie folglich nicht unmittelbar am öffentlich-politischen Rechtsverkehr teil. Das – relativ unstrittige – Gegenbild ist wieder derjenige, der als Grundeigentümer, Handwerker oder Staatsdiener sein eigener Herr ist und direkt am öffentlichen Leben teilhaben kann – er wird von niemand anderem repräsentiert und steht direkt unter der allgemeinen Staatsgewalt.
Verzwickt ist aber die Frage, wo die Lohnarbeiter einzusortieren sind. In Kants Vokabular: die »Lohndiener«; denjenigen also, die einen Vertrag abgeschlossen haben, der »die Bewilligung des Gebrauchs meiner Kräfte an einen Anderen für einen bestimmten Preis« enthält. Wem ist diese Personengruppe zuzuordnen? Ist der Lohnarbeiter frei genug, um politisch Mitgesetzgeber zu sein? Oder ist er ähnlich abhängig wie der Knecht bzw. Hausdiener, der rechtlich (wenn auch zeitlich und sachlich begrenzt) der Hausherrngewalt untergeordnet ist?
Ein Dilemma und seine Auflösung
Die Frage ist nicht leicht zu entscheiden, denn sie eröffnet ein Dilemma: Nimmt man an, dass derjenige, der ohne Amt und Eigentum sich als Arbeiter verdingen muss, eigentlich unselbständig sei, weil er ja materiell in enormer Abhängigkeit steht, so führt man einen ökonomisch-empirischen Begriff von Selbständigkeit in die Rechtslehre ein, die ja beansprucht, apriorische Rechtslehre zu sein. Man widerspräche also Kants formalen Programm. Nimmt man dagegen an, dass der Tagelöhner so frei ist wie der Grundbesitzer, Handwerker und Amtmann, widerspricht man der ganzen Semantik der Rechtsphilosophie, denn Kant bestimmt »Selbständigkeit« durchgehend doppelt: rechtlich und ökonomisch. Selbständig sei demnach, wer »seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines Anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften« verdanken kann. Existenz und Erhaltung, Rechte und Kräfte. In einer Anmerkung, die die Verständnisschwierigkeiten beheben soll, heißt es: »überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung anderer … genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit«. Schließlich tritt man semantisch nicht einfach in die Selbständigkeit ein, indem man etwa einen Lohnvertrag unterzeichnet, man muss sich »emporarbeiten«, wie es bei Kant wiederholt heißt.
Auch der Sachlogik des Textes liefe eine solche Verengung zuwider: Aufgabe der Rechtsphilosophie ist es, die innere Fähigkeit des Menschen, sein eigener Herr zu sein, d. h. sich äußerlich handelnd selbst zu bestimmen, unter konsistente rechtliche Bedingungen zu bringen. Soll man nun sagen, dass jemand, der materialiter von Kant durchweg als jemand beschrieben wird, der sich verdingen muss, der seine ganze Existenz jemand anderem verdankt, der womöglich räumlich und zeitlich knechtsanalog abhängig ist, stets »die Dienstlosigkeit derer, die kein Gewerb haben« fürchtet, der noch im Gemeinspruch zu den bloßen Schutzgenossen gezählt wurde, dass dieser jemand den Inbegriff bürgerlicher Selbständigkeit erfüllt? Andererseits: Wie soll man einen solchen materiellen Selbständigkeitsbegriff anbringen, wenn Kant programmatisch durchweg auf die formalrechtliche Nichtabhängigkeit zielt? Ist nicht der Tagelöhner formaliter in einer kategorisch gänzlich anderen Position als der Hausdiener?
Eine Lösung für dieses Dilemma bietet sich womöglich nur, wenn man von dieser inzwischen jahrzehntealten und diffizil geführten Debatte der Interpreten zurücktritt und sich fragt, ob hier nicht Fragen an den Text herangetragen werden, die womöglich noch nicht Kants Fragen waren. Man sieht der gesamten Diskussion an, dass sie einem späteren Jahrhundert entstammt. Einem Jahrhundert, dass um die Problematik der Industrialisierung, des Lohnvertrages und der Möglichkeit von Klassenkonflikten weiß. Nicht zuletzt ein Jahrhundert, in dem Lohnarbeit zum Normalzustand geworden ist. Ob Kant den formell frei geschlossenen Lohnvertrag für den Inbegriff bürgerlicher Selbständigkeit und damit der Erfüllung der Fähigkeit des Menschen, sein eigener Herr zu sein, hielt, oder im Gegenteil, diesen als deren Verneinung begreift, ist für die Kanon- und Antikanonbildung der politischen Weltanschauungen sicher relevant. Aber für Kant dürfte sie noch so gut wie keine Rolle gespielt haben. Historisch naheliegender wäre es, dass für Kant dasjenige, was die Interpreten analytisch gegeneinander ausspielen – materielle und formelle Freiheit – noch mehr oder minder ungetrennt zusammengehört.
Ein nachkantisches Problem
Womöglich nennt Kant deshalb ständig rechtliche und ökonomische Bestimmungen bürgerlicher und politischer Selbstständigkeit, weil der Unterschied 1797 eine andere und vielleicht auch geringere Bedeutung hatte als für uns. Ende des 18. Jahrhunderts konnte es durchaus noch naheliegen, davon auszugehen, dass der Austritt aus einem Hauswesen und damit der Dienstabhängigkeit, der Eintritt in die rechtliche Selbständigkeit, faktisch gleichursprünglich mit dem Versuch ist, auch ökonomisch selbständig zu werden. Frankreich und die deutschen Staaten waren überwiegend agrarisch geprägt, der Rest der Bevölkerung war im Handwerk tätig, das noch überwiegend mit einer geringen Gesellenzahl auskam und auf eigene Rechnung arbeitete. Der Rest war diesen beiden Gruppen als Angehörige zu- und untergeordnet oder gehörte zur kleinen Gruppe der staatlich-bildungsbürgerlichen Elite. Sicher gab es Tagelöhner, auch nicht gerade wenige, sonst kämen diese in Kants Werken kaum so häufig vor. Doch sie stellten in der Wahrnehmung der Zeit weder eine wachsende Klasse dar, noch schienen sie dauerhaft an die Gesetze einer industriellen Großproduktion gebunden zu sein. Wahrscheinlicher ist, dass Kant – wie ein Großteil liberaler französischer und deutscher Denker dieser Zeit 2 Vgl. Weber, Oliver (2024): Nationalökonomie als Geschichtsphilosophie. Zur Polemik des frühliberalen Eigentumsbegriffs (Manuskript).] – den Austritt aus der Hausdienstbarkeit mit der Hoffnung auf die Eröffnung eines eigenen Gewerbes, Handwerkes oder dem Erwerb einer eigenen Bauernparzelle verband. Wer mithin formalrechtliche Selbständigkeit erlangte, der war – nicht automatisch, aber tendenziell – auf der Suche nach einer solchen »gesicherten Nahrung«; wer sie nicht fand, trat schon bald wieder unter die Direktiven eines Hausherrn. Erst mit der Industrialisierung und dem offenkundigen Scheitern dieser liberalen Zukunftserwartung, die im Wesentlichen vorindustriellen Ursprungs war, sind die materielle und formale Dimension so deutlich und problemanzeigend auseinandergetreten, dass man an ihrer Thematisierung nicht mehr vorbeikam. Formell frei, aber materiell unfrei zu sein – das ist in dieser Dramatik ein nachkantisches Problem.
Wie ist die Lücke zu schließen, die sich aufgetan hat zwischen der ökonomischen Selbständigkeit des Menschen, die erst sein inneres Freiheitsrecht realisiert und ihn zum vertrauenswürdigen Mitgesetzgeber macht, und seiner rechtlich schon bestehenden formellen Freiheit, die nicht einkassiert werden kann, ohne auch den Sinn der materiellen zu zerstören? Kants praktische Philosophie konnte die rechtlichen Kategorien der Freiheit und Selbständigkeit bzw. Unfreiheit und Unselbständigkeit noch einigermaßen problemlos mit den ökonomischen Verhältnissen in Deckung bringen. Die rechtlichen Kategorien greifen hier noch unmittelbar auf die ökonomischen Zustände durch. Was analytisch auseinanderdividiert werden kann, ist sachlich noch eng aufeinander bezogen. Wenn wir, für die dieser unmittelbare Zugriff nicht mehr möglich ist, deshalb von Kant in dieser Frage etwas lernen wollen, dann dadurch, dass wir darauf verzichten, ihn durch einseitige Interpretationen für die eine oder andere politische Position zu vereinnahmen. Man müsste zugeben, dass hier ein Problem besteht, das immer noch der Lösung harrt.