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Patrick Kaczmarczyk: „Kapitalismus ohne Armut ist möglich.“

Ist ein besserer Kapitalismus möglich? In seinem neuen Buch »Raus aus dem Ego-Kapitlismus« bejaht der Entwicklungsökonom Patrick Kaczmarczyk diese Frage und schlägt die katholische Soziallehre zur normativen Fundierung eines besseren Kapitalismus vor. Unser Herausgeber Otmar Tibes hat mit ihm darüber gesprochen.

Herr Kaczmarczyk, Sie führen den krisenhaften Zustand unserer heutigen Welt auf den Ego-Kapitalismus zurück. Wofür steht dieser? 

Die zugrundeliegende Idee des Ego-Kapitalismus ist, dass alle Menschen in einer Volkswirtschaft unabhängig voneinander agieren und jeder für sein Schicksal selbst verantwortlich ist. Das hat eine Individualisierung gesellschaftlicher Probleme und Herausforderungen zur Folge. Armut wird zum Beispiel als rein individuelles Problem angesehen und meistens auf Faulheit zurückgeführt. Reichtum hingegen als die gerechte Belohnung für individuellen Fleiß und Eigenverantwortung. Gesellschaftlich tun wir so, als würde es uns allen besser gehen, wenn wir uns als isolierte Einzelwesen betrachten. In Hinblick auf den Klimawandel und auf soziale Probleme halte ich eine solche Ideologie für fatal.

Warum sprechen Sie nicht einfach von Kapitalismus? 

Weil es vor allem die Art der Ausgestaltung des Kapitalismus ist, die uns entweder um die Ohren fliegen oder für Stabilität sorgen kann. Die multiplen Krisen, die wir derzeit erleben, zeigen, dass der Ego-Kapitalismus leider für Ersteres sorgt. Die Ursachen dafür sind vielfältig, gründen aber primär in einer rücksichtslosen Ausbeutung der Natur sowie einem bisher recht erfolgreich geführten Klassenkampf von oben. Nichts veranschaulicht das besser als die Entwicklung der Lohnquote in den westlichen Industriestaaten, die die Verteilung des Einkommens zwischen Arbeit und Kapital abbildet. Seit den 1980er Jahren ist die Lohnquote kontinuierlich gesunken und hat sich auf niedrigem Niveau eingependelt. Der Hintergrund dieser Entwicklung ist die Verschiebung von Machtverhältnissen zwischen Arbeit und Kapital. Gewerkschaften wurden geschwächt, Tarifbindungen gelockert und das soziale Sicherungsnetz immer löchriger. Zudem wurde das Sicherungsnetz noch mit einem Stigma versehen. Zusammen hat dies das Prekariat in westlichen Industrieländern zur Norm gemacht. Das ist aber kein Naturgesetz, sondern die Folge politischer Entscheidungen.

Patrick Kaczmarczyk

Dr. Patrick Kaczmarczyk ist Entwicklungsökonom. Er promovierte als Stipendiat des Economic and Social Research Council (ESRC) am Institut für politische Ökonomie der Universität Sheffield. Derzeit ist er als Referent für Wirtschaftspolitik in Berlin tätig. Zuvor arbeitete er als Berater für die Vereinten Nationen zur Finanzmarktstabilität im globalen Süden sowie zur wirtschaftlichen Entwicklung in Ostafrika. Im Westend Verlag erschien zuletzt »Kampf der Nationen« (2022).

Mittlerweile stellt sich jedoch die Frage, inwiefern sich die Situation gewandelt hat? Überall klagen Unternehmen, dass ihnen Arbeitskräfte fehlen. 

Richtig. Allerdings muss man auch konstatieren, dass die Löhne nicht so steigen, wie man es bei der beklagten Knappheit erwarten würde. 2022 sind die Nominallöhne in Deutschland um magere 2,6 % gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Real sind sie aber um 4,0 % gesunken! Dieses Jahr zogen sie etwas an, sodass wir im zweiten Quartal ein Reallohnwachstum verzeichnen konnten – von 0,1 Prozent! Das alles zeugt nicht gerade von einer guten Verhandlungsposition seitens der Arbeit gegenüber dem Kapital. Diese Situation ist aber nicht allein für Arbeitnehmer schlecht, sondern gesamtwirtschaftlich problematisch, denn der Druck auf die Löhne würgt die Dynamik des Kapitalismus ab. Schließlich üben niedrige Löhne auch weniger Druck auf die Unternehmen aus, in neue Technologien zu investieren und so ihre Wettbewerbsfähigkeit über eine höhere Produktivität zu erhöhen. Stattdessen wird mit veralten Produktionsmethoden die Wettbewerbsfähigkeit über den Lohndruck erhöht, was mit weniger Risiko einhergeht als die Investition in etwas Neues. Für die Produktivitätsentwicklung und für die Lebensstandards insgesamt ist eine solche Entwicklung ein Desaster.

Aber hat der Ego-Kapitalismus – mit all seinem Individualismus – nicht auch die Armut reduziert? In den letzten 30 Jahren ist die Zahl der Menschen, die in externer Armut leben, von 2 Milliarden auf 650 Millionen zurückgegangen.

Es sind genau vier Länder, die ganz wesentlich für dieses Wunder in der Armutsbekämpfung verantwortlich sind: Indien, Indonesien, Vietnam und China. Allein ohne China würden die Zahlen schon ganz anders aussehen. Rechnen wir China raus, so hat die Armut sich von 1,1 Milliarden nur auf 680 Millionen Menschen reduziert. Rechnen wir noch die drei anderen Länder heraus – Indien, Indonesien und Vietnam – dann fallen die Fortschritte bei der Bekämpfung der Armut gegen Null: Von 550 Millionen Menschen sind 530 Millionen Menschen unter der Schwelle von 1,90 US-Dollar pro Tag geblieben. Insbesondere in Afrika südlich der Sahara, Lateinamerika und einiger Teile Südasiens sind nennenswerte Erfolge ausgeblieben.

Der Erfolg beschränkt sich nichtsdestotrotz auf bevölkerungsreiche Staaten, allen voran China. In wenigen Jahrzehnten hat die Volksrepublik sich aus einem Entwicklungsland in ein aufstrebendes Land entwickelt.

Das stimmt. Allerdings ist das gerade nicht das Ergebnis einer neoliberalen Entwicklungspolitik, so wie sie den Ländern des globalen Südens allzu oft aufgezwungen wurde. Der IWF und die Weltbank haben vor über 30 Jahren zur Doktrin erhoben, dass Staaten ihre Ausgaben kürzen, Kapital- und Gütermärkte liberalisieren und – überspitzt formuliert – alles privatisieren müssen, was sich privatisieren lässt. Im Gegensatz zu den Entwicklungsländern im globalen Süden hat die Kommunistische Partei in China aber eine völlig andere Politik umgesetzt. Sie hat die Märkte nur schrittweise liberalisiert, strategisch wichtige Sektoren gefördert, Finanzmärkte stark reguliert und ausländische Direktinvestoren zum Zugang zu deren Technologie verpflichtet. Eigentlich ist das die gesamte Palette dessen, was den Ländern im globalen Süden vom IWF immer verwehrt geblieben ist.

Was halten Sie als Entwicklungsökonom von den Schwellenwerten, mit welchen Armut heute global gemessen wird?  

Die enorme Fokussierung auf Schwellenwerte in der Armutsdebatte ist problematisch. Extreme Armut lässt sich nicht an einem Tageseinkommen von 1,90 US-Dollar oder 2,15 US-Dollar festmachen. Insbesondere bei einer hohen Konzentration sehr niedriger Einkommen ist es illusorisch zu meinen, dass marginale Verbesserungen einen erheblichen Effekt auf den Lebensstandard haben. Zwar fallen die Menschen aus der Statistik, sobald sie 10 Cent mehr pro Tag verdienen und damit über eine bestimmte Armutsschwelle kommen. Das suggeriert jedoch Veränderungen, die es in der realen Lebenswirklichkeit faktisch gar nicht gibt. Zumindest bei der UNO werden deshalb umfassendere Indikatoren parallel zur Einkommensentwicklung mitanalysiert, die auch etwas über die Trinkwasserversorgung, den Hunger, Krankheiten und die Wohnumstände sagen.

Und wie sieht der Schwellenwert für Deutschland bzw. die reichen Länder des globalen Nordens aus?

Es ist immer noch beschämend, wie manche bestreiten, dass Armut im globalen Norden überhaupt existiert. Sie argumentieren, dass Armut im Grunde fiktiv sei, da sich die Armutsquote aus 60 % des mittleren Einkommens im jeweiligen Land ergibt. In Deutschland entspricht das einem Nettoeinkommen von 1145 EUR für einen Singlehaushalt. Wie man bei den gegenwärtigen Miet-, Energie- und Lebensmittelpreisen ein normales Leben mit diesem Geld leben will, bleibt mir schleierhaft. In Deutschland verdienen unglaubliche 14,1 Millionen Menschen weniger als 60 % des mittleren Einkommens. 2021 erreichte die Armutsquote deshalb einen Höchstwert: 16,9 %!

Interessanterweise vollzog sich diese Entwicklung trotz eines Beschäftigungsbooms in Deutschland.

Richtig. Und mit einer Arbeitslosenquote von 5,7 % (2022) steht Deutschland heute im internationalen Vergleich noch einigermaßen gut da. Doch während die Arbeitslosigkeit bis zum Ausbruch der Coronapandemie Jahr für Jahr zurückging, stieg die Armutsquote im gleichen Zeitraum kontinuierlich an. Immer mehr Erwerbstätige sind nämlich in die Armut gerutscht. Ganze 27 % der Armutsbetroffenen sind heute erwerbstätig! Zugleich stagnierten bzw. gingen auch die Realeinkommen zurück. Der Rückgang der Realeinkommen betraf jedoch nicht die gesamte Gesellschaft. Für die oberste Schicht der Einkommens- und Vermögenspyramide ging es in der Zeit der „Abstinenz der Vielen“ steil bergauf.

Zum Ausbau des Niedriglohnsektors sowie der weitgehenden Stagnation der Reallöhne seit dem Jahr 2000 kommt hinzu, dass der Arbeitslohn in Deutschland so hoch besteuert wird wie in kaum einem anderen Land. Kapital hingegen wird in Deutschland so niedrig besteuert wie sonst nirgendwo. 

Das ist gerade dann gefährlich, wenn die Lebenshaltungskosten aufgrund steigender Preise explodieren. Dann haben selbst Menschen mit mittelstarken Einkommen keine Möglichkeit mehr Ersparnisse zu bilden. Sie müssen ihr ganzes Geld für die Miete und andere monatlichen Kosten ausgeben. Inzwischen liegt der Anteil, der überhaupt keine Ersparnisse mehr hat, schon bei 40 % in Deutschland. Fast die Hälfte lebt von der Hand in den Mund und hat keine Absicherung im Falle unvorhergesehener Schicksalsschläge. 

Das Gros aller Ersparnisse wird von der bessergestellten Hälfte der Gesellschaft – allen voran von Spitzenverdienern – und Unternehmen zurückgelegt.

Richtig. Die Summen belaufen sich mittlerweile auf 160 Milliarden EUR. Das entspricht 4 % der Wirtschaftsleistung. Und das ist ein großes Problem. Denn gerade in Zeiten multipler Krisen bergen diese gegenläufigen Entwicklungen eine hohe gesellschaftliche Sprengkraft. Sie können eine Demokratie in eine schwere Krise stürzen, wenn immer mehr Menschen sich von demokratischen Parteien ab- und antidemokratischen Parteien zuwenden. Schon jetzt schlägt der Frust der Menschen sich im Erfolg rechtspopulistischer Parteien nieder. 

Auffällig ist auch, dass die Ideologie des Ego-Kapitalismus mit der Ideologie rechtspopulistischer Parteien gut zusammenpasst. In beiden Ideologien ist jeder seines eigenen Glückes Schmied. Das heißt Menschen, die an den unteren Rand unserer reichen Gesellschaft gedrängt werden, sind für ihre Misere selbst verantwortlich. 

Und so braucht man sich über systemische Fehlkonstruktionen keine Gedanken mehr machen. Wenn es um Menschen geht, die in unserer reichen Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, wird nicht die Politik oder etwaige Lebensumstände hinterfragt, die dafür verantwortlich sein könnten. Nein, es sind immer mangelnde Eigenverantwortung, Faulheit und Unvermögen, die zur Arbeitslosigkeit führen. Wer wirklich arbeiten will, der findet auch Arbeit, wird allgemein unterstellt. Wir finden einen ganz ähnlichen Schuldzuweisungsmechanismus übrigens in Diskussionen zur wirtschaftlichen Entwicklung im globalen Süden. Auch hier wird den Entwicklungsländern die Verantwortung für ihre Misere zugeschoben, ohne dass wir uns über systemische Fehlkonstruktionen Gedanken machen. 

Sie sagen trotzdem, dass Sie nicht grundsätzlich gegen den Kapitalismus sind. Ein gewisses Maß an Ungleichheit in der Gesellschaft halten Sie sogar für wünschenswert, schreiben Sie. Welchen Gegenvorschlag haben Sie zum Ego-Kapitalismus? Einen Gemeinwohl-Kapitalismus?

Mir schwebt ein Kapitalismus vor, in dem die Wirtschaft den Menschen dient, also ein Mittel zum Zweck wird. Wir erleben jedoch das Gegenteil, nämlich die Hegemonie der Idee, dass der Mensch sich dem Diktat des Marktes beugen müsse. Diese Brutalität wird zugleich in ein moralisches Gewand gekleidet, das den rücksichtlosen Egoismus als Wert und Tugend darstellt und so eine Politik gegen die Interessen der Mehrheit legitimiert.

Brauchen wir zur Bewältigung heutiger Krisen also neue Werte?

Der Ego-Kapitalismus mit seinen Werten wird uns jedenfalls nicht retten. Die Überzeugungskraft seiner Ideologie erschöpft sich auch zunehmend. Das eröffnet wiederum die Chance, an die normativen Grundfesten der westlichen Staaten zu gehen. In meinem Buch schlage ich einen Ausweg aus dem sozioökonomischen und ökologischen Desaster über die katholische Soziallehre vor. Diese weist einen überraschenden Reichtum an Prinzipien und Leitbildern auf, die dem wirtschaftspolitischen Egoismus in fundamentaler Weise entgegenstehen.

Interessante Wahl. Wollen Sie uns sagen, dass man heute wieder religiöser werden muss? 

Prinzipiell würde es nicht schaden, wenn man sich zumindest von der Religion inspirieren lässt. Die christliche Etymologie des Begriffs führt den Ursprung einerseits auf das Wort „relegare“ zurück, also von dem Verb „verbinden“ oder „anbinden“, und andererseits auf das Wort „relegere“ und das bedeutet „überdenken“. Beides zusammengedacht kann die Richtung vorgeben, wenn es darum geht, den die Menschen und den Planeten schädigenden Ego-Kapitalismus hinter uns zu lassen: mehr Miteinander und das Überdenken des bisherigen Ansatzes. Zusammen mit Amartya Sens Idee der Freiheit kann uns die katholische Soziallehre dabei helfen, ein Gegenmodell zum Ego-Kapitalismus zu entwerfen.  

Was haben die katholische Soziallehre und Amartya Sen gemeinsam?

Beide haben dieselbe Zielsetzung, nämlich die Entfaltung unserer Begabungen, Talente und Fähigkeiten. Es ist daher wenig überraschend, dass die menschliche Freiheit sowohl in der Soziallehre als auch bei Amartya Sen eine zentrale Rolle spielt. Die Aufgabe des Staates besteht in der Soziallehre darin, dafür zu sorgen, dass die Menschen einen Rahmen haben, um ihre Persönlichkeit in Freiheit und Würde entfalten zu können. Freiheit verwirklicht sich also nicht in einer völligen Autarkie des eigenen Ichs ohne Bezug auf den anderen, sie existiert nur dort, wo gegenseitige Bindungen, die von Solidarität und Gerechtigkeit bestimmt sind, die Menschen vereinen. 

Die Soziallehre erkennt also, dass es zur Entfaltung der persönlichen Freiheit einer funktionierenden Gesellschaft bedarf. 

Richtig. Und für eine funktionierende Gesellschaft braucht es Sozialstandards. Da ist die Armut ein ganz zentrales Thema, denn sie verhindert, dass wir die Potentiale, die uns gegeben sind, entfalten können. Das ist überall so: im Norden und im globalen Süden. 

Und wie ist ein Kapitalismus ohne Armut möglich?

Indem man das Recht auf Privateigentum mit dem Gemeinwohl verbindet. Die Kapitalakkumulation hat in der katholischen Soziallehre nur dann eine Existenzberechtigung, wenn sie zum Wohle der Allgemeinheit eingesetzt wird. Natürlich muss das nach mehr als 40 Jahren neoliberaler Indoktrination erstmal befremdlich klingen. Aber eigentlich ist die Position gar nicht mal so radikal, wenn man ins Grundgesetz guckt und Artikel 14 liest. Vielen Libertären, Konservativen und Liberalen wird der Puls dennoch hochgehen, wenn sie lesen, dass die Kirche das Recht auf Privateigentum mit dem Einsatz für das Allgemeinwohl verknüpft.  

Und wie wollen Sie die Kapitaleigentümer darauf verpflichten ihr Kapital zum Wohle der Allgemeinheit einzusetzen? 

Das ginge über ordnungs- und steuerpolitische Maßnahmen, also im Grunde eine Rückabwicklung der Regulierungen, die einen Kapitalismus für die 1 % geschaffen haben. Aber wir müssen in der Gesellschaft auch grundsätzlich an unserer Denkweise über die Wirtschaft arbeiten. Die Architekten des Ego-Kapitalismus haben es geschafft, dass wir uns über systemische Zusammenhänge keine Gedanken mehr machen, dafür die ganze Zeit aber mit uns selbst beschäftigt sind. Die katholische Soziallehre korrigiert das. Komplementär zur Soziallehre braucht es für die Umsetzung natürlich auch das nötige Werkzeug einer makrofundierten Ökonomik, die die Dynamik und Wechselwirkungen eines komplexen Wirtschafts- und Geldsystems adäquat abbildet und Instrumente aufzeigt, mit denen die Ziele erreicht werden können.

Vielen Dank für das Gespräch!