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Patrick Kaczmarczyk: „Schumpeter kann dynamische Entwicklungen besser erklären.“

Je mehr Wettbewerb es gibt, desto mehr wirtschaftliche Dynamik bekommen wir. Zumindest ist das ein Grundsatz der heutigen Wirtschaftspolitik in Deutschland und der EU. Doch was ist, wenn wir dieses Modell von Grund auf neu denken müssen? Mit Patrick Kaczmarczyk hat unser Herausgeber Otmar Tibes über ein Gegenmodell gesprochen, das wirtschaftliche Dynamik besser begreift und auf der Arbeit des österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter beruht.

Herr Kaczmarczyk, Ihr neues Buch trägt den Titel vom „Kampf der Nationen“. Im Untertitel sprechen Sie von einem wirtschaftlichen Wettbewerb, der unsere Zukunft zerstört. Was ist das für ein Wettbewerb, den Sie in Ihrem Buch problematisieren?

Im Grunde unterscheide ich zwei verschiedene Arten von Wettbewerbspolitik. Auf der einen Seite jene, die auf der Neoklassik beruht und die wir heute auch in der EU haben. Sie wird unter anderem von der Vorstellung geleitet, dass alle Produktionsfaktoren möglichst flexibel und effizient sein müssen. Das bedeutet in der Folge, dass Firmen andauernd ihre Produktion optimieren und versuchen immer effizienter zu werden. Auf der anderen Seite steht bei mir ein schumpeterianischer Wettbewerb, bei dem es weniger um Effizienz und ständige Optimierung geht, sondern um Innovation. Dieser Wettbewerb muss so ausgestaltet sein, dass Länder sich gegenseitig nicht in Grund und Boden konkurrieren. Denn anders als beim Boxkampf ist es so, dass niemand etwas davon hat, wenn ein Land wirtschaftlich geschlagen wird. In der wirklichen Welt sind dann nämlich alle Verlierer. Das ist eine Botschaft dieses Buches. 

Problematisiert wird also vor allem der europäische Wettbewerb, wie er heute ist?

Das ist richtig. Ich gehe aber auch ein bisschen auf die globale Komponente ein. Man muss jedoch dazu sagen, dass die Globalisierungs-These in den vergangenen Jahren stark überbewertet worden ist. Sicherlich gibt es bestimmte Globalisierungstendenzen. Noch viel extremer ist aber die Vertiefung der regionalen wirtschaftlichen Integration. Das wird leider oft übersehen. Wir können das aber in Europa erkennen, wenn wir uns die Vertiefung des europäischen Binnenmarkts angucken. Ebenso können wir das auch in den USA oder Lateinamerika sehen, wenn man sich zum Beispiel NAFTA oder Mercosur anguckt. Und selbstverständlich finden wir Integration und Vertiefungen regionaler Wirtschaftsbeziehungen auch in Afrika und Asien. All diese Vertiefungen gehen noch viel weiter als die globalen, was man auch am Distance-of-Trade-Effekt sehen kann. Das ist einer der hartnäckigsten Faktoren, die wir empirisch beobachten können. Der Effekt besagt, dass geographische Distanz einen großen Einfluss auf den Handel hat. Im Englischen gibt es diese Faustformel: You double the distance, you half the trade. Und das hat sich in den letzten 150 Jahren wenig geändert. Vielleicht ist das kontraintuitiv, weil die meisten Menschen heute schnell davon ausgehen, dass die Welt mittlerweile ein Markt ist. Der Koeffizient ist allerdings sehr hartnäckig.

Patrick Kaczmarczyk

Dr. Patrick Kaczmarczyk ist Entwicklungsökonom. Er promovierte als Stipendiat des Economic and Social Research Council (ESRC) am Institut für politische Ökonomie der Universität Sheffield. Derzeit ist er als Referent für Wirtschaftspolitik in Berlin tätig. Zuvor arbeitete er als Berater für die Vereinten Nationen zur Finanzmarktstabilität im globalen Süden sowie zur wirtschaftlichen Entwicklung in Ostafrika. Im Westend Verlag erschien zuletzt »Kampf der Nationen« (2022).

Wir müssen deshalb vor allem in der Eurozone zusehen, dass wir einen vernünftigen Binnenmarkt konstruieren, bevor irgendwelche Freihandelsabkommen geschlossen werden. Problematisch daran ist nämlich, dass die Welthandelsorganisation seit einigen Jahren tot ist. In der Doha-Runde haben viele Entwicklungsländer gesagt, dass sie sich nicht mehr vom Norden ausbeuten lassen wollen. Seitdem regulieren Länder, die global mächtiger sind, ihre Handelsbeziehungen über bilaterale Verträge. An sich hat das nicht mehr viel mit Freihandel zu tun hat. Jagdish Bhagwati von der Columbia University hat internationale Handelsverträge deshalb auch als Spaghetti Bowl bezeichnet. Wie Spaghetti sind die Handelsbeziehungen durch bilaterale Verträge so zusammengekleistert, dass am Ende überhaupt nichts mehr geht. Wenn man das Problem angehen wollte, müsste man jedoch zu einem genuinen Multilateralismus zurückkehren. Darüber hinaus operieren wir in einem Währungssystem, das völlig irre ist. Es finden regelmäßige Preisverzerrungen nach oben und nach unten statt. Wechselkurse spielen völlig verrückt aufgrund von Spekulation. Da kann man natürlich keinen Freihandel machen. Diese ganzen großen Faktoren muss man mitbedenken und wenn wir dann von Wettbewerb sprechen, sollte Wettbewerbsfähigkeit natürlich international durch Wechselkurse ausgeglichen werden. In der Eurozone haben wir das Problem der Wechselkurse nicht mehr. Deshalb müssen wir uns stärker darauf fokussieren wie Länder in der Eurozone miteinander in Konkurrenz stehen sollten. In den letzten 25 Jahren fand ein Race to the bottom statt. Der Maßstab der Wettbewerbsfähigkeit sind die Lohnstückkosten, also die Löhne im Verhältnis zur Produktivität. Findet hier eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit primär über Lohnsenkungen statt und nicht über Produktivitätssteigerungen, dann haben wir ein Problem, denn damit werden Nachfrage und Dynamik abgewürgt. Das kann nicht funktionieren.

Die europäische Währungsunion ist ein Fortschritt. Dennoch herrscht eine Wettbewerbspolitik vor, die Prosperität und Gleichgewicht auf möglichst freien Märkten begründet. Sie sehen die Effekte dieser Wettbewerbspolitik kritisch. Würden Sie so weit gehen, dass sie auch selbstzerstörerisch wirken?

Ja, absolut. Der Euro war eine gute Idee. Aber die Art, wie er ausgestaltet wurde, wirkt selbstzerstörerisch. Man kann einfach keine Währungsunion haben, ohne dass man auch eine Lohnkoordination hat. Das geht nicht, weil dann die Inflationsraten auseinandergehen, ohne dass Länder ihre Währung abwerten und so ihre Wettbewerbsfähigkeit aufwerten können. Und das ist schon fatal. Hinzu kommt die Denkweise, dass man glaubt, dass Wirtschaftspolitik gleich Unternehmerpolitik sei. Länder sollen wie Unternehmen einfach ihre Kosten senken und so ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern. Für mein Buch habe ich auf die Zitate der Europäischen Kommission zurückgegriffen, die diese Wettbewerbsideologie begründen. Effizienz und geringe Kosten werden immer und überall hochgehalten. Aber was sagt das schon darüber aus, ob es den Menschen gut geht oder nicht?! Das entscheidet das Niveau der Produktivität und das Realeinkommen. Das sind die Faktoren, auf die man gucken müsste. Die Hauptsache ist also weniger ob man nominal geringe Löhne hat oder nicht. Man muss beides ins Verhältnis zur Produktivität und zum Realeinkommen setzen. Dennoch heißt es, dass alles super effizient und kostengünstig sein muss. So würde die Wirtschaft gen Gleichgewicht tendieren, was bei den gegebenen Produktionsstrukturen dafür sorgt, dass der Wohlstand der Gesellschaft maximiert werden würde. Das ist Unfug und hat nichts mit der Realität zu tun.  

Sie haben bereits Joseph Schumpeter erwähnt. Wie kommt er hier ins Spiel?

Schumpeter war ein harscher Kritiker der Neoklassik, auf der die Denkweise der europäischen Wirtschaftspolitik beruht. Der Neoklassik zufolge sind Märkte effizient und streben zum Gleichgewicht. So funktioniert wirtschaftliche Entwicklung allerdings nicht. Wirtschaftliche Entwicklung ist ein Prozess von Ungleichgewicht zu Ungleichgewicht. Joseph Schumpeter hat herausgearbeitet, dass eine Volkswirtschaft sich nur in einem unvollkommenen Wettbewerb entwickeln kann. Wenn wir einmal überlegen, was das überhaupt ist, ein sogenanntes Gleichgewicht, dann kommen wir auf eine Situation, in der nichts mehr passiert. Das soll heißen: Die Investitionen, die dann noch getätigt werden, werden nur getätigt, um bestehende Maschinen zu erneuern oder Straßen auszubessern, die kaputt sind. Das ist so das, worauf die Investitionen sich dann beschränken. Von der Produktionsweise wird alles so gemacht wie immer. Es gibt auch keine Möglichkeit irgendwie was anderes zu machen, weil man sofort aus dem Markt fliegt, sobald man ineffizient ist. Bei Schumpeter allerdings ist es so, dass eine Wirtschaft sich gerade nicht durch Effizienz und Optimierung entwickelt, sondern durch Innovation. Er spricht von einer Neukombination von Arbeit und Kapital, die dem Pionier, der diese Neukombination einführt, einen relativen Kostenvorteil gibt, der sich aus einer höheren Produktivität ergibt. Also nehmen wir mal ein einfaches Beispiel: Ein Bauer geht über sein Feld und sammelt mit seiner Sichel das Getreide auf. Und dann erfindet ein Pionier einen Trecker, mit dem man in wenigen Minuten erledigen kann, was der Bauer in acht Stunden erledigt. Das verschafft dem Pionier natürlich einen enormen Produktivitäts- und Preisvorteil, weil er sein Getreide dann günstiger anbieten kann als der Sichelbauer. Oder er profitiert von höheren Margen. Durch die Einführung der Innovation erlangt der Pionier jedenfalls enorme Vorteile und die Unternehmen, die überleben wollen, müssen sich da anpassen, damit sie auf dasselbe Niveau der Produktivität kommen und wettbewerbsfähig bleiben. Und dadurch, dass alle Unternehmen dann den Pionier imitieren, steigt das Produktivitätsniveau in der Volkswirtschaft insgesamt und das ist das, was den Lebensstandard erhöht. Nichts anderes.

Gibt Schumpeter also einen theoretischen Rahmen dafür ab, um zu einer Wettbewerbspolitik zu kommen, die mehr auf Innovation und Produktivität als auf Effizienz und Optimierung setzt?

Schumpeter ist schon sehr brauchbar, weil er der einzige Ökonom ist, der eine Theorie einer dynamischen Entwicklung entworfen hat. Darauf gehe ich auch recht ausführlich und hoffentlich nicht zu trocken in meinem Buch ein. Die Neoklassik und die Modelle, die in nahezu allen Institutionen verwendet werden, sind dagegen statisch aufgebaut. Da gibt es überhaupt keine Dynamik. Man versucht es dynamisch zu modellieren, aber in der Essenz wird immer noch in Gleichgewichten gedacht. Irgendwann kommt ein Anstoß von außen und dann passt die Wirtschaft sich an und kommt in ein neues Gleichgewicht. Das, was die Wirtschaft dann bewegt, wird in dieser Theorie überhaupt nicht erklärt. Schumpeter kann dynamische Entwicklungen sehr gut erklären und deswegen kann es auch sinnvoll sein auf dieser Basis Wettbewerbs- und Wirtschaftspolitik zu machen. Und wenn man erstmal ein dynamisches Verständnis von Wirtschaft hat, dann lautet eine Schlüsselfrage, was wir eigentlich brauchen, um eine dynamische Entwicklung voranzutreiben? Da kommen dann Dinge wie stabile Rahmenbedingungen für Investitionen ins Spiel, also dass die Zinsen niedrig sind. Das ist für Schumpeter ganz wichtig. Und natürlich auch, dass wir in einem Fiat-Geldsystem leben. Also jetzt gerade nicht das, was die ganzen Goldbugs und Bitcoiner vorschlagen, dass man Geld irgendwie durch Gold deckeln müsste. Sondern genau das Gegenteil, nämlich dass man Geld aus dem Nichts schaffen kann, um etwas neues zu schaffen. Also praktisch Kapital schaffen kann, das nicht irgendwo anders in der Produktion steckt. Dabei gehen natürlich auch Dinge schief. Doch wenn etwas schief geht ist das nicht weiter schlimm, so lange die vielen guten Sachen, die unser Leben verbessern, sich durchsetzen und adaptiert werden.

Wie verhält sich aus schumpeter’scher Sicht nun die Innovation im Verhältnis zur Effizienz? 

Nun, es gibt natürlich gewisse Effizienzprozesse. Das kann man nicht leugnen. Wenn eine Innovation eingeführt wird, dann finden natürlich auch solche Prozesse statt. Schumpeter fasst dies unter dem Begriff der Anpassung zusammen. Worauf man aus politischer Sichtweise aber achten muss, ist, dass die Dynamik insgesamt nicht abnimmt. Man muss zu der Einsicht gelangen, dass Innovationen durch Investitionen entstehen und Investitionen nur entstehen, wenn es gute Rahmenbedingungen dafür gibt. Also einen stabilen Niedrigzins und eine stabile Nachfrage. Politisch muss man zudem auf eine dynamische Lohnpolitik setzen, die Unternehmen zum Investieren zwingen. Dann würde man den Unternehmen klarmachen, dass die Löhne langfristig um so und so viel Prozent steigen und sich das auch nicht aufhalten lässt. Die Löhne steigen dann entlang dieser goldenen Regel. Als Unternehmer muss man sich dann überlegen was getan werden kann, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Wenn man eine gute Tarifbindung hat, dann kann man die eigene Wettbewerbsfähigkeit nicht durch irgendwelche Lohnsenkungen erhöhen. Das heißt also, dass man wettbewerbsfähiger werden muss, indem man investiert. Anstatt also Lohnkosten zu senken könnte man in neue Maschinen oder Computerprogramme investieren, durch welche neue Innovationen entstehen und Anpassungseffekte hervorgerufen werden. Wenn dann bestimmte Jobs wegfallen, weil sie eben nicht mehr benötigt werden, dann entstehen gleichzeitig neue Jobs in anderen Sektoren. Dafür sorgt dann eine solide Lohnpolitik und wenn nötig auch Fiskalpolitik, die keinen Raum für das Entstehen von Arbeitslosigkeit lässt.

»Kampf der Nationen. Wie der wirtschaftliche Wettbewerb unsere Zukunft zerstört« ist am 07.02.2022 im Westend-Verlag erschienen.

Wie weit würden Sie hier gehen? Muss man Wirtschaft dynamisch denken?

Also meines Erachtens muss man unsere Wirtschaft dynamisch denken, weil es ein dynamisches System ist. Das System statisch zu denken verursacht eben die ganzen Probleme, die wir hier in Europa mittlerweile haben. Anderswo hat man das begriffen. Wenn man zum Beispiel die politischen und gesellschaftlichen Probleme in China ausklammert, dann kann man schon gut erkennen, wie eine dynamische Entwicklung funktionieren kann. Ziele zur Steigerung der Produktivität und der Realeinkommen sind ein Standard der dortigen Wachstumsproramme. Und in den letzten Jahren wurde auch zunehmend begriffen, dass die Lohnpolitik ein entscheidender Hebel ist, um voranzukommen. Vor allem über den Mindestlohn hat man da extrem viel gemacht. Und mittlerweile haben einige Billig-Produzenten das Land auch verlassen, weil es von den Lohnkosten her zu teuer geworden ist. Aber solche Jobs will man auch gar nicht haben. Das Ziel muss schließlich sein, dass billige Produktion sich nicht mehr lohnt. Und wenn man die Lieferkette dann ganz zu Ende denkt, dann müssen wir irgendwann dahin kommen, dass überall menschenwürdige Arbeitsverhältnisse herrschen, sodass es keine Ausbeutung mehr in der Produktion gibt. 

Welche Rolle nimmt in diesem Rahmenwerk der Staat ein und wie könnte man mit sozialen Misständen umgehen, die bereits bestehen oder durch eine dynamische Wirtschaftspolitik entstehen?

Der Staat ist, wenn man Schumpeter insgesamt liest, der Manager der „schöpferischen Zerstörung“. Er schafft Rahmenbedingungen, Infrastruktur und sorgt für die Finanzierung von Forschung und Entwicklung. Er ist also ein ganz entscheidender Akteur. Insbesondere auch was die Finanzierungsbedingungen und was die Lohnpolitik angeht. Die goldene Regel, nach welcher die Löhne im Verhältnis zur Produktivität und Zielrate der Zentralbanken immer steigen, gilt nicht nur für bestimmte Sektoren, sondern gesamtwirtschaftlich. Weil das ein gesamtwirtschaftliches Konzept ist, gibt es natürlich auch verschiedene Instrumente, die man dafür nutzen kann. Zum Beispiel die Tarifbindung. Anfang der 2000er Jahre wurde unglaublich viel politischer Druck ausgeübt, um Tarifverträge aufzuweichen und Löhne zu drücken. In meinem Buch gehe ich am Beispiel der Automobilindustrie ausführlich darauf ein. Wenn über die Tarifschiene viel verschlechtert werden kann, dann kann über diese Schiene auch viel verbessert werden. Zumindest wenn man sich an der goldenen Lohnregel orientiert. Man kann aber natürlich auch viel über den Mindestlohn machen. Insgesamt muss jedoch immer die Grundidee sein, dass das Erwirtschaften von Wohlstand ein kollektiver Prozess ist. Man hat auch in der Corona-Krise wieder gesehen, dass die Sektoren, die extrem prekäre Sektoren sind, die Gesellschaft am Laufen halten. Man kann deshalb nicht sagen, dass Innovation allein für wirtschaftlichen Erfolg verantwortlich ist. Das wäre völliger Unfug. Erfolgreiche Unternehmen könnten keine drei Tage überleben, wenn gewisse Grundbedingungen nicht erfüllt sind. Dazu muss man auch das Ökosystem zählen, in dem gewirtschaftet wird. Es bringt ja nichts alles so weiterzumachen wie bisher, wenn von unserem Planeten am Ende nicht mehr viel übrigbleibt. Und was den Strukturwandel in der Arbeitswelt angeht, da benötigen wir einen großzügigen Wohlfahrtsstaat, der die Menschen absichert. Ein Wandel, bei dem sehr viele Jobs wegrationalisiert werden, zum Beispiel in der Autoindustrie, muss sozial gemanaged werden. Über eine gute Absicherung von Arbeitslosen, die dann deutlich länger brauchen, bis sie wieder etwas finden, kann man einen Strukturwandel hinbekommen. Man sollte den Menschen schon jetzt mehr Zeit lassen. Viele Studien zeigen, dass das Job-Matching deutlich besser ist, wenn man länger Arbeitslosengeld zahlt. Das machen die skandinavischen Länder zum Beispiel sehr gut. Darüber hinaus braucht man auch qualitativ hochwertige Umschulungen und Trainingsprogramme. Wie das dann alles im Detail aussieht, muss man sehen. Ich habe in meinem Buch den Begriff vom „Manager der schöpferischen Zerstörung“ gewählt und am Beispiel von Carsten Spohr, dem Konzernchef der Lufthansa, erläutert, dass dieser „im Detail“ überhaupt keine Ahnung davon hat, was in seinem Unternehmen täglich alles so passiert. Für das Klein-Klein sind andere zuständig. Carsten Spohr trifft jedoch strategisch wichtige Entscheidungen. Eine ähnliche Rolle nimmt auch der Staat ein. 

Es soll also umfangreiche soziale Absicherungen geben sowie eine progressive Lohnpolitik und gleichzeitig auch attraktive Investitionsbedingungen, um die Innovationsfreudigkeit von Unternehmen zu fördern. Bei dieser Dynamik wird das Prinzip der Kapitalakkumulation aber beibehalten, wenngleich man die Akkumulation durch neue Rahmenbedingungen in eine ganz bestimmte Richtung lenken will. Schließlich auch in eine andere Art des Wettbewerbs. 

Ja, ich glaube, dass es politisch nicht zielführend ist, wenn man nach einem komplett anderen System sucht. Dann müsste man wirklich versuchen von Grund auf alles neu zu strukturieren. Das kann bei einer hochkomplexen Gesellschaft aber nicht funktionieren. Wir leben nun mal im Kapitalismus und müssen gucken wie wir die Instrumente, die wir haben, benutzen können, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Nicht nur jetzt sondern auch im Alter. Und das geht eben nur, wenn man die Dynamik des Systems vernünftig versteht. Ich glaube, von dem, was wir haben, hat der Kapitalismus auch tatsächlich das größte innovative Potenzial. Es mag sein, dass es irgendwo noch andere Systeme gibt, die viel besser und schöner sind, aber von denen wissen wir noch nichts. Das heißt also, dass der Kapitalismus das größte innovative Potential hat, um unser aller Leben zu verbessern. Man muss es eben nur vernünftig institutionalisieren und man muss die richtigen Hebel setzen. Und das ist in den letzten 20 bis 30 Jahren nicht passiert. Nach dem Weltkrieg gab es eine Phase wo ein bisschen mehr verstanden wurde, aber bei weitem noch nicht alles umgesetzt wurde, was hätte umgesetzt werden können. Und das betrifft natürlich auch die Entwicklung des globalen Südens. Vor allem in Deutschland muss man nochmal intensiver darüber nachdenken. Ich habe das Gefühl, dass Entwicklungspolitik ein bisschen etwas ist, was nur wenige Leute in Deutschland interessiert. Auch das ist ein Bereich in dem ein Umdenken stattfinden muss. Dazu braucht man aber ein vernünftiges theoretisches Grundverständnis wie Kapitalismus funktioniert. Und das ist eben kein „Kampf der Nationen“ oder ein Kampf, bei welchem andere Länder in Armut gehalten werden. Es könnte auch ein Modus sein, in dem Wohlstand durch Kooperation geschaffen wird. Ein Wohlstand, der natürlich auch nachhaltig und fair ist. John Maynard Keynes hat in seinem Essay „Economic Possibilities for Our Grandchildren“ die Produktivitätsentwicklung ganz gut vorhergesagt für die nächsten hundert Jahre. Aber er meinte auch, dass wir nur 15 oder 20 Stunden die Woche arbeiten müssen und es uns allen gut gehen wird. Wir machen dann mal hier und mal da was und halten uns in der Natur auf und so weiter. Davon sind wir heute aber extrem weit entfernt.

Das erinnert an die marxsche Beschreibung des Kommunismus aus der „Deutschen Ideologie“. Die allgemeine Produktion ist so geregelt, dass die Menschen heute dies und morgen jenes tun können. Morgens jagen, nachmittags fischen und nach dem Essen kritisieren, ohne Jäger, Fischer oder Kritiker werden zu müssen. Von einer solchen Organisation sind wir natürlich sehr weit entfernt. 

Ja, leider. Letztlich geht es mir aber darum zu verstehen, dass die Produktivitätszuwächse in den letzten 15 bis 20 Jahren sehr klein ausgefallen sind. Und klar, wenn man dann mehr produzieren will, aber nicht produktiver wird, dann werden die meisten Menschen ausgequetscht wie sonst was. Ansonsten kriegt man die Produktion nicht hoch. Und das führt leider dazu, dass wir noch sehr weit von besseren Verhältnissen entfernt sind. Wir müssen uns deshalb wirklich bewusst machen, dass es in unserer Gesellschaft einen ganz erheblichen Teil gibt, der gerade mal so über die Runden kommt und nicht weiß, wie man die Altersabsicherung vernünftig gestalten kann. Diese Menschen haben vielleicht zwei oder drei Jobs und kommen gerade mal so durch. Es sind unglaublich schwere materielle Probleme, die wir immer noch haben. Und mit der Politik, die wir in den letzten 20 Jahren gemacht haben, kommen wir nicht weiter. Im Gegenteil, wir fahren im Selbstzerstörungsmodus. 

Vielleicht können wir auf ein konkretes Fallbeispiel zu sprechen kommen. Während der Pandemie wurden einige Pharmaunternehmen sehr innovativ, als sie den Impfstoff gegen das Coronavirus entwickelt haben. Dafür wurden sie auch staatlich gefördert. Leider haben die Unternehmen ihre Patentrechte aber dann für sich behalten, anstatt sie mit anderen zu teilen. Wie wäre hier der schumpetersche Ansatz gewesen? 

Ich würde auch betonen, dass wir die Impfstoffe nur deshalb bekommen haben, weil der Staat jahrelang in Grundlagenforschung investiert hat. Vorher wussten wir natürlich nicht, dass eine Pandemie kommen wird. Im Nachhinein war es aber umso wichtiger, dass jahrelang investiert wurde. Wenn man das nach einer reinen Kosten-Nutzen-Rechnung entschieden hätte, dann wäre es wohl schwierig geworden mit der Impfstoffentwicklung. Auch bei einem schumpeterschen Ansatz hätte man gesagt, dass sich Grundlagenforschung vorher nicht rentieren muss. Eine Innovation kann auch später Anwendung finden oder ergibt sich aus unvorhergesehenen Ereignissen. Und was Patentrechte angeht, halte ich es für Unfug zu sagen, dass man unbedingt Patente braucht, um innovativ zu sein. Bei Schumpeter ist es ja gerade die Imitation des Pioniers, die dafür sorgt, dass sich die Wirtschaft vernünftig entwickelt. Wir sehen das natürlich auch weltweit. Die Industrialisierung aus Großbritannien wurde auch weltweit kopiert. Man sieht aber auch was für ein innovatives Potential hinter gewissen Gütern steckt, die ohne Patente entwickelt wurden. Das Internet ist das allerbeste Beispiel dafür. Oder wenn wir in den Bereich der Software gucken und fragen was das beste Programm für Statistiken ist, dann ist es die Programmiersprache R. Gerade weil sie Open Source ist. Und da sieht man mal, dass Patente kein Anreiz für große Innovationen sein müssen. Was die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt und auch die Marktkonzentration angeht, kann man von Schumpeter aber auch lernen, dass Monopole die Ressourcen haben, um in Projekte zu investieren von welchen sie vorher nicht wissen, ob sie erfolgreich sind. Das fördert natürlich auch die Innovation. Man muss aber eine gewisse Größe haben, um sich das als Unternehmen leisten zu können. Auch in Deutschland ist das heute so. Wir reden gerne über den Mittelstand, aber die 0,5 Prozent an Unternehmen, die nicht dazu zählen, kommen für 80 bis 90 Prozent der gesamten Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf. Insofern können sich nur die allerwenigsten Unternehmen leisten innovativ zu werden. In seinem Buch „Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie“ sieht Schumpeter in den Monopolen aber auch den Ursprung dafür, dass der Kapitalismus zu Ende geht. Das ist seine These, weil die Großkonzerne sich immer mehr auf Verwaltung und Optimierung beschränken und immer weniger innovativ werden. Entwicklung im schumpeterschen Sinne bedeutet aber immer eine Erneuerung der Produktionsbasis. Und das ist nur in einem unvollkommenen Wettbewerb möglich.

Hat Schumpeter sich eigentlich auch zum modernen Geld- und Finanzwesen geäußert?

Für Schumpeter ist die Fiat-Geldschöpfung aus dem Nichts ein zentrales Element. Ein Lieblingszitat von Schumpeter, das ich auch in meinem Buch benutze, lautet, dass tolle Ideen für den Fortlauf der Wirtschaft so bedeutungslos wie „Kanäle auf dem Mars“ sind, wenn sie nicht umgesetzt werden. Die Umsetzung geht aber eben nur, wenn der Pionier mit Kapital versorgt wird, das nicht irgendwo anders in der Produktion liegt. Der Bankier wird bei Schumpeter deshalb auch als Ephor des Marktes bezeichnet. Er ist also eine Art Dienstleister, der den Markt praktisch ermöglicht. Zugleich zerlegt Schumpeter das Geldverständnis der Neoklassik. Zum Beispiel schreibt er, dass wer sich nur flüchtig mit den Dingen befasst hat eigentlich wissen müsste, dass Ersparnisse eben keine Voraussetzung für Investitionen sind, sondern vielmehr das Ergebnis vorheriger Investitionen. Auch diese ganzen Business Angels und Venture Capitalists sind nur eine Funktion der Investitionen aus der Vergangenheit. Das ist auch eine recht drastische Aussage an Leute, die hartnäckig behaupten, dass Banken irgendwelche Ersparnisse weitergeben würden und dass sich der Zins auf dem Kapitalmarkt bilden würde. Das ist völliger Unfug. Das sagt Schumpeter auch recht deutlich. Auch dieses ganze spekulative Geschäft auf den Finanzmärkten kommt bei Schumpeter nicht gut weg. Wenn es also auf den Finanzmärkten darum geht, dass sich ein paar Leute immer mehr bereichern, indem sie sich Papiere hin und herschieben, dann ist das nicht sehr sinnvoll. Einfach weil es nicht der Realwirtschaft dient. Wenn wir dann noch in Richtung Keynes gehen, dann wissen wir auch was Spekulation alles anrichten kann. Wir sehen auch jetzt gerade wie die Ölpreise durch Spekulation verzerrt werden. Der Finanzsektor hat überhaupt nichts mit Marktwirtschaft zu tun. Absolut gar nichts. Das ist mittlerweile ein Kasino, das zu enormen Preisverzerrungen bei Rohstoffen und Preisen für Währungen, also Wechselkursen, führt. In den Grundfesten ist das Geldsystem aber absolut entscheidend dafür, dass es Innovation überhaupt geben kann.

Vielen Dank für das Gespräch!